Читать книгу Dienstmädchen und Leichtmatrose - Anneliese Klumbies - Страница 5

2. Der kleine große Bruder

Оглавление

Kleiner Bruder, große Schwester

"Anni, ich habe geschluhuuckt", schrie Friedrich japsend und nach Luft schnappend. Mit kräftigen Kraulstößen war Anni bei ihm und hob ihn auf den Arm. Sie trug ihn aus dem Wasser, und, während sie eine Weile in der Sonne saßen, verarbeiteten sie den Schluckvorfall. Bald dackelte Friedrich wieder seiner Schwester ins Wasser hinterher und vertraute sich ihren Armen an, die sie ihm unter Brust und Bauch schob. Er konnte und konnte sie nicht hinkriegen, die Abstimmung von Arm- und Beinbewegungen. Eines Tages stellte er fest, dass man den Kopf auch eine Weile über Wasser halten konnte, wenn man nur mit den Armen ruderte. Von da an wurde er selbstbewusster, und plötzlich merkte er dann, dass er Arme und Beine ganz richtig und im Einklang bewegte: Er schwamm, wie selbstverständlich. So einfach war das also, und sie hatten die Kosten für den Schwimmkurs gespart. Er bewegte sich bald elegant wie ein Wasserfrosch.

Je älter Anna wurde, desto mehr liebte sie ihren Bruder. Im Prinzip. Zunächst war die Einstellung gegenüber dem kleinen Wesen gelegentlich durchaus zwiespältig. Die Kleinstkindphase des Bruders war für Anni keine unbeschwerte Freude gewesen. Mit zunehmendem Alter musste sie aber weniger auf ihn aufpassen. Zuerst war es hin und wieder ein wenig lästig, mit ihm im Kinderwagen spazieren zu gehen, während die anderen Kinder Verstecken spielten oder Mutter und Kind. Wenn er schrie, hörte sich das sehr hässlich an. Die Leute guckten: Was hat er denn? Man musste reagieren, und nicht immer waren Annis Maßnahmen erfolgreich. Sprechen konnte er nicht, aber schreien, das konnte er, und dann wurde die Schwesternliebe mitunter auf eine harte Probe gestellt. Merkwürdig, dass die Mutter trotz allem so verliebt mit ihm tat. Allerdings war sein Schreien Anna manchmal auch ganz recht. Dann konnte sie der Mutter den schreienden Bruder präsentieren und sagen, sie wisse nicht mehr weiter. Die Mutter nahm ihn dann, und Anna entschlüpfte freudig in die Freiheit. Anna merkte sich das. Eines Tages aber entdeckte die Mutter lauter blaue Flecken an den Oberschenkeln des Kleinen. Anna hatte nicht bedacht, dass ihre Kniffe und Püffe Spuren hinterlassen würden. Es half kein Leugnen, es war offenbar: Anna kniff ihren Bruder ein wenig, damit dieser schrie. Wenn er schrie, konnte sie ihn bisher der Mutter zurückbringen und behaupten, er schreie schon sehr lange und sei durch nichts zu beruhigen. Diese Lösung war nun verbaut.

Vorerst wurde sie fürs Gänsehüten eingeteilt. Die Familie hatte ein paar Gänse, und die umliegenden Nachbarn auch. Die musste Anna nun zusammentreiben und zu einer Wiese geleiten. Gänse waren schöne und interessante Tiere, aber es gab unter ihnen auch solche, die Anni bissen. Das Lästigste am Gänsehüten war der Strickstrumpf, den ihr ihre Mutter mitgegeben hatte. Eine Markierung durch einen Faden sollte sichtbar machen, wie viele Runden Anni gestrickt hatte. Ein paar Runden strickte sie auch, dann hatte sie keine Lust mehr und versetzte den Faden, so dass es aussah, als hätte sie viel mehr Runden gestrickt. Ja, Anni war schlau. Aber leider war ihre Mutter auch schlau. Sie bemerkte den Täuschungsversuch, und Anna wurde geohrfeigt. Da war es schon besser, mit dem Bruder loszuziehen, weil sie dabei wenigstens nicht stricken musste.

Ihr kleiner Bruder bedeutete ihr so viel, weil er ihr vertraute. Es tat ihr wohl, jemanden zu haben, der bedingungslos an ihr hing. Das war bei ihren Eltern ja nicht der Fall. Er war sieben Jahre jünger als Anna; bei diesem Altersunterschied konnte sie eine mütterliche Variante der Schwesternrolle einnehmen. Es war schön, ihm die Welt zu entdecken, mit ihm schwimmen zu gehen, ihn zu beschützen vor bösen Kindern, mit ihm zum Kinderkarneval zu gehen in Ehreckes Gasthof. Sie nahm ihn mit zu Tante Hermine, die nun auch Friedrich in ihr Herz schloss.

Für Friedrich war Anna die große, die starke, die liebevolle Schwester. Die gelegentlichen kleinen Grobheiten trug er ihr nicht nach, als Kind hält man so etwas für die unvermeidlichen lästigen Begleitumstände des Lebens. Als sie mit fünfzehn Jahren nach Magdeburg „in Stellung“ ging, war Friedrich erst acht Jahre alt. Sie kam aber oft nach Olvenstedt zu Besuch, denn der Weg war nicht weit. Man konnte von Magdeburg aus direkt mit der Straßenbahn hinfahren.

Großer Bruder, kleine Schwester

Dann geschah etwas Außerordentliches: Ihr Bruder ging zum Gymnasium. Das war in ihren Kreisen ein ungeheurer gesellschaftlicher Aufstieg. Anni war stolz auf ihren Bruder, der auf Empfehlung der Lehrer hin ein Stipendium bekommen hatte, da mussten die Eltern zustimmen. Mit Sicherheit waren sie auch stolz auf ihren begabten Sohn. Nachdem Friedrich das Abitur gemacht hatte, entschied er sich für die Laufbahn des Berufssoldaten. Ob ihn viel Leidenschaft zu diesem Beruf hinzog, wissen wir nicht. Alle finanziellen Probleme waren mit dieser Berufswahl immerhin auf einen Schlag gelöst. Für ein Studium wären Studiengebühren zu zahlen gewesen, außerdem hätte er neben dem Studium seinen Lebensunterhalt mehr oder weniger selbst bestreiten müssen, verbunden mit einem kargen Leben für mehrere Jahre. Mit der Offizierslaufbahn war alles geregelt. Man bekam eine Besoldung, die Ausbildung, Unterkunft und Verpflegung waren inbegriffen. Die materiellen Gründe für diese Berufswahl kann man gut nachvollziehen. Seit Längerem war die Offizierslaufbahn auch für Bewerber aus kleinen Verhältnissen geöffnet. Wie mein Großvater zum Naziregime und zum Militär stand, weiß ich nicht. Vielleicht ergab er sich ins Unabwendbare, denn seine Partei, die SPD, war bereits im Sommer 1933 verboten worden. Welche Auffassungen Friedrich vertrat, ist mir ebenfalls nicht bekannt. Wahrscheinlich fing er seine Ausbildung mit 19 Jahren an, das wäre 1935 gewesen. Vielleicht musste er auch vor Eintritt in die Ausbildung noch den Arbeitsdienst ableisten.

Friedrich kam einige Male nach Hamburg, der Schwester und der schönen Stadt wegen. Als Anna 1937 endlich heiratete, wünschte sie sich als Trauzeugen natürlich ihren Bruder. Aber der Hochzeitstermin musste immer wieder verschoben werden. Annas künftiger Ehemann fuhr schließlich zur See. Schlechtes Wetter verhinderte die rechtzeitige Ankunft des Schiffes oder neue Fracht führte es in einen anderen Hafen, so dass der bestellte Termin beim Standesamt vom Matrosen Hans nicht eingehalten werden konnte. Es war einsichtig, dass ihr Bruder Friedrich als Soldat nicht immer frei bekommen konnte. Endlich schaffte es Hans an Land, und endlich fand die Hochzeit statt. Anna war traurig, dass ihr Bruder nicht bei ihrer Hochzeit dabei war. Sie hing sehr an ihm, er bedeutete ihr viel mehr als ihre Eltern. Außerdem war er jemand, auf den sie als kleine Arbeiterin stolz sein konnte, war er doch der erste in der Familie, der Abitur gemacht hatte und dazu noch Berufsoffizier bei der Flak wurde.

Und er hatte nicht nur Köpfchen, sondern er sah gut aus, und außerdem war auch noch sportlich. Mit ihm konnte man Staat machen. Groß und gertenschlank wurde er und, wie sein Vater, 192 Zentimeter lang; an seiner Seite schien Anna auf einmal sehr klein, ganze dreißig Zentimeter kleiner als er. Wenn er sie in Hamburg besuchte, fand sie seine Uniform schick. Möglichst viele Leute sollten sie mit diesem bemerkenswert gutaussehenden Soldaten erblicken. Er besuchte sie im Altenheim und später in der Großen Bergstraße, am Nobistor. Da konnte die Vermieterin aber staunen, die im Souterrain einen Lebensmittelladen betrieb! Sein gesellschaftlicher Aufstieg war auch ein Aufstieg für Anna, etwas von seinem Glanz fiel auf sie. Die Rollen der beiden von einst kehrten sich um, der Bruder wurde in einem doppelten Sinne zum großen Bruder. Die gewöhnliche Putzfrau war nun eine Putzfrau mit einem echten Offiziersbruder, verbarg sich da nicht etwas Außergewöhnliches auch in ihr? Wer in ihrer Umgebung konnte so einen Bruder präsentieren? Anna war sehr stolz. Später konnte sie dann einen Ehemann vorweisen, der erst Matrose, dann Schiffsoffizier, schließlich sogar Kapitän wurde. Und das war durchaus auch ihr Verdienst, weil sie ihren Mann zur Ausbildung gedrängt hatte.

Eine emotionale Katastrophe war es für sie, dass sie 1943 nicht zur Hochzeit von Friedrich und ihrer künftigen Schwägerin eingeladen wurde. Das war Friedrichs Entscheidung. Er wollte ihr wohl die Belastungen einer solchen Reise in Kriegszeiten nicht zumuten. Sicher, es war Krieg. Aber hätte man sie nicht einladen und ihr selbst die Entscheidung überlassen müssen, ob sie an der Hochzeit teilnehmen konnte und wollte oder nicht? So blieb für meine Mutter nur die Kränkung der nicht erfolgten Einladung.

Auf den Hochzeitsfotos ist auch der 1,92 Meter lange Vater Richard zu sehen, mein Großvater, ausgestattet mit einem mächtigen gewölbten Bauch, in Uniform. Wahrscheinlich war das seine Polizeiuniform, mittlerweile im Dienstgrad eines Hauptwachtmeisters. Neben ihm steht untergehakt seine verhärmte und freudlos dreinblickende zweite Ehefrau, unsere Stiefgroßmutter. Quer durchs Bild läuft Georg, mein ältester 1932 geborener Bruder. Er ist da um die elf Jahre alt. Von meiner Mutter ist nichts zu sehen. Meine Mutter war auch noch nach Jahrzehnten schwer erschüttert, und ihr kamen die Tränen, wenn sie davon erzählte. Die ausgebliebene Einladung entsprach dem Muster der Zurücksetzungen und Ausschließungen, die sie erfahren hatte. Jede neue Erfahrung, die zur alten Traumatisierung passte, erschütterte sie aufs Neue.

Friedrich starb im April 1945 als Hauptmann an den Spätfolgen einer Verletzung durch eine sowjetische Kugel, die ihn zu Beginn des Russlandfeldzuges 1941 getroffen hatte. Man hatte vergebens gehofft, die Kugel würde sich in der Lunge einkapseln. Anna ist nicht zur Beerdigung ihres Bruders erschienen, aber später hingefahren, als die Beerdigung vorbei war. Wegen der Kriegswirren hatte man ihn im kleinsten Kreise beigesetzt. Im Bewusstsein meiner Mutter war es so, dass man sie auch hier nicht dabei haben wollte, und sie litt noch Jahrzehnte später daran, wenn sie mir davon erzählte.

Um es zusammenzufassen: Der geliebte Bruder hat ihr, unbeabsichtigt und aus mangelnder Sensibilität, eine große Kränkung zugefügt. Er hat ihr schwarzes Lebensthema fortgeführt, nämlich nicht voraussetzungslos geliebt zu werden und deswegen Schmerz und Missachtung ertragen zu müssen. An dieser Stelle komme auch ich selbst ins Spiel. Es mutet an wie Küchenpsychologie, aber ich bin mir sicher, dass mein eigener Hang zum gelegentlichen distanzlosen Nachempfinden von fremdem Leid mit dem Leid zu tun hat, das meiner Mutter zugefügt wurde. Ich musste mir ihre eindringlichen Geschichten so oft anhören, dass sie fast zu mir gehören. Das gilt nicht nur gegenüber anderen Menschen. Kein Hund mit einem zweifelhaft aussehenden Herrchen, den ich nicht seinem Halter entreißen möchte! Kein Zoo-Eisbär im norddeutschen Raum, der meiner Fürsorge entginge! Keine Kuh, die ich auf Spaziergängen in der Feldmark nicht ansprechen und ihrer Schönheit wegen loben würde!

Dienstmädchen und Leichtmatrose

Подняться наверх