Читать книгу Ja. Aber... - Annebärbel Dr. Jungbluth - Страница 6
Ab jetzt entscheide ich
ОглавлениеKleine weiße Wolken, wieder und wieder verpufft aus der schnaufenden Lok, kringeln sich empor zu ihren großen Schwestern. Das rhythmische Rackatack der Räder entfernt mich immer mehr von meinem Gestern. Die Bahn schiebt sich von einem B zum nächsten: Berlin, Borkheide, Beelitz, Brück, Belzig…
Ruhig gleiten vor den Fenstern wellige Wiesen und Brandenburger Streichholzwälder vorbei. Wie in einem Film nehme ich die Landschaft wahr, meine Gedanken eilen dem Zug voraus.
Was wird mich erwarten? Wie werde ich zurechtkommen? Wie werden mich die anderen aufnehmen, so mitten im Schuljahr?
In jedem Fall wird es besser werden als bisher, davon bin ich überzeugt.
Sind die B`s endlich aufgebraucht, winkt mir von Ferne der Wiesenburger Schlossturm entgegen. Hier bin ich angekommen.
Viel Grün trennt mich noch vom Schloss, meinem eigentlichen Ziel. Der Weg scheint endlos, der Koffer viel zu schwer. Schließlich umfangen mich die Schlossmauern, über Jahrhunderte bewährte Schutz- und Trutzmauern. Sie sollen jetzt auch die Schüler schützen und fernhalten von den Nachkriegswirren „da draußen“. Die Schülerwache am Tor wird sehr ernst genommen.
Nachdem ich den dunklen Torweg passiert habe, finde ich mich in einem hellen, freundlichen Innenhof. Gefangen wird mein Blick von einem Brunnen, einstmals aus Italien importiert. Majestätisch residiert er in der Mitte des Hofes, scheint alle Gäste zu begrüßen.
Die Räume der Mädchen befinden sich in der ersten Etage über den Klassenräumen und der Aula. Die großen Fenster öffnen weite Blickdiagonalen zu uralten Bäumen und weiträumigen Wiesen. Umrandet von unterschiedlichsten Grüntönen, dem satten Grün der Rhododendren, den frischen Trieben der Wiesen und den zarten Knospen der Weiden, ruht ein friedlicher Teich, nur belebt durch Enten und Schwäne. Später wird als Glanzstück eine Fontäne installiert. Es fehlte nur sanfte Musik und der Mond würde im abendlichen Schleier die Schwanenkönigin und ihre Gefährtinnen heraufbeschwören.
In diesem Lernschloss wollte ich im Frühjahr `55 bleiben und im nächsten Jahr das Abitur ablegen.
Wenn nur nicht das Fach Russisch gewesen wäre, dessentwegen ich hierher geschickt worden war. In kam in eine Klasse, in der in einigen Fächern nur Russisch gesprochen wurde, z.B. in Wirtschaftgeographie der Sowjetunion. Tschechow, Lermontow wurden im Original gelesen. Für Sprachen habe ich kein Talent. Lehrer und Mitschüler waren sehr entgegenkommend und halfen mir. Bis zum Sommer kam ich über eine Vier im schriftlichen Russisch jedoch nicht hinaus. Zum Abi war eine bessere Zensur nicht zu erwarten. Mit solchem Zeugnis würde ich keinen Studienplatz erhalten.
Ich sprach mit Herrn Diecke, dem Direktor, und bat um ein Jahr Rückstellung. Meine Argumente schienen ihm plausibel, zumal ich das Abi nicht mit 16 Jahren ablegen musste
Meine Eltern informierte ich schriftlich.
Trotzdem quälte ich mich durch den Russischunterricht. Eine ordentliche Zensur würde ich nie erreichen. So schloss ich mit Edgar, der in der Sowjetunion aufgewachsen war, einen Pakt. Wir beschlossen zu schummeln.
Bei den schriftlichen Arbeiten hatten wir einen Text, den Herr Gellrich mündlich vortrug, in eigenen Worten wiederzugeben. Ich konnte zwar inzwischen recht gut verstehen, aber aufschreiben? Es war üblich, erst auf einem Schmierzettel ins Unreine zu entwerfen. Edgar brauchte keine Rohfassung. So konnte er auf seinem Zettel meine Arbeit schreiben. Unauffällig auffällig legte er ihn in die Mitte der Bank. Niemand kam auf die Idee, dass es nicht mein Zettel war. Außerdem saßen wir bewusst in der Mitte der ersten Reihe, über die ein Lehrer stets hinwegschaut. Die erste Reihe hat außerdem den Vorteil, bei mündlichen Leistungstests vorsagen zu können. So erreichte ich eine annehmbare Zensur. Auf die mündliche Abi-Prüfung, die eigentliche Pflicht war, verzichteten die Lehrer. Gewiss wollten sie weder sich noch mich vor dem Prüfungsausschuss blamieren.
Ich wollte keine Dolmetscherin werden.
Unser Pakt war nicht einseitig. Auf die gleiche Art schrieb ich Edgars Mathearbeiten. Um nicht abschreiben zu können, hatten die Banknachbarn unterschiedliche Aufgaben zu lösen. Mein Schmierzettel mit dem Lösungsansatz für Edgars Arbeit fiel nicht auf. Meine Arbeit schrieb ich ohne Schmierzettel. Herr Schell, eigentlich für seine scharfen Kontrollen bekannt, erfuhr von unserem Trick erst durch die Abizeitung. Er saß mir in diesem Moment direkt gegenüber und fragte erschrocken:
„Sagen Sie bloß, das ist wahr?“
Jetzt konnte ich ihm lächelnd bestätigen: “Ja, so war es.“
Morgens um halb acht begann unser Unterricht. Vorher hatten wir die kurzen Frühnachrichten gehört und gemeinsam gefrühstückt. Mit den letzten Sekunden des Zeittones vor
7 Uhr, der nervend durch die Lautsprecher schallte, rauschte ich in den Speiseraum, vorbei an einem riesigen, goldumrandeten Spiegel, in den ich stets noch einen kurzen Blick riskierte. An einer längeren Tafel, von der man alles überblicken konnte, saßen der Heimdienst und der Direktor. Die anderen saßen an kleineren Tischen.
Geburtstagskinder wünschten sich von hier vorne ihr Lieblingslied und standen für diesen Moment im Mittelpunkt des Saales.
Für jeden Wochentag wurden zwei Heimdienste gewählt, ein weiblicher und ein männlicher. Sie führten die disziplinarische Aufsicht für den jeweiligen Tag. Das war angelehnt an Makarenkos Philosophie. Er hatte in der jungen Sowjetunion Jugendliche in seinem Heim aufgenommen, die in ihrem Leben bisher nur Krieg erlebt hatten. Er schenkte ihnen Vertrauen und übertrug ihnen Verantwortung.
Mein Heimdiensttag war der Sonnabend. An diesem Tag ging es etwas lockerer zu. Vormittags war zwar Unterricht, aber über das Wochenende gab es keine neuen Schularbeiten. Stubendienst war angesagt und ich hatte zusammen mit Horst zu kontrollieren. So durfte ich auch die Räume der Jungen betreten. Besuche des anderen Geschlechtes waren sonst nicht gestattet. Die Räume der Jungen waren kleiner, boten jedoch nicht den schönen Blick in den Park. Sie lagen im ehemaligen Gesindeflügel. In einem anderen Flügel wohnte der Direktor. Eine Heimleiterin gab es natürlich auch. Sie mischte sich kaum in die Belange unseres Heimdienstes. Ich war erstaunt, sogar etwas erschrocken, wie ernst mich die Schüler nahmen, wenn sie mit einem Anliegen zu mir kamen.
Herr Eilert, unser Wirtschaftsleiter, musste recht kreativ sein, um uns, besonders die Jungen, satt zu bekommen. So befand sich regelmäßig auch ein Schwein auf seiner Fütterungsliste. Der Speisesaal war stets geöffnet, Brot und Marmelade in Zehn-Liter-Eimern standen für die ganz Hungrigen immer parat.
„Die Wissenschaft hat festgestellt, dass Marmelade Fett enthält.“ Dieses Lied, wann auch immer es angestimmt wurde, sorgte stets für Heiterkeit.
Nach dem Mittagessen war strikte Ruhe angesagt. Wer nicht schlafen wollte, ging in den Park oder zum Lesen in den Gemeinschaftsraum. Ich gehörte fast immer zur Schlaffraktion.
Ende `56, oder war es Anfang `57, jedenfalls befand ich mich im 12.Schuljahr, erhielten wir eine neue Verkehrsordnung. Die Verkehrspolizei wollte uns in der Mittagspause mit den neuen Regeln vertraut machen. Wozu brauchten wir in unserem Dorf Verkehrsregeln? Es fuhren kaum Autos, kaum Fahrräder, hin und wieder ein Trecker. Wir mussten nur den § 1 kennen. Und den kann man nicht lernen, den muss man verinnerlichen. Ich war nicht die Einzige, die so dachte. Deshalb sollten wir auf unseren Mittagsschlaf verzichten? Nein., das ging gar nicht. Den Spuren des Schornsteinfegers folgend, kletterten wir aufs Dach und versteckten uns dort. Grinsend beobachteten wir aus der Vogelperspektive, wie die anderen brav in die Aula strömten und warteten auf den Moment, da endlich Ruhe einkehrte. Wir kletterten zurück in unser Zimmer und schliefen einen ruhigen, festen Schlaf. Es hatte uns niemand vermisst. Erst nach der Veranstaltung fand uns eine Mitbewohnerin in den Betten, war sichtlich pikiert und beeilte sich, unsere Missetat zu melden.
Was treibt einen Mensch, so zu handeln? War es der Frust, nicht beteiligt gewesen zu sein? Fehlende Anerkennung? So erringt man sie bestimmt nicht.
Selbst der Direktor hat vermutlich über uns geschmunzelt. Er hat uns stets geraten:
„Wenn sie schon Unfug treiben, dann bitte intelligenten.“
Als Strafe mussten wir nachsitzen, die Belehrung nachholen. Ein netter, junger Volkspolizist, kaum älter als wir, sollte uns, ein Grüppchen alberner Teenager, bändigen und belehren. Über einen ovalen Konferenztisch schossen wir uns kichernd Bonbons zu und versuchten mit ihm zu flirten. Er war gewiss froh, als er endlich Vollzug melden konnte.
Der Park hatte zu allen Jahreszeiten seinen besonderen Reiz, nicht nur für Liebespaare. Auf einer Bank, umgeben von Entenschnattern und Vogelzwitschern, litt ich gemeinsam mit Fontanes Effi Briest, schrieb meine Aufsätze hier und manchmal ein Gedicht. Gelegentlich mischte sich morgens der Duft von Maische in die klare Luft. Wir nahmen es locker, denn dann war Wochenende. Keine 7-Uhr-Signaltöne hallten durch das Schloss, wir konnten uns in den Betten noch einmal ausstrecken.
Eine kleine hölzerne Brücke am Teich musste den 1000-Meter-Lauf der Jungen über sich ergehen lassen. Der Rhythmus der stampfenden Füße dröhnte durch die Luft bis zu uns ins Klassenzimmer. Schmunzelnd hörten wir diesem Getrampel nach. Es verkündete den Frühling. Der Sportunterricht wurde nicht mehr bei Frähsdorf, sondern im Freien durchgeführt. Diese einzige Kneipe des Dorfes fungierte im Winter als Sporthalle. Der große Multifunktionsraum vibrierte, wenn sich Tanzpaare zu flotten Rhythmen drehten, wurde herausgeputzt für Schulfeiern und war auch unser Kino. Sein Besuch war stets ein besonderes Erlebnis.
Unsere musische Erziehung lag in den Händen von Herrn Gast, einem erfahrenen Pädagogen. Wer irgendwie den Mund öffnen konnte, wurde im Schulchor aufgenommen.
Später bat er mich, meinen kleinen Bruder für den Chor zu überreden und zwar als Sopran, da er noch keinen Stimmbruch hatte. Wolf war inzwischen auch in Wiesenburg gelandet, zum Glück in einer naturwissenschaftlich orientierten Klasse. Nur halbherzig und mit dem entsprechenden Erfolg sprach ich mit ihm. Er hatte sich dem Schach verschrieben.
Herr Gast formte den Chor zu einem ordentlichen Klangkörper, ich ging gerne abends zur Probe. Noch heute höre ich unser „Joho trallala...“ vom Jägerchor oder Eckharts Solo von „ Old Black Joe“
Aber wehe dem, der versuchte, sich zu verweigern: Fritz!
Fritz meinte, absolut nicht singen zu können. Er wollte sich vor der Klasse nicht blamieren. Er ließ sich auch nicht zum Sprechgesang überreden, als ihm eine Fünf angedroht wurde. Eine Sechs kannten wir noch nicht. Es entspann sich ein interessanter Machtkampf. Wer hält länger durch, wer hat den größeren Dickschädel? In allen folgenden Musikstunden das gleiche Ritual: nach der Begrüßung Aufforderung an Fritz:
„Singen Sie ein Lied Ihrer Wahl!“
Fritz bleibt stumm und grinst über beide Ohren.
„Setzen, Fünf.“
Danach begann der reguläre Unterricht. Mit der Zeit wurde das Ritual verkürzt, gehörte fast zur Begrüßung: „Fritz, singen; setzen, Fünf.“
Inzwischen konnte Fritz nicht mehr richtig grinsen, auch wir sorgten uns. Das Abi rückte näher und Fritz stand in Musik glatt Fünf. Mit einer Fünf, in welchem Fach auch immer, bestand man das Abi nicht. Abwahlmöglichkeiten gab es nicht. Es gab nur einen Ausweg: mündliche Prüfung. Die Lehrer ordneten sie ihrem Stellenwert entsprechend als Epilog ein. Wir hatten alle unsere Prüfungen hinter uns, als Fritz in die Aula gerufen wurde und die Prüfung auch bestand.
Streng und zackig ging es bei Herrn Diecke im Geschichtsunterricht zu. Er war mit vielen Narben aus dem Krieg zurückgekehrt, auch im Gesicht. Er hatte sich aus einem brennenden Panzer retten können. Wenn wir zur Begrüßung aufgestanden waren, durfte sich nur setzen, wer die richtige Geschichtszahl wusste. Mit einem langen Zeigestock bewaffnet spießte er seinen Kandidaten förmlich auf. Aus heutiger Sicht scheint das autoritär, fast militärisch. Doch Geschichtszahlen kann man nur pauken. Sie geben uns ein Gerüst, den Lauf der Welt besser zu verstehen. Wie sollte ich Persönlichkeiten oder Ereignisse richtig einordnen, wenn ich ihre Zeit nicht kenne? Es ist wohl ein Unterschied, ob wir 1077, 1517, 1917 oder 2017 schreiben.
Gegenwartskunde hatten wir ebenfalls bei Herrn Diecke. Hier lernten wir den Marxismus-Leninismus kennen, hörten von den Widersprüchen der Welt, die zur Lösung drängen.
Die „Bibel“ für dieses Fach war Stalin: „Fragen des Leninismus“. Zu allen Bereichen des Lebens hatte Lenin seine Visionen entwickelt, sein Exil hatte er gut genutzt. Es geisterte ein Ausspruch durch diese Zeit:
„Und schon Lenin sagte...“, damals natürlich auf Russisch.: „I usche Lenin skasal…“
In unzähligen Reden und Schriften hatte Stalin Lenins Gedanken erläutert und weiter entwickelt. Noch heute sind mir einige Schlagworte präsent:
„Lernen, lernen und nochmals lernen“, hatte er uns auf den Weg gegeben, denn „Wissen ist Macht und Können ist Großmacht.“
„Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“, auch diese Worte schrieb man Stalin zu. Ich ahnte damals noch nicht, welche Bedeutung sie besitzen sollten.
1956, als Stalins Verbrechen publik wurden, schredderte man alle seine Bücher von einem Tag auf den anderen, erklärte seinen Namen zum Unwort.
War denn alles falsch, was in diesem Buch stand, alles falsch, was wir bisher gelernt hatten?
Dieser plötzliche Umschwung machte mich nachdenklich. Eine wirkliche Diskussion fand nicht statt. Ich erinnerte mich der Tränen, die viele Menschen bei seinem Tod vergossen hatten. Mit Stalin auf den Lippen gingen die Soldaten todesmutig in ihren Großen Vaterländischen Krieg und schlugen unseren „Gitler kaputt“. Als ich später Georgien besuchte, staunte ich, wie in seiner Heimat sein Mythos weiter lebt.
Es war alles nur beschriebenes Papier, wir hatten uns der Realität zu stellen. Die sah 10 Jahre nach dem Krieg nicht rosig aus. Schlimme Erinnerungen steckten tief in uns allen, so tief, dass niemand darüber reden mochte. Nur die Zukunft war uns wichtig. Noch heute höre ich, wie die Menschen sich damals schworen:
„Nie wieder, nie wieder Krieg, lieber ein Leben lang trocken Brot essen.“
Das vergisst man nicht.
In meiner klein gewordenen Heimat sah es trostlos aus. Nicht nur abgebrannt, auch ohne Kohle, Erz und nennenswerte Industrie. Die Heimat unserer Besatzer war ebenso abgebrannt, abgebrannt von unseren Vätern. Auf einen Marshallplan konnten wir nicht hoffen. Unser Wirtschaftswunder musste anders aussehen als in Westdeutschland. Aus eigener Kraft räumten wir die Trümmer weg und setzten neue Fundamente.
„Wie wir heute arbeiten, werden wir morgen leben.“
Also klotzen wir ran.
Wissenschaftler entwickelten neue Technologien, um die Braunkohle besser zu nutzen, in Rostock entstand ein Überseehafen, in Schönefeld der Hauptstadtflughafen. Eisenhüttenstadt wuchs nicht nur als neue Stadt empor, gemeinsam mit den polnischen Nachbarn wurde Schwerindustrie geschaffen. Der Kunststoff-Trabant aus Zwickau war auch eine bemerkenswerte Innovation.
Aber wir mussten erst einmal lernen und nochmals lernen.
Im Grundgesetz des Sozialismus ist das Leistungsprinzip verankert. Das war nach meinem Geschmack. Mit der Jugend eigenem Elan wollte ich diese Aufbruchphase mitgestalten, Verantwortung übernehmen. So war es nur folgerichtig, dass ich einwilligte, als mein Sportlehrer mir antrug, Kandidat der SED zu werden.