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1. Anna vom Dorfe

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Bumsvallera, die Welt ist wunderschön!

Anna klammerte sich an den Beinen ihres Großvaters fest. Im Gleichschritt marschierten beide humpelnd über die dörfliche Hauptstraße: Klick - klack machten die eisenbeschlagenen Schuhe ihres Großvaters auf dem Kopfsteinpflaster, klung-klong machten die Krücken, während Anna zwischen den Krücken Schritt zu halten versuchte. Aus vollem Halse schmetterten beide: „Bumsvallera, die Welt ist wunderschön, und wär' die Welt nicht wunderschön, so könnt man nicht spazierengehn!“ Und so ging es weiter, bis sie bei Ehreckes

Gasthof angelangt waren. Heute war wirklich ein schöner Tag, und Anna bekam Malzbier.

* * * *

Die Leute auf der Dorfstraße und an den Fenstern drehten die Köpfe: Da geht der alte Jordan wieder mit seiner Enkeltochter. Wie er sich mit der hat?! Seit die Enkelin bei ihrem Großvater wohnte, verbrachte er ganze Tage mit ihr. Zu seinen eigenen Kindern war er ja verdammt hart gewesen. Dann der schwere Arbeitsunfall. Sieben Meter fiel er vom Baugerüst in die Tiefe. Von den Ärzten wurde er mit Mühe wieder zusammengeflickt, aber seitdem hatte er große Schmerzen. Und er konnte nur noch an Krücken gehen.

* * * *

Selma hatte den Abendbrottisch gedeckt. Im Schlafzimmer hingen Schlackwurst, Mettwurst, Schwartenwurst und Schinken von den eigenen Schweinen, da hatte sie sich bedient. Außerdem gab es Käse und Griebenschmalz und saure Gurken. Von allem war reichlich da, und man wünschte sich: „Mohltied!“ Anna rutschte auf den Knien ihres Großvaters nach vorn und spornte ihn an: „Vadder, lang to, Selma langt ook to!“ Und mit ihren kurzen Armen suchte sie, Wurst und Schinken zu umfassen und vor den gierigen Händen der jungen Onkel und Tanten zu schützen. Hermine, Selma, Richard, Fritz, die noch zu Hause wohnten, beschwerten sich zum Schein sehr jammervoll bei ihrem Vater, der aber bedankte sich bei seiner Enkelin für ihre Fürsorge und wies seine Kinder barsch zurecht: Wenn ich Anni nicht hätte, würde ich bei euch doch glatt verhungern. Annas Augen glänzten, und sie kuschelte sich wieder auf dem Schoß ihres Großvaters zurecht.

* * * *

Annas Großvater lag mit seinem besten Anzug im Bett. Das hatte er sonst nie getan. Auch Anna durfte ihr schönstes Kleid anziehen. Sie sollte aber nicht mit ihm reden, denn Großvater schlafe und dürfe nicht gestört werden. Viele Nachbarn und Verwandte traten stumm in die Schlafkammer und gingen nach kurzer Zeit wieder. Es war anders als sonst, und allmählich wurde Anna bänglich zumute. Warum schlief ihr Großvater denn bloß so lange? Warum waren die Leute so feierlich? Sollte sie ihm nicht doch einmal die Nase zuhalten oder ihn kitzeln, wie sie es häufig tat, wenn er am Morgen noch schlief? Da holte Hermine sie raus und steckte sie in ihr eigenes Bett. Schlafen sollte sie, während in der Wohnküche schon mal dieser und jener Besucher einen Schnaps erhielt. Das leise Murmeln der Stimmen war angenehm und beruhigend

* * * *

Es war Sommer und sehr heiß. Anna besuchte ihren Opa. Es gelang ihr immer noch, ihn zu beschwören und für sich zurückzuholen. Aber heute wollte sie ihm noch näher sein. Und so legte sie sich vorsichtig zwischen die Blumen. Es war nicht einfach, sie heile zu lassen. Anna schloss die Augen und hatte dabei eine bestimmte Absicht.

Über den Friedhof schwankten Lichter, und Stimmen riefen verhalten. Richard war zuerst am Grabe, und da lag Anna, schlafend auf den schon welken Blumen. Er nahm sie vorsichtig auf den Arm und trug sie, immer noch schlafend, nach Hause, während er mit seinen Geschwistern beriet. Anna wollte nun einmal da schlafen, wo auch der Großvater schlief. Wie sollten sie ihr verständlich machen, dass das auf Dauer und auch vorübergehend keine Lösung war? Sie würden sie noch mehr im Auge behalten müssen.

* * * *

„Was weinst du denn?“

„Es ist so kalt und so nass. Und so dunkel.“

„Aber hier ist es doch schön warm.“

„Aber er ist doch so allein“, klagte Anna und ihre Stimme kippelte.

„Und da bist du traurig?“

„Ja. Bestimmt friert er“, schluchzte sie.

„Kind, er merkt ganz sicher, dass wir an ihn denken, und das wird ihn wärmen. Er will nicht, dass du traurig bist. Er schläft ganz tief, da spürt er die Kälte und Nässe nicht. Tief in der Erde ist es außerdem warm.“

* * * *

Anna erwachte. Es war dunkel draußen. Regnete es noch? Anna machte die Augen wieder zu und beschloss, sie ganz lange nicht zu öffnen. Das war ihre Art, den Großvater zurückzuholen. Sie sah, wie sie die Dorfstraße entlang wanderten. Mit ihren kurzen Beinen versuchte sie Schritt zu halten, indem sie sich an seinen Krücken festhielt. Genau wie ihr Großvater zog sie im selben Moment das rechte Bein nach. Humpeln war schön! Anna fand, dass sie es schon sehr gut konnte. Seine eisenbeschlagenen Absätze klickten im gleichbleibenden Rhythmus aufs Pflaster, und im selben Rhythmus schlurften ihre Holzschuhe, die sie nicht hochheben konnte, wollte sie sie nicht verlieren. Dann kam der Moment, wo er sie fragen würde: Welches Lied wollen wir denn singen, meine Kleine? Dabei wusste er doch genau, welches Lied sie immer sangen, weil sie es beide am schönsten fanden. Vorsichtig erhob sie ihr Stimmchen, und endlich fiel ihr Opa ein.

„Bumsvallera............“

Leise öffnete sich die Tür. „Modder, he woar allwedder dor!“ Ihre Tante Hermine zeigte sich erfreut. „Siehst du, meine Kleine. Er schläft nur, und wenn du ganz fest an ihn denkst, ist er plötzlich wieder da. Aber jetzt musst du aufstehen. In der Küche ist es schön warm und gemütlich.“

* * * *

Anna schloss die Augen wieder, doch jetzt zog Tante Hermine die Bettdecke zurück und hob sie hoch. Anna blinzelte und ließ sich tragen. Wenn Tante Hermine Zeit hatte, trug sie sie geduldig durch die Wohnung. Anna machte die Augen zu und ließ sich tragen, ließ sich forttragen im Rhythmus ihrer sanften Schritte, und manchmal sang die Tante dazu. Anna wollte, dass sie nie mehr aufhörte. Aber jetzt musste Tante Hermine zur Arbeit, aufs Feld, Rüben verziehen. Sie würde den ganzen Tag nicht wiederkommen. Anna dachte an den Abend, wenn sie von der Arbeit kommen und das Essen aus der Grude, der Warmhaltemulde im Herd, holen würde.

Und etwas später würde auch Onkel Richard kommen. Auch Tante Hermines Mann hieß Richard, genau wie ihr eigener Vater. Ihr Onkel Richard brachte bestimmt etwas für sie mit. Das tat er häufig. Heute war es wieder so weit, das spürte Anni ganz deutlich. Er arbeitete in Magdeburg auf dem Bau, genau wie ihr Vater, und war nicht heute Zahltag? Alle aus ihrer Familie arbeiteten auf dem Bau, waren Zimmerleute, Maurer, Poliere. Aber jetzt würde Tante Hermine sie bei der Nachbarin abgeben. Die hatte sieben Kinder, da war es nie langweilig. In der Vorfreude hob sich Annas Stimmung, hastig glitt sie von ihrem Kinderstuhl und ließ sich, weil’s schneller ging, von ihrer Tante ankleiden.

Heiße Pellkartoffeln wurden bei der Nachbarin auf den Tisch geschüttet, und alle standen drum herum, pellten sich die Kartoffeln, die älteren Geschwister auch für die Kleinsten, und jedes Kind durfte mit den Kartoffelbissen über die Salzheringe streifen, damit die Kartoffeln Geschmack bekamen. Zum Schluss schnitt die Nachbarin die Heringe in Stücke und teilte sie auf. So bekam jedes Kind zwei, drei Happen. Das alles wusste Anna im voraus, denn heute war Freitag. Das hatte ihre Tante gestern angekündigt.

* * * *

Die fremde Frau nahm sie an die Hand. Morgen würden Hermine und Selma vorbeikommen, das hatten sie versprochen! Anna drehte sich um und winkte, aber die fremde Frau ging schnell, Anna stolperte rückwärts und hing schleifend am Arm der „Mutter“, so sollte sie diese Frau nennen, die sie hastig wieder hochzog. Ihren Vater kannte sie schon, denn das war einer von den Richards, der heute Abend von der Arbeit in ihre neue Wohnung kommen würde. Anna liefen die Tränen herunter, während die Mutter fester griff, bis es schmerzte. Wann wurde es Abend?

* * * *

Tante Hermine

„Modder, ick koom“, rief Anni die Treppe hoch. Ihre Tante Hermine kam dann, um sie die Treppe hinaufzutragen. Anni hätte das schon alleine gekonnt, aber sie liebte es, von ihrer Tante auf den Arm genommen zu werden. Tante Hermine war die wahre Mutter für sie. Auch Tante Wally und Tante Selma spielten Ersatzmütter, gemeinsam mit Hermine hatten sie Anni während der ersten drei Lebensjahre, die sie bei ihrem Großvater verbrachte, versorgt. Der Großvater und seine noch im gleichen Haus lebenden erwachsenen Kinder bildeten für Anni die Familie. Die Großmutter war schon tot. Auch als Hermine geheiratet hatte, blieb sie für Anni die Mutter. Zu Lucie, Hermines Tochter, also zu ihrer Kusine, entwickelte Anni ein schwesterliches Verhältnis. Lucie starb als Jugendliche – waren es Masern oder Diphtherie oder Scharlach? Auch Masern konnten damals - und heute! - eine tödliche Krankheit sein. Diphtherie vermochte halbe Kindergenerationen auszulöschen, ebenso wie Scharlach. Auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin gibt es ein sehr schön gestaltetes Grabmal aus der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. Die Eltern beklagen das ungeheure Leid, dass sie getroffen hat. Innerhalb kürzester Zeit sind ihnen ihre fünf Kinder an Scharlach weggestorben.

Tante Hermine beschützte Anni während ihrer gesamten Kindheit und Jugend, am meisten gegen die eigene Mutter Pauline Jordan, genannt Paula. „Mein großer Gott und Vater, sie haben doch bloß diese eine Deern!“, regte sich Tante Hermine oft über Bruder und Schwägerin auf. Es machte sie wütend, dass die Eltern ihre einzige Tochter schon als Kind zur Kartoffelernte aufs Feld schickten. Die Arbeit war schwer und schmutzig und wurde niedrig entlohnt, häufig nur in Form von Naturalien. Den Eltern war ein zusätzlicher Sack Kartoffeln wichtiger als eine Tochter, die unbeschwert spielte. Für die Schule arbeiten war für ein Mädchen nicht so wichtig. Denn sie heiratet ja später doch. Einen ordentlichen „Pott vull Freten koken“ können, das war die Formel für eine ausreichende Qualifikation für Mädchen, jedenfalls in ihrem Elternhaus. Aber Hermine konnte nicht mehr tun, als dem Bruder und der Schwägerin ins Gewissen zu reden. „Nu hebbt ji nur de eene Dochter, un ji lot her so hart placken.“ Noch nicht einmal das Fahrradfahren durfte Anna erlernen, jedenfalls nicht auf dem Fahrrad der Mutter. Lieber ließ sie es ungenutzt im Schuppen stehen. Später wurde es verkauft. Anna kam erst wieder in die Nähe eines Damenfahrrads, als sie mir im Alter von zwölf Jahren eins schenkte. Da war sie selbst 48 Jahre alt und traute sich nicht mehr aufs Rad.

Annas Vater war immerhin aktiver Sozialdemokrat. Als er glücklicherweise heil aus dem ersten Weltkrieg wiedergekommen war, sogar Mitglied im Soldatenrat und im Elternrat in Olvenstedt. Da musste er schon einmal etwas von der Forderung nach Gleichberechtigung der Frauen gehört haben. Ohnehin hätte es der elterlichen Pflicht entsprochen, der Tochter solche Lebenschancen zu eröffnen, die sie nicht zur lebenslangen untergeordneten Plackerei verurteilten. Die materielle Lage der Eltern hätte auf alle Fälle eine Ausbildung für die Tochter erlaubt; sie gehörten damals in ihrem Milieu nicht zu den Ärmsten. Mein Großvater, ein gelernter Maurer, hatte es zum Polier gebracht, nach der Revolution zum Gemeindediener in gesicherter Position und war schließlich Polizeihauptmeister geworden. Sie konnten sich als Selbstversorger billig und gut ernähren, so dass für die Ernährung nicht sehr viel ergänzend gekauft werden musste.

Anna und ihre Tiere

Peterle

Endlich hatte Annis Vater ein Einsehen! Eines Abends brachte er einen dicken, bunt getigerten Kater mit. Er sah ein wenig zerzaust aus, war jedoch gut im Futter und wurde schnell zutraulich. Vorsichtig um sich blickend probierte er ein paarmal von der dargebotenen Milch in der Schale und zog sich dann unter das Küchensofa zurück. Anni wusste sich zu helfen. Vorsichtig schob sie sich, auf dem Bauch liegend, unters Sofa. Um den Kater zu beruhigen, redete sie leise auf ihn ein. Schließlich ließ er sich vorsichtig berühren, ohne wegzulaufen. Sie streichelte über seinen dicken Katerkopf und murmelte dazu beschwörend. Dann zog sie sich zurück und sprach leise und beruhigend weiter. Über Nacht durfte Peterle in der Küche bleiben. Für das Katzenklo hatte der Vater sich schon etwas überlegt, feinen weißen Sand und eine Kiste hatte er mitgebracht. Als die Eltern schlafen gegangen waren, stand Anni noch einmal auf und öffnete die Tür zur Küche. Vielleicht traute der Kater sich und besuchte sie in ihrer Kammer während der Nacht? Tatsächlich lag er am nächsten Morgen an ihrem Fußende und gähnte und reckte sich ganz ohne Scheu.

Der Kater musste es in seinem bisherigen Leben einigermaßen gut gehabt haben, sonst wäre er nicht so schnell zutraulich geworden. Dabei war er heute gerade noch davongekommen. Annis Vater traf auf seinem Streifengang einen Mann, der irgendetwas im Sack an den Ziegeleiteich trug. Nach seinen Absichten befragt, gab der Mann zu, ein Tier, und zwar einen Kater, ertränken zu wollen. Die böse Absicht war in diesem Fall noch verwerflicher als ohnehin, da der Mann sehr wohl wusste, dass der Teich auch als Badesee für die Kinder diente. Kurz entschlossen ließ der Vater sich den Sack übergeben. Anni würde sich freuen, ein tierischer Kamerad wäre jetzt das Richtige für sie.

Peterle war nun schon vier Wochen im Haus, da machte Anni eines Tages, als sie aus der Schule kam, eine freudige Entdeckung. Auf der Suche nach dem Kater fand sie ihn auf dem Dachboden, auf einem alten zusammengerollten Teppich liegend. Vor seinem Bauch wuselten unsicher und plumpsend vier kleine Katzen in den unterschiedlichsten Farbkombinationen. Vorsichtig trat Anni näher und sah, wie sie gesäugt wurden. Sie konnte sich nicht satt sehen. Dann wurde sie praktisch, schleppte Milchnapf und Fressnapf und das Katzenklo nach oben. Selig zeigte sie ihren Eltern die Überraschung, als diese von der Arbeit nach Hause kamen. Ihr Vater freute sich über Annis Begeisterung, aber ihre Mutter blickte säuerlich drein. Offensichtlich hatte es Peterle mit seinem Katertum nicht so genau genommen. Anni war es recht.

Auf dem Dachboden war es dämmrig und kühl. Anna unterdrückte ein Niesen. „Anni, Anni, Essen, kommst du jetzt endlich, verdammte Göre, wenn ich dich erwische, verflixtes Balg.“ Anna war geübt im Weghören. Die Stimme gab endlich auf. Aus dem Puppenwagen maunzte es. Anna schob das Gefährt hin und her, hin und her, und summte dazu. Die Katzenmutter folgte den Bewegungen aufmerksam. Dann sprang sie zu ihren Jungen. Sie leckte die Kleinen ab und suchte eine bequeme Position. Anni beobachtete die Jungen, die mit ihren winzigen Pfötchen kräftig den Bauch der Mutter walkten. Ob sie es wagen konnte, eines der Jungen mit ins Bett zu nehmen, heute Abend?

Anna schob mit ihrem Puppenwagen ruckelnd über das Kopfsteinpflaster. Hoffentlich wachten die Kleinen nicht auf. Sie würden Kletterversuche machen, flink waren sie ja schon, und dabei wieder aufs Pflaster plumpsen, verwirrt gucken und ängstlich maunzen. Die Leute würden wieder im Vorübergehen lachen oder auch stehenbleiben und die ungewöhnlichen Puppenkinder bewundern. Da stand auch schon der junge Heinz Heiland vor ihr, der mit ihrem Vater befreundet war: "Tach, Anni, fährst du deine Kinder spazieren? Was hast du denn heute im Wagen? Hunde, Katzen, Ferkel oder Salzheringe?" Dabei lachte er dröhnend, denn Heinz Heiland war ein Spaßvogel. Das mit den Salzheringen fand Anni aber unpassend, und es machte sie misstrauisch. Auf alle Fälle schob sie die Decke höher, so dass Heinz Heiland nichts sehen konnte, schaute ernst drein und schob weiter.

Sie bog in den Hof von Tante Hermine ein und hörte sie schon lachen. Sie saß mit der Nachbarin auf der Bank, und auch Tante Wally konnte sie von hinten erkennen. Auf dem Gartentisch standen die Kaffeekanne und sogar Kuchen, mitten in der Woche! Da war etwas los, da ließ man es sich gut gehen! Annis Schritte wurden schneller, der Kinderwagen blieb stehen, wo er war, und sie lief in die ausgebreiteten Arme ihrer Tante Hermine: "Ach, da ist ja meine Kleine!" Anni sprang auf den Schoß von Tante Hermine, und Tante Wally eilte in den Keller, um eine Flasche Malzbier für den neuen Gast zu holen. Der Butterkuchen, der vom Geburtstag der Nachbarin übrig geblieben war, schmeckte unvergleichlich. Hefeteig wie er sein soll, oben drauf Mandelblättchen, mit Zucker verklebt, und alles mit einer Backkruste. Die Katzenkinder wurden ausgiebig bewundert, wenngleich Tante Wally besorgt anmahnte, dass die Jungen nicht so lange von ihrer Mutter getrennt sein sollten. Im Schutze ihrer beiden Tanten schob sie dann den Puppenwagen zurück nach Hause, wo schon zwei Mütter warteten. Eine Katzenmutter und, nun ja, die andere Mutter. Der Puppenwagen durfte nicht mit in die Wohnung. „Vieh muss Vieh bleiben!“ sagte die andere Mutter. Anni dachte sich ihr Teil.

Max, Moritz und Philipp

Endlich kam Annas Vater von der Arbeit heim. Anna wartete schon geraume Zeit am Dorfeingang. Auf dem Gepäckträger war ein Sack befestigt, und der Sack bewegte sich! Annas Herz hüpfte, aber der Vater wollte nichts über den Inhalt verraten. Ein Hund? Noch eine Katze? Gleich würde sie es wissen. Im Hof nahm der Vater den Sack auf die Schulter und trug ihn die steile Küchentreppe hinauf. Anna hörte etwas und es klang weder nach Katzen noch nach Hunden. Oben in der Küche entleerte der Vater den Sack vorsichtig auf den Fußboden, und da blinzelten zwei rosa Ferkel mit blonden Wimpern und hellblauen Augen ins Petroleumlicht. Sie schienen erst geblendet und ließen sich ratlos auf ihren Ferkelschinken nieder. Anna strich ihnen vorsichtig über ihre kleinen Rücken mit dem blonden Flaum. Dann hielt sie die Hände vor ihre rosa-feuchten Schnauzen. Allmählich verloren die beiden ihre Schüchternheit, schnüffelten, liefen hierhin und dorthin und Anni lockte sie zu sich. Man konnte mit ihnen spielen, woran Anna natürlich sowieso nie gezweifelt hätte, und bald tollten sie wie junge Hunde miteinander. Anna wusste die Ferkel zu animieren und zu fördern.

Iiiiih, gellte es in die Küche. Die Mutter war vom Kaffeeklatsch heimgekommen. Und das in meiner Küche! Wer macht mir das sauber? Anklagend zeigte sie auf einen kleinen See. Es half alles nichts. Der Vater trug die beiden in den Stall, wo er schon Stroh aufgeschüttet hatte. Anna beschloss, sich in den Stall zu schleichen, während die Eltern schliefen. Nach all der Aufregung schlief sie aber ein und erst am nächsten Morgen erinnerte sie sich an das, was sie sich für die Nacht vorgenommen hatte. Nach einem schnellen Frühstück eilte sie in den Stall, vergnügte sich mit den beiden, fütterte sie mit Apfelstücken, bis sie ruhiger wurden und ein Schläfchen machten. Max und Moritz sollten sie heißen, hatten sie beschlossen. Auch die Mutter war einverstanden, obwohl sie meinte, dass Schweine keine Namen tragen sollten. Leise holte Anni ihren Puppenwagen aus dem Schuppen und packte Max und Moritz vorsichtig hinein. Die beiden hatten nichts dagegen. Die Leute würden staunen! Behutsam schob sie den Puppenwagen aus dem Hof und auf die Dorfstraße.

Max und Moritz waren schlau, lebhaft und zu allem Spaß und Unsinn aufgelegt, genau wie junge Hunde. Mit ihnen konnte Anna wunderbar spielen. War ihre Mutter nicht da, lockte sie ihre Gefährten die Treppe hoch in die Küche. Was sie mit der Zeit nicht vertuschen konnte, dann nämlich, wenn Max oder Moritz oder Philipp, unterdessen gewachsen, mit ihren kurzen Beinen die Treppe nicht wieder hinunter konnten. An die Schweine hatte man beim Hausbau nicht gedacht! Ausgewachsene Schweine schaffen wohl manches, aber eine so steile Treppe nach unten ging auf keinen Fall, wie Anna jetzt lernen musste: Aufwärts immer, abwärts nimmer! Dann mussten Onkel Fritz und Willi Gerlach dem Vater zu Hilfe kommen, um das Schwein wieder die Treppe hinunterzukomplimentieren und ihm dabei zu assistieren. Die Männer ächzten, stöhnten und fluchten, das Schwein quiekte. Onkel Fritz und Willi Gerlach stemmten sich treppab gegen das schweinerne Gewicht, während oberhalb der Vater die Hinterbeine wie die Griffe einer Schubkarre hielt, nur dass er nicht schob, sondern zog und zerrte. Anna schaute besorgt und beschämt. Jetzt quälten sich die drei Männer, Moritz quälte sich erst recht und war höchst verängstigt. Aber er hatte doch so zustimmend gegrunzt und war ihr so bereitwillig die Treppe hoch gefolgt! Ihm war die Küche nicht fremd, hier kannte er sich aus. Annas warmes Mittagessen, das in der Grude warm gehalten wurde, schmeckte ihm. Aber dann weigerte er sich, ihr die Treppe hinunterzufolgen. Vernünftigerweise, wie sie jetzt wusste. Er hätte sich wohl die Beine gebrochen, die für diesen Zweck so gar nicht gedacht waren und vielleicht das Genick dazu! Der Protest ihrer Mutter gellte in ihre Ohren: „Wenn Vadder sich nu den Hals bricht, dann bist du schuld, du ganz allein.“ Anna duckte sich nicht rechtzeitig, und wieder klatschte es auf ihre Backe.

Eines Tages im Dezember rückten Onkel und Tante Krause an. Das bedeutete etwas Furchtbares, denn die beiden, an sich ganz nett, waren im Dorf für ein fatales Geschäft zuständig. Auf einer Karre schoben sie ihr Gepäck. Das Gepäck bestand aus Utensilien zum Schweineschlachten und zum Wurstmachen. Anna wischte sich eine Fläche in der beschlagenen Fensterscheibe frei. Nein, sie gingen nicht vorbei, sie steuerten auf ihr Haus zu. Ihr Herz schlug schneller, Entsetzen ergriff sie. Blitzschnell überlegte sie ihre geringen Möglichkeiten. Tot umfallen. Ohnmächtig werden. Aufhören zu atmen. Man konnte sich die Pulsadern aufschneiden, davon hatte sie schon mal gehört. Dann war man tot. Die Leute mit einer falschen Nachricht aus dem Haus locken?

Sie fiel nicht tot um. Sie wurde nicht ohnmächtig. Sie legte nicht Hand an sich. Die schlimmen Besucher hatten sich schon im Hause breit gemacht und waren nicht mehr wegzulocken. Anni schaffte es nur eine ganz kurze Zeit, nicht zu atmen. Ihr fiel nichts mehr ein. Sie konnte kein Blut sehen. Sie lief in Panik die Treppe hinunter und entwich aus der Vordertür. Aus Erfahrung wusste sie, dass Onkel und Tante Krause auf dem Hof an ihr Werk gingen. Sollte sie sich von ihren Gefährten verabschieden? Der Weg war bereits verstellt. Sie eilte aus dem Haus, rannte die Dorfstraße hinunter, rempelte ausgerechnet den Pastor an, entschuldigte sich über die Schulter, hastete weiter und schlug den Weg ins Nachbardorf übers Stoppelfeld ein.

Wenn ihr jetzt Panneke entgegenkam, würde sie ihm aber die Meinung sagen, dazu war sie fest entschlossen. Panneke gehörte zu den Außenseitern und Sonderlingen im Dorf. Unheimlich erschien er den Leuten, schief und krumm verwachsen war er, man hielt ihn für verschlagen. Panneke ließ seine zweirädrige Karre von einem Hund ziehen. Der war ganz nett und sah auch nicht verhungert aus. Wahrscheinlich bekam er Hamsterfleisch zu fressen. Panneke zog über die leer geernteten Felder. Damals waren Feldhamster in Deutschland noch sehr verbreitet. Diese Hamster sind viel größer, aber nicht weniger niedlich als die Goldhamster in heutigen Kinderzimmern. Panneke grub die Gänge der Feldhamster auf, um an ihre Vorratslager zu gelangen. In diesen Depots hamsterten die Hamster nach Hamsterart Getreide, das sie auf den Feldern eigenmächtig ernteten. Ob Panneke das Getreide als Hühnerfutter verkaufte oder selber verbrauchte, wusste Anna später in ihren Erzählungen nicht mehr genau. Fing er die Hamster, brachte er sie um, bearbeitete ihre Felle und verkaufte sie. Es gab eine Nachfrage dafür, sie wurden unter anderem zu Mützen und Schals verarbeitet. Das fand Anna gemein. In ihrer jetzigen Stimmung würde Anna jedenfalls keine Angst vor ihm haben. Sie traf ihn nicht an. Panneke war noch einmal davongekommen, die Tierwelt blieb fürs erste ungerächt.

Das erste, was Anna bei der Rückkehr begegnete, war der betörende Duft der Wurstbrühe, der aus dem Waschkessel aufstieg. Die Leute aus der Nachbarschaft standen mit ihren Milchkannen und blechernem Essgeschirr Schlange nach der Brühe, die, so war es Brauch, bei solchen Anlässen bereitwillig ausgeteilt wurde. Gerade kam Anna zurecht, als Tante Krause die ersten fertigen Würstchen bei den Kindern ausrief. Wer will die erste Wurst haben? Ohne nachzudenken riss Anna ihren Arm hoch und schrie laut ICH, wie alle anderen Kinder auch. Doch Anna erhielt sie, und bei dieser ersten Wurst sollte es nicht bleiben. Als die Erwachsenen mit der Hauptarbeit fertig waren, gab es traditionell – Hasenbraten. Wahrscheinlich handelte es sich um Kaninchen. Vielleicht wurde damit ein Tabu aus Respekt gegenüber den geopferten Schweinen eingehalten. Schnaps gab es dazu. Schnell wurde es lustig. Als Anna am Stall vorbei zum Klo ging, wandte sie den Blick ab. Was unterschied sie denn von Panneke? Der behauptete schließlich nicht, die Hamster geliebt zu haben. Anna verbot sich jeden Gedanken an Max und Moritz. Als die Schinken und Würste im Gazeschrank im Schlafzimmer und in der Speisekammer aufgehängt wurden, dachte sie schon nicht mehr an Max. Sie hatte sich nicht verabschiedet, und das war zweifellos besser so.

Es herrschte keine Not. Sonntags fand ein Ritual bei Jordans statt: Wurst wurde vermessen. Dann lag ihr Vater länger im Bett, hatte ausgeschlafen und war guter Laune. Die Laune wurde noch besser, wenn er den Kindern Stücke von der unglaublich wohlschmeckenden hausgemachten harten Mettwurst abschnitt, die im Schlafzimmer hing. Die Kinder schrien immer „mehr“, wenn er mit dem Finger das Stück Wurst anzeigte, das er ihnen abschneiden wollte. Stets ließ er sich darauf ein, noch mehr abzuschneiden. Sich selbst bediente er natürlich auch großzügig. Anschließend wurde es allmählich Zeit für den Sonntagsbraten. Und nachmittags besuchte man sich zum Kaffee. Am Sonnabend hatten die Frauen die Bleche voller Hefekuchen im Rohzustand zum Bäcker getragen, im großen Backofen wurden die Kuchen dann gebacken. So war es üblich und praktisch geregelt auf dem Dorf, der Bäcker erhielt dafür ein kleines Entgelt. Je nach Jahreszeit waren die Blechkuchen mit Zucker und Mandeln bestreut oder mit dem Obst der Saison belegt. Anna liebte Pflaumenkuchen mit Streuseln. Die Kaffeegesellschaften lösten sich reihum ab. Anna war gerne bei ihren Tanten. Manchmal hörte sie aufmerksam dem Klatsch und Tratsch zu, meistens fand sie die Gespräche eher langweilig. Die Tanten, Onkel, Cousins und Cousinen spielten mit ihr, und Anna bespielte das anwesende Viehzeug.

Lotte

Eines Tages kam Annas Vater mit einem Schäferhund nach Hause, der hieß Lotte. Lotte war ein Polizeihund, ihrem Vater in Obhut gegeben. Anna war selig. Den Diensthund ihres Vaters betrachtete sie von nun an als ihren Hund. Mit Lotte konnte sie alles anstellen, sie ließ sich von ihr alles gefallen und war dabei lammfromm. Überhaupt sah Lotte harmlos aus und konnte so töricht gucken, dass man sie mit diesem Gesichtsausdruck leicht unterschätzte. Aber das war ja gerade das Raffinierte. Mit der Hündin konnte Anna überall hingehen, niemand würde wagen, ihr etwas zu tun, wenn sie dabei war, davon war sie überzeugt. Bereits an der Stimme hörte Lotte, wenn etwas nicht stimmte. Wenn ihr Vater mit jemandem sprach und Lotte merkte „Gefahr“, fing sie leise an zu knurren, und schon das hörte sich so bedrohlich an, dass die Leute sich schnell kleinlaut und höflich zurückzogen. Sie hatten Lotte noch nicht lange, da wurde sie trächtig. Drei Junge bekam sie, wuselig, tapsig und wie aus Plüsch gemacht. Das war das schönste Geschenk für Anna. Lotte duldete es, dass sie mit den Jungen herumspielte. So viel Verstand hatte Anna schon, dass sie nur in Gegenwart der Hundemutter mit den Welpen spielte und sie nicht aus ihrem Blickfeld trug.

Später, als Anna ein Backfisch war, wurde Lotte leider zur unfreiwilligen Verräterin. Ihr Vater befahl Anna immer strenge Uhrzeiten, zu denen sie mit dem Glockenschlag auf die Türklinke zu drücken hatte. Die Freundinnen, die gemeinsam im Dorf flanierten, mussten nicht so früh nach Hause. Klar, dass Anna mit ihrem Schicksal haderte und sich von ihren Freundinnen nicht trennen wollte. Aber sie musste! Ihr Vater war unglaublich streng, was die Einhaltung von Alltagsregeln anlangte. Schwere Strafen drohten, wenn sie zu spät kam. Schwere Strafen waren zu erwarten, wenn sie beim Lügen ertappt wurde, auch bei Notlügen und bei kleinen Beschönigungen. „Du wirst nicht bestraft, aber du musst die Wahrheit sagen!“ Bestraft werden wollte sie nicht, und so sagte sie notgedrungen die Wahrheit. Zurück zur Verräterin Lotte: Wenn ihr Vater abends seinen Dienst tat, konnte er erfreulicherweise nicht zu Hause auf die heimkehrende Tochter warten und ihre Leidenschaft für Pünktlichkeit überprüfen. Anna nutzte das aus. Wenn er nun abends mit Lotte des Weges kam, um das Dorfleben zu überwachen, dann zischelten die Freundinnen: „Anni, das Auge des Gesetzes wacht!“ Wie durch Zauberhand verschwand Anni in der Mitte, hockte sich danieder und der Kreis der Freundinnen schloss sich um sie, dicht wie die Dornenhecke um Dornröschen. „Guten Abend, Herr Jordan“, grüßten sie artig. „Guten Abend, die Damen. Jetzt wird’s aber Zeit, nach Hause zu gehen“, grüßte der Vater seiner Wächteraufgabe gemäß zurück. Aber warum zog Lotte so an der Leine? Er ließ sie los, und Lotte jubelte vernehmlich, als sie erwartungsgemäß in der Mitte ihre geliebte Anni fand! Das war natürlich Pech, und für einen Augenblick haderte Anni mit Lotte. Diesmal nahm der Vater ihr die Übertretung seiner Gesetze nicht übel, schließlich waren viele hübsche heranwachsende Mädchen dabei. Für die hatte Richard immer ein Auge übrig.

Dass Lotte als ausgebildeter Polizeihund auch Aufgaben zu erfüllen hatte, die wir Nachkommen hässlich finden, ist anzunehmen. Die Leute sollten nicht nur Respekt vor der Amtswürde meines Großvaters haben, und das war mit einem wütend knurrenden Schäferhund sicherlich einfacher als ohne. Er konnte Lotte auch von der Leine lassen, und beim Befehl „Fass!“ wird sie nicht gezögert haben zuzubeißen. Davon wollte meine Mutter lieber nichts wissen, schlimmer noch: sie fand es richtig, dass Blut floss, „wenn es sein musste“. Mein Großvater stand für Recht und Ordnung. Auf jeden Fall war Lotte dabei, als mein Großvater zwei unbewaffnete junge Männer totschoss. Vielleicht hat er sie in diesem Fall nicht von der Leine gelassen, damit sie selbst nicht im Getümmel erschossen werden konnte. Und das wollte mein Großvater auf keinen Fall! Mein Großvater hing sehr an Lotte. Darum kam er auf die Idee, sie nach ihrem Tode ausstopfen zu lassen. So geschah es. Vierzig Jahre später siedelte er aus Genthin um nach Hamburg. Ohne Lotte.

Dorfleben

Olvenstedt war ein großes Dorf im Einzugsbereich von Magdeburg, mit einer Straßenbahnverbindung dorthin, in dem viele Fabrik-, Bau- und Landarbeiter lebten, häufig Anhänger der SPD oder der KPD. Magdeburg war eine große mitteldeutsche Industriestadt mit einem Umland, das sowohl noch landwirtschaftlich-traditionell wie bereits durch die Industrialisierung geprägt war. Viele Arbeiter wohnten hier, die neben ihrem Status als Facharbeiter oder angelernte Arbeiter in der städtischen Industrie und Bauwirtschaft auch Selbstversorger auf dem Dorf waren; sie hatten kleine Gärten und hielten sich Hühner, Kaninchen und Schweine. Nicht wenige Gebrauchsgüter und Nahrungsmittel wurden in den Haushalten noch selbst hergestellt. Eine Reihe von traditionellen dörflichen Bräuchen und Umgangsformen waren noch lebendig.

Man feierte damals auch im Dorf mit Umzügen den 1. Mai, den Feiertag der Arbeiterklasse. Es gab außerdem die Radfahrerfeste, auch Annis Vater war Mitglied im Radfahrverein. Pfingsten wurde mit Ochs am Spieß und dem Maibaum gefeiert. In der SPD wurde Annas Vater Beisitzer und Protokollant. Die Protokolle schrieb aber seine Frau Paula; sie verfügte über größere Sicherheit in Rechtschreibung und Formulierungskunst. Anna freute sich, dass ihre Mutter so herausragte unter den SPD-Mitgliedern. Sie war stolz auf ihre Mutter, die, obwohl sie auch nur die Volksschule besucht hatte, so gut formulieren und schreiben konnte. Und die Rechtschreibung beherrschte sie sowieso. In diesen Punkten wäre Anna ihrer Mutter gerne ähnlich gewesen.

Es gab gesellschaftliche Höhepunkte, dörfliche Feste, auch die SPD lud in Ehreckes Gasthof zum Karnevalsfest. Einmal hatte Annas Mutter den originellen Einfall, sich als böse Stiefmutter zu verkleiden. In einem Henkelkorb bot sie Berliner Pfannkuchen und „vergiftete“ Äpfel an. Die sahen wirklich schön giftig aus, die Apfelbacken hatte sie mit roter Bonbonfarbe bemalt. Sie war so gut verkleidet, dass ihr mit anderen Frauen schäkernder Ehemann sie nicht erkannte und gerne einen Berliner Pfannkuchen von der hübschen bösen Stiefmutter nahm. Den vergifteten Apfel verschmähte er zu Paulas Bedauern. Aber es war ja ohnehin kein richtiger Schneewittchenapfel.

Annas Eltern

Anna wurde 1908 geboren. 1911 starb ihr innig geliebter Großvater. Bald darauf heirateten die Eltern, um ihre Pflichten gegenüber der unehelich geborenen Tochter wahrzunehmen und ihr einen ehrlichen Namen zu geben. Verantwortungsbewusstsein und vielleicht auch Druck der Verwandtschaft, ihrer Tochter ein „anständiges“ Elternhaus mit Vater und Mutter zu bieten, werden eine Rolle gespielt haben. Diese Heirat hätten sie wohl besser sein gelassen, meinte Anna später, denn es wurde keine glückliche Ehe, und die Mutter war ihr gegenüber keine liebevolle Mutter. War sie es deshalb nicht, weil sie selbst keine mütterliche Liebe und familiäre Geborgenheit erfahren hatte, vielmehr zusammen mit ihrem Bruder Franz in einem katholischen Waisenhaus groß geworden war? Oder weil sie durch Anna an ihren Ehemann Richard, den Vater von Anna, gebunden war? Oder deshalb nicht, weil Anna ein körperliches Stigma hatte, nämlich schuppige Haut? Für das frühe Kindesalter hatte Anna von ihrem Großvater und ihren Tanten und Onkel ein solides Fundament an Vertrauen in die Welt erhalten. Das waren immerhin drei Jahre. Dann kam diese fremde Frau und nahm sie mit. Man erklärte ihr, dass diese nun ihre Mutter sei, nicht Tante Hermine. Von Liebe in der Beziehung zwischen Mutter und Tochter konnte erst einmal keine Rede sein. Zank und Streit bestimmten den Alltag, und Anna wurde häufig von ihr geschlagen.

Annas Mutter Paula war in ihrer Ehe nicht glücklich, und es hat den Anschein, dass Anni ihre Unzufriedenheit abbekam. Richard ließ kein Techtelmechtel aus, was Paula gewiss nicht heiterer stimmte. Sie litt unter diesen Demütigungen, und Anna nahm Partei für ihre Mutter. Manchmal verprügelte Richard seine Frau. Das hinterließ Spuren. Wenn der 192 Zentimeter große und schwere, muskelbepackte Gatte auf seine zart gebaute 160 Meter kleine Frau einschlug, gab es Platzwunden, blaue Augen und Flecken. Niemand glaubte die Geschichte vom Fall von der Treppe. Die Beziehungen zu Nebenfrauen hatten Folgen. In einem Fall jedenfalls musste Richard die Vaterschaft für einen Jungen anerkennen und fortan Alimente zahlen. Da lag seine Frau schon sterbenskrank danieder. Ausgerechnet die zur Pflege bestellte Krankenschwester konnte dem grobschlächtigen Charme meines Großvaters nicht widerstehen und ließ sich mit ihm ein. Die Haushaltskasse wurde spürbar knapper.

Tante Möhring

Wie schön war es, wenn Anna bei Tante Möhring in Magdeburg sein durfte! In der Gaststätte „Zur Endstation“ war immer was los. Jeder sprach sie an, und häufig erhielt sie gute Sachen. Ein Stück Schokolade oder Obst, darunter auch Apfelsinen. Apfelsinen gab es auf dem Dorf in Olvenstedt selten, das war damals noch etwas Besonderes.

Anna machte während der Mittagsschlafenszeit einmal ein ungewöhnliches Experiment: Sie schob sich Apfelsinenkerne in die Nase. Was sie damit beweisen wollte, blieb zunächst unbekannt. Als man den Versuch entdeckte und die Positionierung der Kerne rückgängig machen wollte, wusste man sich zu helfen: Anna wurde gemahlener Pfeffer gereicht und ihr befohlen, diesen tief einzuatmen. Das half augenblicklich, alle Kerne wurden ausgeniest. Mechanisches Entfernen (durch Pulen) war zuvor gescheitert. Seitdem weiß man, wie Apfelsinenkerne aus Kindernasen entfernt werden können.

Manchmal, am Sonnabend oder Sonntagnachmittag, rückte ein Akkordeon-Duo an, und es wurde getanzt. Anni natürlich mittendrin. Anni liebte es, zu tanzen und zu singen. Sie hatte eine sehr schöne Stimme, auch noch im hohen Alter. Tante Möhring hatte einen Hund, und zwar einen weißen Spitz. Der hieß Max, und er liebte es, hinter Anni herzulaufen, um sie zu fangen. Im zweiten Gastraum gab es einen großen Billardtisch, um den lief Anni herum und Max hinterher. „Krieg mich doch!“, rief Anni. „Ich kriege dich“, rief Max und keuchte vor Eifer bei der wilden verwegenen Jagd. Der Jüngste war er nicht mehr, doch hatte er sich sein kindliches Gemüt bewahrt. Kriegte er sie zu fassen, biss er in ihren Kleidersaum, und schon gab es ein Dreiangel im Kleid. Das machte absolut gar nichts. Einmal im Monat kam die Hausschneiderin, die nicht nur Gardinen und Tischdecken nähte, sondern auch Prinzessinnenkleider für Anni. Das Dreieck im Kleidersaum wurde sorgfältig geflickt, und zum Trost bekam Anna noch ein neues Kleid von der Schneiderin dazu. Anna provozierte Max gerne, und der liebte seine ausgelassene kindliche Gespielin. Ferner gab es ein weiteres interessantes Familienmitglied, nämlich einen grünen Papagei. Der konnte selbstverständlich sprechen und beleidigte mit sichtbarem Vergnügen die Gäste. „Alter Sabberack“, krächzte er, wenn ein männlicher Gast das Lokal betrat. Manchmal gab es eine Erwiderung: „Selber Sabberack“, sagte der Gast. Sabberack hieß soviel wie Großmaul, der Ausdruck war im Raum Magdeburg verbreitet.

Max und der Papagei, die vielen Gäste, alle hatten ihren Spaß mit Anna und Anna mit ihnen. Tante Möhring freute sich über den Besuch der Kleinen. Sie wurde jedes Mal von ihrer Mutter gebracht, die ebenfalls die bunt gemischte Gesellschaft im Lokal schätzte. Da viele Straßenbahnschaffner in der „Endstation“ verkehrten und Anna alle kannte, durfte sie umsonst Straßenbahn fahren. Sie fuhr durch ganz Magdeburg, über den Breiten Weg mit den hohen prächtigen Kaufhäusern zu beiden Seiten. Magdeburg war damals, vor der Zerstörung im Krieg, eine schöne, bedeutende Stadt. Viele Menschen sprachen Anni an: „Wo willst du denn hin, Kleine?“, „Bis zur Endstation“, antwortete Anni. „Du fährst wohl gerne Straßenbahn?“ Anni nickte heftig.

Dann gab es noch ein Krankenhaus, das Kahlenbergstift. Während des Weltkrieges lagen dort hauptsächlich Verwundete von der Front. Anna war neugierig und entdeckungsfreudig. Da sie am Portier nicht vorbei konnte, ohne angehalten zu werden, zwängte sie sich durch eine Lücke im Zaun und benutzte einen Hintereingang, der in den Keller führte. Dort lagen Patienten, die Annas Trost nicht mehr nötig hatten, was sie nur langsam begriff. Sie schliefen wohl, nahm sie an. Wenn sie sich auch durch Rütteln und Schütteln nicht erwecken ließen, kam Anna das seltsam vor, und sie ließ von ihnen ab. Im Erdgeschoss und im ersten Stock gab es dagegen Männer, die waren gesprächsbereit und riefen Anni herbei. Nach dem üblichen Woher und Wohin sang Anna ihnen Kinderlieder oder bekannte Schlager vor. Und fast immer fand sich etwas in der Nachttischschublade, das dann in Annas Schürze wanderte. Meist waren es Süßigkeiten, und beglückt zog Anna von dannen. Nun mangelte es ihr keineswegs an Süßigkeiten, bei Tante Möhring im Lokal gab es immer welche, aber in Süßigkeiten unterschiedlichster Art und Herkunft zu schwelgen, war noch etwas anderes. Regelmäßig stellte sich ein Glücksgefühl ein.

„Zur Endstation“ war Annas Paradies, und sie drängte ihre Mutter, bald wieder dort hinzufahren, wo sie aller Leute Liebling war. Es traf sich gut, dass Annas Mutter sich auch als flotte, freundliche Kellnerin betätigte, deren Hilfe in Tante Möhrings Lokal gerne gesehen wurde.

Tante Möhring starb. Ein paar Mal besuchten sie noch Onkel Möhring, da merkten sie, dass sie der neuen Frau an seiner Seite nicht willkommen waren. Anna behielt die Erinnerungen an die ausgelassenen Spiele mit Max und die liebevolle Tante Möhring, mit der sie durch den Saal getanzt war. Die anderen Tanten blieben ihr erhalten. So erlebte Anna, wenig geliebt von ihrer eigenen Mutter, als Ausgleich die Zuneigung einer Reihe von Tanten und ihres Großvaters. Das wird es gewesen sein, was sie einigermaßen widerstandsfähig und lebensfähig gemacht hat

Der Weltkrieg

Als Anna sechs Jahre alt war, begann der erste Weltkrieg, und der Vater zog in den Krieg. Die väterlichen Gefühle seiner Tochter gegenüber kann ich schwer einschätzen. Die Erzählungen meiner Mutter sind widersprüchlich. Trotz allem betrachtete Anna ihn als Beschützer vor der Mutter, und der war nun nicht mehr da. Die Kriegshandlungen spielten sich woanders ab, die Städte wurden erst im zweiten Weltkrieg bombardiert. Insofern merkte man nichts vom Krieg, in Magdeburg nicht und nicht in Olvenstedt. Aber die schlechten Nachrichten häuften sich. Bald musste sie begreifen, dass nicht jeder Vater aus dem Krieg heimkam. Es mehrten sich die Fälle, dass in Familien, die man kannte, der Vater oder Bruder schwer verwundet oder getötet worden war. Oder sie waren in Gefangenschaft geraten. Anna bangte um das Leben ihres Vaters.

Soziale Ordnung und Kontrolle auf dem Dorfe

Anna war angesichts der Abwesenheit des Vaters ihrer Mutter ausgeliefert. Immerhin nicht ganz, hatte sie doch ihre Tanten und Onkel auf dem Dorf, die mäßigend auf Paulas Drang zur handfesten Erziehung einwirkten. Außerdem gab es die Hebamme und einiges Gerede über Annas Mutter, das auch der Verursacherin des Geredes nicht verborgen blieb. So nahm sie sich nach Kräften zusammen. Hinzu kam, dass ein neugeborenes Kind bei ihr alle mütterlichen Regungen weckte und sie sanfter und verträglicher machte. 1916 wurde nämlich ihr Sohn Friedrich geboren, sieben Jahre jünger als Anna. Von einer Mutter, wie ihr Bruder Friedrich sie fortan hatte, konnte Anna nur träumen.

Im Verlauf des ersten Weltkrieges wurden die Nahrungsmittel immer knapper, auch auf dem Lande. Die Regierung war mangelhaft auf den Krieg vorbereitet, schon gar nicht auf so einen langen Krieg. Viele Menschen verhungerten. In Olvenstedt gab es nach den Erzählungen meiner Mutter Formen nachbarschaftlicher Unterstützung und gegenseitiger Hilfe innerhalb der dörflichen Gemeinschaft, die die Notsituation abzumildern halfen. Jeden Tag brachte die Magd vom Hof gegenüber einen halben Liter Rahmmilch und, ebenfalls in einer Kanne, jeden Tag eine andere Suppe, mit Fleisch und Fettaugen obendrauf. Diese Fürsorge der Bauern für Wöchnerinnen und Schwerkranke war in dieser Gegend Tradition. Die Kinder, deren Väter im Felde waren, bekamen von den Bauern eine Weihnachtsbescherung. Die Bauern wechselten sich bei diesen Diensten ab. Auch Kranke und Alte wurden versorgt. Anna bekam etwas von der Ration für die Mutter ab. Aber es war zu wenig. Zudem gab es 1916/17 einen extrem kalten Winter, wegen Kohlenmangels konnte man die Lebensmittel oft nicht transportieren. Die Städte hungerten, das Land aber auch.

Während der Stillzeit erhielt Paula also vom Bauern einen halben Liter noch nicht entrahmte, sehr fette, nahrhafte Milch. Anni naschte gerne, und sie konnte der dicken Rahmschicht auf der Milch nicht widerstehen. Das war ihr verboten worden, und es blieb nicht unbemerkt. Anna musste schwer dafür büßen. Sobald ihre Mutter sie bei einer Missetat wie dieser ertappte, wurde sie von einem unbezähmbaren Jähzorn überwältigt. Mochte der Anlass gering oder erheblich sein, sie steigerte sich jedes Mal in rasende Wut. Sie riss Anni an den Haaren und schlug mit der Hand oder mit Gegenständen auf sie ein, egal wohin. Wenn Anni am Boden lag, bekam sie zusätzlich Fußtritte. Anni hasste ihre Mutter. Regelmäßig führte sie die Situationen halbbewusst herbei, die ihre Mutter provozieren würden. Sie zitterte vor der explodierenden Wut der Mutter, gleichzeitig entdeckte sie jedes Mal nach solchen Ausbrüchen bei sich selbst eine gewisse Befriedigung darüber, dass ihre Mutter sich ins Unrecht gesetzt hatte. Sie, Anni, würde es ihr zeigen!

"Komm her", rief die Mutter voll verhaltener Wut. Sie hatte das Neugeborene neben sich im Bett liegen. Anna wusste, was ihr bevorstand. Blitzschnell erwog sie ihre Möglichkeiten: Ihre Mutter lag im Bett, aber wäre es ihr nicht zuzutrauen, rauszuspringen und sie zu verfolgen? Andererseits, weit konnte sie nicht kommen. Könnte ihre Wut nicht verraucht sein, zumal wenn sie heute Abend Tante Hermine als Begleitschutz mitbrachte? Da war ihre Mutter schon bei ihr. Anna spürte einen starken, ziehenden Schmerz und sah Blut an dem schweren silbernen Löffel, den Tante Hermine ihrer Mutter zur Geburt des Kindes geschenkt hatte. Da tropfte ihr schon das Blut auf das Kleid, und sie zog ihre Hand blutverschmiert von Mund und Nase zurück, um sie zu betrachten. Einen Augenblick standen ihre Gedanken still. Sie starrte ihre Mutter an, die sich schwer atmend aufs Bett fallen ließ. "Was starrst du mich so impertinent an, du verlogenes Biest? Du hast selber Schuld." Langsam kam Anna zu sich. Die Lache auf dem Fußboden wurde größer. Es klopfte. Anna ging, um die Hebamme hereinzulassen. "Frau Jordan, waren Sie das etwa?" "Sie hat gelogen. Sie hat es verdient", presste ihre Mutter hervor. Die Hebamme untersuchte Anna. Die Oberlippe war eingerissen, die Schneidezähne wackelten. "Frau Jordan, wenn ich Sie versorgt habe, werde ich Anna zum Arzt bringen. Was soll ich dem sagen? Die Leute im Dorf sprechen über Sie. Wenn Sie so weitermachen, muss ich das der Fürsorge melden."

Die Mutter

Mit dem kleinen Friedrich zusammen erlebte Anna ihre Mutter von einer neuen Seite. Glaubte Paula sich unbeobachtet, schmuste sie mit Friedrich, alberte und gluckste mit ihm herum, trug ihn durch die Stube und sang ihm mit ihrer schönen Altstimme alte Kinderlieder vor, die Anna oft zum ersten Mal hörte. Anna fiel ein, dass ihre Mutter sie nur wenige Male gesehen hatte, nachdem sie als Kleinkind zu ihrem Großvater gegeben wurde. Ob sie ihre kleine Tochter überhaupt einmal auf den Arm genommen hatte? Dachte Anna an ihre frühe Kindheit zurück, fielen ihr nur der Opa ein und die Tanten, dann kamen Onkel Fritz und Onkel Richard hinzu. In dieser Familie gab es viele Richards. Mutter und Vater tauchten erst nach dem Tod ihres Großvaters auf, vorher hatte sie sie nur flüchtig gesehen. Ihr Kummer über den Verlust ihres Opas überwog die Freude über die neue Familie bei weitem. Steif stand ihr die Mutter gegenüber, steif gab ihr Anni die Hand beim Gutenachtsagen. Körperliche Berührungen gab es erst, als ihre Mutter sie schlug. Anlässe ergaben sich bald, und Anna verstummte.

Wie so vieles im Leben nicht ganz schwarzweiß ist, gab es auch im Mutter-Tochter-Verhältnis hellere Augenblicke. Neben Wut und hasserfüllten Ausbrüchen fanden sich gelegentliche Zeichen von Zuneigung. In einigen Fällen setzte sie sich engagiert für ihre Tochter ein. In vielen anderen Fällen nicht. Als meine Mutter 93 Jahre alt und ihr Gedächtnis bereits stark beeinträchtigt war, verwechselte sie mich, ihre Tochter, einmal mit ihrer Mutter. Resigniert murmelte sie in ihrem Gedächtnis- und Orientierungsverlust: „Du hast mich ja nie gemocht. Warum eigentlich nicht?“ Das hat mich erschüttert.

Um Annas Mutter Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, soll noch von ihrer Parteinahme für die Tochter an ihrer Schule berichtet werden.

In der Jauchegrube

Zum Radrennfest hatte Anni ein neues weißes Kleid bekommen. Um die Taille wand sich eine grellrote Schärpe aus Taft. Ihre langen Haare trug sie offen. Im Haar befand sich ein dicker Bodderlecker (Butterlecker), eine große gebundene Schleife aus dem Stoff der Schärpe. Die Strümpfe und die Schuhe waren weiß wie das Kleid. Eigentlich hätte Anni lieber schwarze, glänzende Lackschuhe bekommen, die waren jetzt Mode. Aber die weißen Spangenschuhe waren billiger gewesen. Was konnte man da tun? Sinnend stand Anni vor der Jauchegrube. Und siehe, die Jauche war sehr schwarz und glänzend. Ohne sich weiter zu besinnen, steckte sie die Füße in die Jauche. Sollten aber die oberen Schuhränder nicht weiß bleiben, musste sie die Füße tiefer reinstecken. Dann würden die Strümpfe etwas abbekommen. Egal, es war keine Zeit mehr. Und sie tauchte die Füße tiefer ins improvisierte Farbbad. Schon rief die Mutter. Die sollte sie hin zum Abfahrtsplatz der Radsportler bringen. Ihr Vater war schon voraus und wartete auf seine Tochter. Schnell drückte ihr die Mutter den Blumenkranz aufs Haar. Als sie den Kranz mit Spangen befestigen wollte, sah - oder roch - sie die Bescherung. Links und rechts brannten die heftigen Ohrfeigen. Anni trottete mit nackten Beinen und, oh Schande, auf ihren Holzpantoffeln zum Festplatz. Die Mutter ließ sie stehen und ging ihre eigenen Wege. Ihr Vater entschied, schnell bei Annis Kusine vorbeizufahren, und so durfte sie die Sonntagsschuhe der älteren Kusine anziehen. Auch ein Paar weiße Socken stellte Lucie bereit. Es konnte losgehen. Während des fröhlichen Umzugs per Rad musste Anni sich allerdings hauptsächlich darauf konzentrieren, die zu großen Schuhe der Kusine nicht zu verlieren. Beim anschließenden Radsportball aber tanzte Anni trotz der geräumigen Schuhe mit. Ihr Experiment wurde von den anderen belacht, aber von einigen Erwachsenen auch ein wenig bewundert. Ideen hatte das Kind! Sie versuchte immerhin, sich zu helfen, und dabei verfällt man eben manchmal auf unbefriedigende Lösungen!

Anni ließ sich nicht entmutigen, weiter ihre Einfälle umzusetzen, obwohl die Erfahrung sie lehrte, dass sie dafür häufig mit Prügeln entlohnt wurde. Beobachtete die Dorfjugend Anni bei einem Vergehen, das nach menschlichem Ermessen der Mutter strafwürdig erscheinen würde, so wurde sie nach Hause begleitet. Die Begleiter blieben dann vor dem Haus stehen und blickten zum Küchenfenster im zweiten Stock hinauf. Häufig wurden die Schadenfrohen belohnt, die Mitleidenden erschreckt. Eine schrille, sich in hohe Kaskaden steigernde Stimme war zu vernehmen. Fast rhythmisch begleitend klatschten die Schläge. Selten war Anni zu hören. Sie war geübt im Wegstecken. Einige fanden sie mutig.

Besuch aus der großen weiten Welt

Onkel Franz und Tante Amanda waren aus dem sagenhaften Hamburg zu Besuch. Stundenlang konnte Anna dabeisitzen und zuhören, wenn von Hamburg erzählt wurde. Auf Bildern hatte Anni schon große Schiffe gesehen. Ein ganzer Hafen voller Schiffe, und das mitten in der Stadt, davon konnte Anni sich sehr wohl etwas vorstellen. Aber war dieses Bild richtig? Eine Elbe mit Hafen, die gab es zwar auch in Magdeburg. Anni kannte aber nur Binnenschiffe und Schleppkähne. Und dann berichteten die Tante und der Onkel von der Reeperbahn und der Großen Freiheit. Von leichten Mädchen, Matrosen und den berühmten Polizisten von der Davidwache. Ein Tanzlokal lag neben dem anderen, dazu Bierkneipen, Wettbüros und Spielhöllen. Onkel Franz und Tante Amanda wohnten in einer Seitenstraße der Reeperbahn. Jeden Tag konnten die beiden über die Reeperbahn, diese sagenhafte Meile, spazieren, und sie fühlten sich dort ganz zu Hause. Sie waren mindestens dreimal zu Besuch in Magdeburg, und jedes Mal hatten sie Anna ein wundervolles Geschenk gemacht. Ich habe beide als Kind noch kennengelernt. Ihr Haus in der Lincolnstraße nahe dem Oase-Kino auf der Reeperbahn ist im Verlauf der sechziger Jahre abgerissen worden. Es waren anspruchslose Arbeiter-Wohnungen ohne WC und Bad. Immerhin gab es in der Küche fließendes Wasser. Die Wohnung bestand aus der Wohnküche und einem kleinen Schlafzimmer. Wohnlich wurde die Küche durch einen Tisch und ein Sofa. Die Toilette befand sich im Treppenhaus. In der unmittelbaren Nachkriegszeit habe ich von ihrem Fenster aus die altmodischen Schaustellerwagen und Campingwagen im Hof gesehen. Viele Kinder spielten unbeschwert; ich wusste, dass es sich um Zigeuner handelte. Viele von ihnen waren Überlebende aus den KZs, Tante Amanda hatte uns davon erzählt.

Das eine Mal erhielt Anni von Onkel Franz und Tante Amanda eine Puppenküche mit Küchenschränken und einem Tisch, von einem Tischler angefertigt. Die Schubladen konnte man herausziehen. Auch einen Herd gab es. In den kleinen kupfernen Tiegeln, Töpfen und Pfannen konnte man kochen und braten, denn das Herdfeuer wurde mit Brennspiritus-Tabletten erzeugt. Anna hatte so etwas Hübsches und Niedliches noch nie gesehen. Sogar die Bauerntöchter hatten keine schöneren Puppenstuben. Zu allem Überfluss gab es noch das schönste Porzellangeschirr für sechs Personen, Essgeschirr und Kaffeegeschirr, mit blauem Rand und Blumenmuster, Vergissmeinnicht. Anna war hingerissen und spielte zur Freude von Onkel und Tante stundenlang damit, kochte Kakao und servierte es der Familie und ihren Puppen. Peterle bekam ein winziges Schüsselchen mit Milch hingestellt.

Bei einem anderen Besuch erhielt Anni ein nicht weniger schönes Puppenbett. Die Matratzen waren mit grüner Seide bezogen und mit goldenen Knöpfen versehen, die vier Bettpfosten waren handgedrechselt und schlossen mit goldenen Kugeln ab, die Bettwäsche war mit roten Rosen bedruckt. Hübsche, wie Perlmutt schimmernde Knöpfe verschlossen die Bettbezüge. Das Eindrucksvollste war für sie der Himmel aus zartem weißen Tüll, durchwirkt mit goldenen Sternen.

So etwas Wundervolles hatte Anna noch nie gesehen, und das sollte jetzt ihr gehören? Das konnte sie der Bauerntochter von gegenüber zeigen, da würde die staunen. Sie betastete die goldenen Kugeln mit ihrem polierten Glanz und strich vorsichtig über die seidigen Matratzen. Dann kam Bewegung in sie, sie sauste los und schaffte ihre beiden Puppen heran. Erst einmal mussten die umgekleidet, gewaschen und gekämmt werden. Endlich war es soweit und sie legte sie zu Bett. Stolz und gerührt standen Mutter, Puppenmutter, Onkel und Tante um das Bett herum samt dem glücklichen Kind. Dann mussten die Puppen wieder Platz machen, für Peterles Junge. So fein hatten die kleinen Katzen noch nie geschlafen! Das Hotel Adlon war reineweg gar nichts dagegen, meinten die Eltern.

Weil Onkel Franz und Tante Amanda kluge Menschen waren, die es gut mit Anni meinten und sich Gedanken darüber machten, wie man sie fördern könnte, bezahlten sie Anna einen Schwimmkurs. Das Schwimmbad war in einem Steinbruch außerhalb des Dorfes gelegen. Anna hing an der Angel des Bademeisters und lernte schnell Schwimmen. Da wusste sie noch nicht, dass sie mal eine Seemannsfrau werden würde.

Bald gehörte Anna zu den eifrigsten und begabtesten Schwimmerinnen. Sie stürzte sich verwegen vom Fünf-Meter-Brett und tauchte nach schweren Gegenständen, die der Bademeister für sie hineinwarf. War die Haut nass, wurden die sich weiß absetzenden Schuppen durchsichtig, man sah sie nicht mehr. Anna fühlte sich frei und stark. Ängstliche Kinder reizten sie; schön war es, sie, am Rand sitzend, unvermutet von hinten zu schubsen, so dass sie ins Wasser klatschten. Manches Mal ermahnte sie der Bademeister. Wichtiger war es ihm, sie als vielversprechendes Talent für den Schwimmverein zu gewinnen. Mit dreizehn Jahren trat sie wieder aus. Zu oft fühlte sie die Blicke der anderen auf sich lasten, zu Recht oder zu Unrecht; sie nahm an, das würde wegen ihrer schuppigen Haut geschehen, für die sie sich genierte. Ihren Eltern sagte sie, sie habe keine Lust mehr. Mit ihrem kleinen Bruder ging sie aber noch zum Schwimmbad am Ziegelei-Teich, zum eigenen Vergnügen und weil sie dem kleinen Richard das Schwimmen beibringen wollte. Manchmal, wenn der Bademeister nicht zu sehen war, lockten sie auch die Schäferhündin Lotte ins Wasser, die ihnen am Ufer zuschaute und sehnsuchtsvolle und besorgte Laute von sich gab.

Der Grind

Verschiedene Male schon hatte der Lehrer Anna ermahnt, sich die Haare zu waschen. Ihm waren die Schuppen aufgefallen, die er durch die dicken Haare erblicken konnte. Er hielt sie für das Ergebnis von Unsauberkeit oder für die Nissen von Läusen. Als all seine Ermahnungen nichts fruchteten, holte er sie eines Tages von der letzten Bank nach vorne und sprach: "Bei Anna könnt ihr sehen, was passiert, wenn man sich nicht wäscht. Anna, schäm dich!" Die anderen Kinder guckten betroffen oder fingen an zu kichern, aus Verlegenheit oder aus Schadenfreude. Anna stand gequält lächelnd vor der Klasse, endlos, so schien es ihr. "Das sieht mir doch eher nach Läusen aus. Pack deine Sachen und gehe nach Hause. Bestelle deiner Mutter einen schönen Gruß. Du darfst erst wieder zur Schule, wenn deine Läuse weg sind." Schnell lief Anna zur Bank, nahm hastig ihren Tornister vom Haken und riss die Klassentür auf. Läuse-Anni, hörte sie eine hämische Kinderstimme. Das könnte Ilse gewesen sein, notierte Anni für sich. Sie rannte, überlegte, ob sie sich bei Tante Hermine vorher Trost verschaffen sollte. "Modder, Modder, ick bün's“, rief sie am Sockel der Treppe. Aber nichts rührte sich. Anni stürmte nach oben und riss die Klinke herunter. Es war abgeschlossen, niemand zu Hause. Schluchzend rannte Anni nach Hause, und ihre Mutter war da. Als Anni ihre Zurschaustellung als Läuse-Anni hervorgestoßen hatte, während ihr Gesicht sich vor Schmerz und Scham verzerrte, warf ihre Mutter sich entschlossen ihr Umschlagtuch über die Schultern. Du kommst mit, entschied sie, und stürmte voraus. Es war Pause, als sie bei der Schule ankamen. Eine Zigarre rauchend, spazierte der Lehrer auf dem Schulhof, um die Aufsicht zu führen, oder weil es so schönes Wetter war. Die Blicke vieler folgten ihren energischen Schritten. Unterwegs schon hatten sie andere Frauen angesprochen, und sie hatte heftig schnaubend berichtet. In einiger Entfernung verfolgten die Frauen die Beschimpfung. "Was bilden Sie sich ein? Während unsere Männer an der Front sind und für das Vaterland die Knochen hinhalten, lassen Sie den Herrgott einen guten Mann sein und erniedrigen unsere Kinder. Gucken Sie sich mal selber an. Finden Sie sich etwa sauber? Ihre Finger sind ja ganz gelb vom Rauchen. Damit wagen Sie auf meine Tochter zu zeigen? Meine Tochter hat eine angeborene Hautkrankheit, und Sie beschämen sie vor der ganzen Klasse. Wissen Sie, was Sie ihr angetan haben? Ein Lehrer sollte doch was von Kindern verstehen. Sie sollten mal ein Mann sein und an die Front gehen wie andere anständige Männer auch! Dann lernen Sie vielleicht, was ein Menschenleben wert ist. Meine Tochter ist jedenfalls anständiger und sauberer als Sie! Sie werden sich bei mir und meiner Tochter entschuldigen, sonst passiert was! Und sollte mein Mann heil aus dem Felde zurückkommen, machen Sie sich auf was gefasst! Und für Leute wie Sie kämpft er und riskiert sein Leben! Pfui Deibel!" Und sie spuckte vor ihm aus. "Recht hat Paula", "Saubeutel, Schurke, Schuft" riefen die anderen Frauen. Und die Kinder starrten staunend und ergriffen. Anna fasste die Hand ihrer Mutter und zog. Sie fühlte zwar eine tiefe Befriedigung, aber so ganz geheuer war ihr die öffentliche Beschimpfung des Lehrers nicht. Irgendwie schämte sie sich. Darüber, dass der Lehrer sie gedemütigt hatte? Darüber, dass ihre Mutter den Lehrer öffentlich beschimpft hatte? Darüber, dass der Lehrer seine Autorität verspielt hatte? Wie konnte sie sich je wieder in die Schule trauen? Musste sie nicht immer am Lehrer vorbeigucken, den Blick gesenkt halten? Würden die anderen Kinder sie hänseln? Am nächsten Tag ging sie wieder zur Schule. Sie guckte unbeteiligt und wurde erst einmal in Ruhe gelassen. Dann wurde bekannt, dass sie einen neuen Lehrer bekommen würden. Sie wussten nicht, ob der jetzige Lehrer einberufen worden war oder versetzt werden sollte.

Die Schule im Dorf

Der neue Lehrer war schon pensioniert, aber wieder aktiviert worden. Der Krieg ging ins vierte Jahr. Der Lehrer blickte erst einmal ganz gutmütig drein. Seine Erscheinung war nicht sonderlich imposant. Er war von eher kleiner Gestalt und trug einen grauen Anzug mit Weste. Über seinen kugeligen Bauch spannten sich die Knöpfe der Weste. Die Uhrkette schien aus Silber und von beträchtlichem Gewicht, so ließen ihre dicken Glieder vermuten. Zog er die Uhr aus der Westentasche, senkte er den Blick und führte die Uhr vor seine Augen. Dann hob er verheißungsvoll das Angesicht und kündigte die nahe Pause oder das Unterrichtsende an. Er winkte Anni heran, gab ihr vier Groschen und schickte sie zum Brauseholen in den Kolonialwarenladen um die Ecke. Er hielt sie wohl für pfiffig. Das war sie auch, denn sie kam ihm schnell auf die Schliche. In der Klasse hing an einem Kartenständer eine Karte von Europa. Anfänglich hatten sie zu Unterrichtsbeginn oder als Abschluss des Schultages den Kriegsverlauf auf der Karte nachvollzogen. Sooo groß war Deutschland schon. Aber es wollte nicht recht vorangehen. Von fürchterlichen Schlachten und ungeheuren Verlusten an Soldatenleben war die Rede. Man guckte seltener, und wenn, dann sorgenvoll auf die Karte. Aber warum verschwand der Lehrer immer häufiger hinter der Europakarte, je mehr sich der Schultag dem Ende zuneigte? Er blickte immer versonnener und nahm hoch konzentriert und vorsichtigen Schrittes Kurs auf einen Schüler, der seine Hilfe beim Schreiben oder beim Rechnen brauchte. Seine Erklärungen wurden immer karger und manchmal direkt unverständlich. Erst dachten einige Schüler, dem Lehrer gehe es nicht gut, aber Anni wusste es genauer. Sie offenbarte den staunenden Mitschülern ihre Beobachtungen. Sie war ihm nachgeschlichen und hatte einen Blick hinter die Karte riskiert. Dort stand er, mit nach hinten geneigtem Kopf und glücklicherweise geschlossenen Augen und nahm einen Zug aus der Limonadenflasche. Anni wusste, was die Flasche enthielt. Denn bei Anni hatte die Neugier über den Respekt vor fremdem Eigentum und vor dem Lehrer gesiegt. Sie hatte bereits einmal auf dem Rückweg vom Kolonialwarenladen, hinter einer Hecke, vom Inhalt genippt. Und so viele Male schon war Anni in der Gaststätte "Zur Endstation" von jovialen Männern zum „Probieren“ eingeladen worden, dass sie wusste, dies war Klarer, Schnaps also, manchmal auch Zielwasser oder Feuerwasser genannt. Und dann wurde Anni übermütig. Sie schlüpfte aus ihren Holzpantinen und barfuß oder auf Socken dem Lehrer hinterher. Alle wussten nun Bescheid darüber, was der Lehrer dort anstellte. Die Kinder kicherten, denn Anni musste auch noch Faxen machen, bevor sie hinter die Karte lugte. Vom Lehrer sah man nur die Beine und Füße. Doch eines Tages hörte man ein Klatschen hinter der Karte, und Anni schoss auf ihren Platz auf der letzten Bank zurück. Der Lehrer hatte sie beim Spionieren endlich erwischt und geohrfeigt. Eher verlegen als wütend, stieß er noch hervor: "Jordan, du bist ein Affe!" Sie krähte zurück: "Ein Affe hat vier Beine, ich habe nur zwei, Herr Lehrer!" Das fand sie bis ins hohe Alter witzig, es war aber biologisch in dieser Pauschalität nicht ganz korrekt, denn jeder Gorilla, Schimpanse oder Orang-Utan würde es sich verbitten, als Vierbeiner bezeichnet zu werden! Der Lehrer ließ es durchgehen und schickte sie vor die Tür. Die meisten Mitschüler fanden sie ganz schön mutig. Ich selbst fand die Geschichte witzig, die meine Mutter häufig erzählte, empfinde nachträglich aber Mitleid mit dem alten Herrn, der aus seinem Pensionärsdasein noch einmal an die Schule genötigt wurde.

Auch dieser Lehrer verschwand und eine junge Frau erschien, die wohl noch nicht allzu lange Lehrerin war. Anni versuchte, sich in ein günstiges Licht zu setzen. Aber Tatsache war nun mal, dass sie auf der letzten Bank saß. Damit war die junge sympathische Lehrerin über Annis Leistungsstand informiert. Anni wäre gerne ein paar Bänke nach vorne gerückt. Außerdem stufte sie einige in der Klasse viel dümmer als sich selbst ein. Trotzdem, es war nicht zu leugnen, wenn sie mal wieder nicht geübt hatte, machte sie eben viele Fehler im Diktat. Hatte sie geübt, machte sie tatsächlich weniger Fehler als die doofe Ilse, die vier Bänke vor ihr saß. Eines Tages sah sie ihre Mutter und die hübsche nette Lehrerin im Gespräch vertieft. Diese wohnte in der Nachbarschaft, was Anni schon bemerkt hatte. "Komm mal her, Anni", rief ihre Mutter sie herbei. Anni begrüßte verlegen lächelnd die Lehrerin. "Hast du Lust, für deine Lehrerin einzukaufen?" Anni nickte sofort. Zweimal die Woche erledigte sie nun die Einkäufe und einmal die Woche machte sie die Treppe sauber. Dafür setzte sich die Lehrerin jedes Mal eine Weile mit ihr zusammen und wiederholte den Unterrichtsstoff oder übte mit ihr Lesen. Auch das Rechnen war nicht ihre Stärke gewesen. Das Einmaleins hatte sie gelernt, dafür hatte ihr Vater gesorgt. Aber die Textaufgaben... ? Die Lehrerin konnte sehr gut erklären, außerdem hatte sie Geduld. Und plötzlich verwandelten sich vertrackte Rätsel in begreifbare Fragestellungen. Man musste dann meist nur noch ein wenig malnehmen oder teilen. Anni schwebte auf Wolken, bis sie in der ersten Bankreihe saß und für jeden klar ersichtlich zu den Besten gehörte. Das Herz schlug für ihre Lehrerin, und sie ermahnte die anderen Kinder zu Ruhe und Ordnung. Diese waren so verblüfft, dass sie gar nicht erst auf die Idee kamen, Anni als Streberin zu hänseln.

Bevor Annis wundersame Wandlung zur Überfliegerin an der Schule sich vollenden konnte, war der Krieg aus, die begnadete Lehrerin wurde versetzt und an ihre Stelle trat wieder ein Mann. Ihm fehlte ein Bein, wie die Schüler mit ehrfürchtigem Grauen bemerkten. Er war ernst und streng. Und er strafte viel. Er schlug auch. Ob es ihm Spaß machte oder ob er nur seine Pflicht tat, wie er sie verstand, konnten die Kinder nicht erkennen. Jedenfalls entzog sich keines der Kinder, wenn sie „nach vorne kommen“ sollten, um die in ihren Augen verdiente oder unverdiente Strafe abzuholen. Es hatte ja doch keinen Sinn, wegzulaufen, wenn der Lehrer sie auch nicht hätte einholen können. Seine Macht wurde nicht durch ein fehlendes Bein eingeschränkt. Vielmehr wurde eine Autorität dadurch unangreifbar und geradezu unheimlich. Bank für Bank rutschte Anni nun wieder nach hinten. Im Dorf kannte ihn keiner, aber er war nicht unbeliebt. Sonntags ging er in die Kneipe. In die Kirche ging er nicht. Die Kinder fürchteten seine Härte, aber sie wagten nicht, sich bei ihren Eltern zu beschweren. Er war nicht ungerecht, eben nur hart. Er lächelte selten.

Eines Tages war die Schule abgeschlossen. Der Pastor, der nebenan wohnte, wurde geholt. Als er den Lehrer gefunden hatte, wurden die Kinder nach Hause geschickt. Sie hatten eine Woche schulfrei. An der Beerdigung des Lehrers mussten alle Kinder teilnehmen. Der Pastor hielt eine Rede, die die meisten Kinder nicht verstanden. Soviel begriffen sie, dass der Pastor dem Lehrer, der sich aufgehängt hatte, einen Platz im Himmelreich wünschte, gleich auf der ersten Bank.

Aus Magdeburg kam ein neuer Lehrer. Er war schon recht alt, hatte aber noch alle Gliedmaßen. Er war mittelgroß und hager. Meist trug er einen grauen Anzug. Dazu weiße Manschetten aus Gummi und einen Hemdkragen aus demselben Material. Manschetten und Kragen hatten, ursprünglich weiß, eine Farbe wie sehr altes Elfenbein. Die Manschetten wurden aber durchaus gereinigt oder wenigstens abgewischt, jedenfalls verschwanden die Notizen, die der Lehrer zum Amüsement der Schüler darauf schrieb, nachdem sie ihre Funktion erfüllt hatten. Aber, oh Wunder, der neue Lehrer schlug nicht. Er mochte Kinder, jedenfalls lachte er häufig, auch über Äußerungen der Schüler, die der Lehrer lustig fand. Er erzählte Geschichten und Witze, da konnten die Schüler lachen. Er erzählte auch Geschichten, die waren gar nicht lustig, aber über die konnte man nachdenken und sich lange unterhalten. Die Kinder freuten sich über diesen neuen Lehrer, waren aber nicht immer nur dankbar. Ein klein wenig versuchten sie ihn und seine Gutmütigkeit auszunutzen. Aber der Lehrer war schlau und durchschaute sie alle, und sie merkten das auch. Im Frühling oder Sommer, wenn es warm war, riefen sie auf ein verabredetes Zeichen hin im Chor: "Die Schule ist aus, das Wetter ist schön. Herr Lehrer, wir wollen spazieren gehn!" War das Wetter wirklich schön, antwortete der Lehrer meist: "Wenn ihr mich mitnehmt?" Der Jubel war dann groß. Noch zwei Jahre, dann verließen alle Achtklässler die Schule, einschließlich Anni. Und der Lehrer ging nun auch. Er wohnte wieder in W. Einmal noch hatte ihn Anni in Magdeburg getroffen, als sie schon in Stellung war. Er freute sich sichtlich, Anni in guter Verfassung zu wissen, klagte selber aber über starke Schmerzen in Beinen und Rücken. Etwa drei Jahre später hörte sie von seinem Tod. Sie hatte ihn gemocht.

Der Kinderschänder

Die Welt war auch schon vor Beginn des ersten Weltkrieges nicht heil. Sie hatte dem Lehrer erzählt, dass sie immer ein Mann anspreche und sie einlade, sich doch mal seine schöne Gartenlaube anzusehen. Er habe auch Kuchen und Kirschen und ein niedliches Kätzchen. Anna war erst sieben, aber ihr kindliches Urteilsvermögen sagte ihr, dass der Mann nicht geheuer sei. Die Eltern hatten ihr verboten, mit fremden Menschen mitzugehen. In fremde Menschen könne man nicht hineingucken, es gäbe welche, die Spaß daran hätten, kleine Kinder zu kneifen und zu schlagen. Nun, das tat Annas Mutter auch, und darauf konnte Anna gut verzichten. Eines Tages kam der Pastor vorbei, um Anna abzuholen. Ein Kriminalkommissar aus Magdeburg wartete im Gemeindebüro. Das sei ein Polizist, erklärte man ihr. Man habe einen Mann festgenommen, der ein Kinderschänder sei. Der würde Kindern wehtun. Anna solle sagen, ob es derselbe Mann war, der sie habe mitlocken wollen. Sie dürfe aber nicht lügen! Sie müsse die Wahrheit sagen. Was das nun wieder war, ein Kinderschänder? Sie wollte später ihre Eltern befragen. Was lügen war, wusste Anna. Ihr Vater sagte immer: Du wirst nicht bestraft, aber du musst die Wahrheit sagen. Jedenfalls konnte sie den Mann erkennen, als sie ihn durch ein Guckloch in der Tür sah. Wichtige Leute, die was galten, bedankten sich bei ihr, dem Kind, und Anna war ein bisschen stolz. Ob der Mann verurteilt wurde, wusste meine Mutter später nicht mehr zu sagen.

Heimkehr aus dem Krieg

Der Krieg war zu Ende. Marschmusik erklang, und Anna stand am Straßenrand, um die heimkehrenden Soldaten zu empfangen. Anders als nach dem Zweiten Weltkrieg war die Armee nicht vollständig aufgelöst und zerschlagen, sondern kehrte, zum Teil wenigstens, in einiger Ordnung zurück. Da kamen die Soldaten, vorneweg eine Reitergruppe. Und wer kam dort, hoch zu Ross, gleich in der ersten Reihe? Ein Soldat ergriff sie und setzte sie vor ihren Vater auf das Pferd. Und so hielten sie Einzug ins Dorf.

Bei aller Freude nahm sie aber auch das Leid der vielen Kinder wahr, deren Väter nicht zurückgekehrt waren. Und wie in allen Orten in Deutschland, Belgien, Frankreich und anderswo wurden Gedenksteine errichtet mit den endlosen Namenslisten gefallener junger Männer. Die Geschichte seiner Rückkehr hat sie immer mit großer Erschütterung und tiefster Bewegung erzählt. Noch nach Jahrzehnten kippelte ihre Stimme und die Tränen traten ihr in die Augen. Was hatte dieser Krieg gebracht? In der Heimat, auch auf dem Lande, hatte es Hunger und Not gegeben. Jede Familie war von toten Angehörigen betroffen, wenn nicht der Vater oder Bruder, dann der Onkel oder Cousin, die vermeintlich für die Ehre des Vaterlandes gestorben waren. Es gab auf allen Seiten einen ungeheuren Blutzoll. Die politischen Führungen hatten katastrophal versagt und es so weit kommen lassen, dass die jungen Männer auf allen Seiten massenhaft vor die feindlichen Maschinengewehre und in den Granatenhagel der Kanonen getrieben wurden. Millionen Tote und körperlich und seelisch Verletzte waren die Folge. Anna war nun zehn Jahre alt, da bekam sie mit, was in der großen weiten Welt und in ihrer Heimat geschah. Das sollte sie nie vergessen.

Jugend auf dem Dorf

Trotz ihrer umschatteten Kindheit war Anna ein fröhlicher Mensch. Sie hatte Freundinnen, ging gerne tanzen und freute sich des Lebens. Eine anhaltende Bitterkeit kam erst mit dem Alter. Von der Tatsache, dass sie alt und älter wurde und absehbar sterben würde, war sie sehr überrascht. An so etwas, dass man nämlich unerbittlich dem Tode näherkommen und der Körper einen noch davor nach und nach im Stich lassen würde, hatte sie in ihrer Jugend nicht geglaubt. Aber so ist es doch. Oder?

Bis dahin sollte es noch viele Jahrzehnte dauern. In Ehreckes Gasthof nahm sie am Sonntagnachmittag-Tanztee teil. Als sie älter wurde, ging es schon Samstagabend los. Sie war eine begehrte Tänzerin, hübsch und in allen Tänzen perfekt. Sie war geradezu umschwärmt, und nach dem Tanz am Samstagabend kehrte sie mit allerlei Mitbringseln heim, die ihr die jungen Männer geschenkt hatten. Sie packte ihrer Mutter die Beute aufs Bett, Schokolade und Pralinen, manchmal auch eine Flasche Sekt. Die Mutter hörte sich gerne an, was Anni erlebt hatte. Anni war hübsch, hatte eine gerade schmale Nase, nicht zu klein, nicht zu groß, und ein fein geschnittenes Gesicht. Ihre Haare trug sie in Bubikopf-Manier. Am Wochenende knatterte man über die Dörfer, Anni hinten drauf auf dem Motorrad desjenigen Partners vom Tanzboden, der wegen dieses wunderbaren Gefährtes zu ihrem Lieblingstänzer avancierte. Welch eine Lust, auf diese Art die Grenzen der Feldmark zu überwinden! Die Haare flatterten im Wind, die Hühner stoben zur Seite, manchmal auch die Menschen. Ob sie nicht Angst hatte vor Unfällen, die es auch damals gab? Und ob die Leute sich nicht erschraken, wenn das windschnelle knatternde Gefährt sie umzufahren drohte? „Das war uns doch egal, wir dachten nur an unser Vergnügen“, entgegnete sie auf meine Frage. Damit hatte sie klar erkannt, was als ein Merkmal der Jugend gelten konnte: eine gewisse Unbekümmertheit, wenn nicht gar Rücksichtslosigkeit. Aber das war meiner Mutter ja ganz egal, damals, als sie jung war. Das hatte sie bis ins hohe Alter nicht vergessen. Sie wäre gerne noch einmal jung gewesen. Und würde vieles anders machen. Mit dem Motorrad würde sie liebend gerne noch einmal über die Dorfstraßen und Landstraßen knattern. „Hoppla, jetzt komm ich!“, würde sie dann singen, „Alle Türen auf, alle Fenster auf!“

Dienstmädchen und Leichtmatrose

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