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3. Was geschah wirklich in Olvenstedt? Der 2. September 1923

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Wie konnte das passieren? Zwei Männer tot, die Bevölkerung in Aufruhr. Hatte es nicht schon genügend Tote gegeben? Der erste Weltkrieg war gerade vorbei, das Kriegselend überall sichtbar. Und Annas Vater sollte der Mörder sein? So sah es die aufgebrachte Menschenmenge, die ihn nun für seine schreckliche Tat richten wollte. Und Anna gleich mit, so befürchtete sie, als die bedrohliche Menge die Treppe zu ihrer Wohnung emporstürmte. Was war geschehen? Das ist nicht so leicht herauszufinden, wie wir noch sehen werden.

Der Reihe nach. Es war eine unruhige Zeit, fünf Jahre nach der Revolution und dem verlorenen Krieg. Die Reparationszahlungen und die Kriegsnachwirkungen lasteten schwer auf der jungen Weimarer Republik. Die Bevölkerung litt Not. (1) Die Arbeitslosigkeit war hoch, die Arbeitslosenunterstützung war niedrig und wurde ebenso wie die Löhne und Gehälter wegen der Inflation zuletzt binnen Stunden wertlos. Es gab viel Elend und viel elendsbedingte Kriminalität. Täglich berichtete die Magdeburger „Volksstimme“ aus dem Ruhrgebiet, wo schwere Auseinandersetzungen stattfanden. In Magdeburg gab es Streiks und Betriebsbesetzungen.

Ein Ordnungshüter und seine Tat

Auch Olvenstedt blieb von den Zeitumständen nicht verschont. Mein Großvater war Gemeindediener und in dieser Stellung Nachtwächter. Er übte damit eine Polizeifunktion aus und hatte auch eine Dienstwaffe. „Gemeindediener“ ist ein Beruf, den es heutzutage nicht mehr gibt. Er war gelernter Maurer, hatte sich nach dem Weltkrieg für die Stelle des Gemeindedieners beworben und sie erhalten. Die Ausbildung war nicht ohne, aber Richard Jordan schaffte es. Seine Frau Paula war ihm behilflich beim Lernen und Abhören.

Auf den Feldern gab es während der Erntezeit Diebstähle, viele Menschen hatten zu wenig Geld, um sich ausreichend zu essen zu kaufen. Kinder und Erwachsene hungerten, auch Kriegsheimkehrer, auch Versehrte. Das Hab und Gut der Bauern zu bewachen, war aber Aufgabe meines Großvaters. Damit befand er sich von Amts wegen in einem Interessengegensatz zu denjenigen Gefährten seiner Kindheit, die in ihrer Not vom Felde stahlen. Er musste sie in ihren Augen „verraten“, wenn er sie beim Raub von Feldfrüchten erwischte und machte sich damit natürlich nicht beliebt. Und er sollte für Ruhe und Ordnung sorgen. Wie weit er dann tatsächlich gehen sollte, das konnten sie sich wahrscheinlich nicht vorstellen.

Was feststeht: Zwei junge Männer waren von meinem Großvater getötet worden. Eine aufgebrachte Menge verlangte am nächsten Tag, dass er sich stellen solle und stürmte das Haus, in dem er wohnte.

Die Version meiner Mutter:

Es war Sonntag, der 2. September 1923. Ihr Vater, also mein Großvater, hatte Nachtdienst. Er ging in Begleitung seines Schäferhundes „Lotte“ auf Streife. Als er auf dem Felde zwei Diebe überraschte, wollte er sie festnehmen. Sie widersetzten sich, und mein Großvater schoss sie tot. In Notwehr, wie die spätere amtliche Untersuchung, nach Aussage meiner Mutter, ergab. In der Nacht kam er nach Hause und Anni erfuhr, was vorgefallen war. Die Mutter und ihr Bruder waren während dieser Nacht nicht in Olvenstedt, sondern auswärts zu Besuch und kamen erst anderntags zurück.

Vater und Tochter verbrachten angespannt den Rest der Nacht. Am Montagmorgen, dem 3. September 1923, waren Anna und ihr Vater noch oben im ersten Stock in der Wohnung. Als sich eine immer größer werdende Menschenmenge vor dem Haus versammelte, bekamen sie es mit der Angst zu tun. Frauen sammelten Heu und Stroh und legten es vor die Haustür. Sie wollten es wohl anzünden. Die Menge verlangte, er solle herunterkommen und sich stellen. Man bezichtigte ihn des Mordes an den beiden jungen Männern, und er solle seine Strafe dafür erhalten. Die Rädelsführerinnen, darunter die nunmehr verwitweten Ehefrauen, stürmten die Treppe hoch. Sie gelangten in die Wohnung, zerrten ihn die Treppe hinunter, schlugen und traten auf ihn ein. Er blutete schwer. Als erneut eine Meute von Frauen die Treppe hochstürmte, warf sich seine Tochter Anna die Treppe hinunter, dem Mob entgegen. Sie rettete nach ihrer eigenen Einschätzung ihrem Vater, der schwer verletzt am Fuße der Treppe lag, das Leben. Als sie dachte, sie würde jetzt selber totgeschlagen, traf die Rettung ein, nämlich eine Gruppe von Polizisten aus einem anderen Ort. Sie machten einen Weg frei, und der Arzt konnte Annas Vater notdürftig versorgen. Er wurde ins Krankenhaus transportiert. Dort stellte sich heraus, dass er zwar stark geblutet hatte, aber nicht lebensgefährlich verletzt war.

Aus der Menschenmenge, die sich auch am nächsten Tag, am 4. September, vor dem Haus versammelte, waren – immer nach ihrer Erinnerung - Rufe zu hören, dass man Anna und ihren siebenjährigen Bruder entführen und an den Beinen in der Leichenhalle aufhängen wolle. Verständlich, dass meine Mutter ob solcher Drohungen zu Tode erschrak und sie ein Leben lang nicht vergaß.

Soweit der Bericht meiner Mutter, also ihre Version. Bei meiner Mutter muss man eine starke emotionale Identifikation mit ihrem Vater und die Parteinahme für ihn voraussetzen. In ihrer Lebensgeschichte nahm der Beinahe-Lynchmord an ihrem Vater immer eine herausragende Stellung ein. Sie blieb davon überzeugt, ihrem Vater damals das Leben gerettet zu haben. Und so könnte es (in diesem Punkt) tatsächlich gewesen sein.

Zwei amtliche Versionen:

Zunächst der Bericht des Oberlandjägers Ehrling, der Richard Jordan zur Hilfe eilte. Er gibt eine ungenaue Zeugenaussage zum Hergang der Tötung der beiden Männer wieder. Es könnte sich um eine Notwehrsituation gehandelt haben, die Hinweise erscheinen aber als Rechtfertigung für tödliche Schüsse nicht sehr überzeugend. Ausführlich und detailreich wird im Bericht die Belagerung von Jordans Wohnung durch die erregte Menge, die Gewaltanwendung gegen Richard Jordan und dessen Rettung durch die Polizei geschildert. Aus der Menge werden eine Reihe Namen von (männlichen und weiblichen) „Aufhetzern“ genannt. Angesichts der zu schwachen polizeilichen Kräfte und des drohenden Risikos einer unkontrollierbaren Lage rechtfertigt der Bericht außerdem die Zurückhaltung der Polizei gegenüber der Menge, insbesondere den Verzicht auf Schusswaffengebrauch. Bemerkenswert an dem Polizeibericht ist die mangelnde Anteilnahme und Nachsicht gegenüber den Ehefrauen der beiden Opfer. Als ob sie nicht allen Grund zur Erregung gehabt hätten, werden sie mehr oder weniger als bösartige Furien hingestellt. (2)

Ein körperlicher Einsatz Annas für ihren Vater wird im Polizeibericht nicht erwähnt. Das muss nicht bedeuten, dass dieser Einsatz lediglich in der Phantasie meiner Mutter existiert hätte! Ihr war eine solche Handlung auf jeden Fall zuzutrauen, impulsiv und auch mutig, wie sie war. Die Polizei kam ohnehin erst später hinzu, und es gibt in den vorliegenden Schreiben keine Hinweise, dass Anna befragt worden wäre.

Es folgen zwei Berichte des Landrates Böttger von Wolmirstedt. Die Umstände der Tötung der beiden Männer werden nicht erwähnt, es geht in erster Linie um die Vorgänge bei der Bedrohung und Rettung Richard Jordans und um das Verhalten der Polizei während dieses Einsatzes. Er lobt in der ersten Anmerkung Richard Jordan und spricht von „Aufrührern“. In dem zweiten Bericht vom 10. Oktober 1923 übt er harsche Kritik am Oberlandjäger Ehrling und seinen Kollegen und empfiehlt ihre Versetzung. Sie seien nicht bereit gewesen, sich gegen die Menge durchzusetzen und die Einschätzung ihres Verhaltens als „Feigheit“ liege nahe. Obwohl er das nicht direkt schreibt, wirft er ihnen offenbar vor, auf den Einsatz der Schusswaffen zur Verhinderung einer eventuellen Tötung meines Großvaters verzichtet zu haben. (3) Soweit die beiden amtlichen Versionen.

Nun wieder zu den Erzählungen meiner Mutter:

Die beiden erschossenen jungen Männer beschrieb meine Mutter als Kommunisten, Tunichtgute und Taugenichtse. Sie seien auch häufiger arbeitslos gewesen. Und sie seien schon einige Male auffällig gewesen und mal beim Diebstahl ertappt worden. Die Menschenmenge, darunter auffällig viele zum Lynchmord entschlossene „Kommunistenweiber“, sei auch noch nach Tagen bedrohlich aufgetreten. Es habe Sprechchöre und an die Wand geschmierte Parolen gegeben.

Nachdem die Polizisten eingetroffen waren, wurde Anna rund um die Uhr bewacht. Meine Mutter durfte nur in Begleitung eines Polizisten auf die Straße gehen. Das war ihr nicht unangenehm, zumal es sich häufig um ansehnliche junge Männer handelte. Sie stieg in der Hierarchie der Dorfmädchen innerhalb kurzer Zeit ganz nach oben. Anni war eine bedeutende Person, denn sie wurde bewacht! Und auch noch von jungen Beamten in Polizeiuniform!

Eines Abends ging sie ohne Begleitung heim. Wie erschrak sie, als sie hinter sich Schritte hörte, Männerschritte! Unauffällig erhöhte sie das Tempo. Doch auch die Schritte hinter ihr wurden schneller. Der Verfolger holte auf, sprach Anni an: „Du musst keine Angst haben, Anni, ich bin es doch nur.“ Es war Heinz Heiland. Er war Vorsitzender der KPD in Olvenstedt. Er und ihr Vater waren Jugendfreunde gewesen. Heinz Heiland begleitete Anni nach Hause. Diese Episode hat meine Mutter gerne erzählt; der Verfolger entpuppte sich als Retter. Ihr Bild von den sonstigen Kommunisten korrigierte sie deshalb aber nicht.

Da meiner Mutter nicht für jeden Ausgang zu einer Lustbarkeit ein Polizist bewilligt wurde, musste sie häufig zu Hause Trübsal blasen. Das war nicht ihre Sache. Sie ließ sich taufen und konfirmieren, damit sie an Freizeitaktivitäten der Kirche teilnehmen konnte. Mehrere Freundinnen holten sie nun regelmäßig zu den Treffen des Jungfrauenvereins ab. Man sang, las vor, machte Handarbeiten, spielte, erzählte sich was, lachte, plante Ausflüge. Die Bewachung der elterlichen Wohnung dauerte viele Monate. Davon, dass meine Mutter von anderen Jugendlichen Feindseligkeiten wegen der Tat ihres Vaters erfahren hätte, hat sie nicht erzählt. - So weit meine Mutter.

Über die amtliche Untersuchung der Erschießung der beiden jungen Männer durch meinen Großvater habe ich im Magdeburger Landes-Archiv keine Dokumente gefunden. Degradiert worden ist mein Großvater nicht, ganz im Gegenteil wurde er nun regulärer Polizist. Wegen der anhaltenden Unruhe in der Olvenstedter Bevölkerung und um der Konfrontation aus dem Wege zu gehen, ist er nach Hötensleben, ungefähr 60 km entfernt, versetzt worden. Für meine Mutter stand immer außer Frage, dass ihr Vater in Notwehr gehandelt hatte.

Ob ihre Parteinahme gegen die Kommunisten erst durch die Umstände der Tat entstanden ist, weiß ich nicht. Ihr Vater war Sozialdemokrat. Sozialdemokraten und Kommunisten waren einander während der Weimarer Republik meist spinnefeind. Meine Mutter wird davon mit ihren beinahe fünfzehn Jahren bereits etwas mitbekommen haben. Vielleicht hat das die Aversionen gegenüber Kommunisten von vornherein geprägt. Die Frauen, die zur Gewalt aufgestachelt hatten, waren „Kommunistenweiber“. Damit war für meine Mutter die Sache ein für allemal geregelt. Es gab nichts Schlimmeres als Kommunisten. Sie verstand nicht, dass die Ehefrauen und Schwestern der Getöteten Grund hatten, aufgebracht zu sein. Sie hat das Leid der Angehörigen ausgeblendet.

Zurück zu den Taten ihres Vaters. Die unbewaffneten Opfer wurden von Annas Familie und auch vom Gericht (laut Anna Jordan) zu Schuldigen erklärt, denn sie hätten ihren Vater bedroht. Ihren Tod hatten sie sich demnach selbst zuzuschreiben. Außerdem waren sie Kommunisten. Das war vermutlich in den Augen meiner Mutter schon Verbrechen genug.

Brutalität und Rohheit waren weit verbreitet. So wird in der „Volksstimme“ vom 5. September 1923 berichtet, dass ein Landwirt wegen zweier Kohlköpfe beinahe einen Arbeitslosen erschlagen hätte, der am Verhungern war. (4) Wenn man die Nachrichten über die Not der Arbeitslosen und ihrer hungernden Kinder liest, dann gehörte Annas Familie tatsächlich zu den gut Versorgten. Ihr Vater hatte eine sichere Stellung, Arbeitslosigkeit drohte anderen, aber nicht ihm. Sie hatten ein Stück Land und hielten Schweine und Gänse. Sie waren nicht vom Hunger bedroht. Inwieweit meine Mutter die Not der schlechter Gestellten überhaupt realisierte, weiß ich nicht. Erzählt hat sie mir davon nicht, obwohl das Elend bereits vor der Türschwelle begann und für jeden greifbar und sichtbar war. Ihre wirtschaftlich gesicherte Position verführte sie dazu, die Situation der Hungernden zu verdrängen. Mit ihrem durchaus vorhandenen Gerechtigkeitssinn hätte sie bei den Felddiebstählen für die Diebe Partei ergreifen müssen. Das aber hätte die Identifikation mit ihrem Vater gefährdet, dessen Aufgabe es war, Diebe festzunehmen und der „Gerechtigkeit“ zuzuführen. Es war nicht erlaubt, auf den Feldern der Bauern zu stehlen, und es war Sache ihres Vaters, das zu verhindern. Natürlich kannten sich alle in Olvenstedt. Die Dorfbewohner kannten Richard Jordan so weit, dass sie wussten, er würde sie festnehmen. Aber erschießen?

Zur Not der Bevölkerung in Magdeburg und Umgebung habe ich einen Artikel aus der Volksstimme vom 13. November 1923 im Anhang wiedergegeben. (5)

Liest man die Polizeiberichte und die Zeitungsartikel, dann wird nicht ersichtlich, weshalb die jungen Männer sterben mussten. Der Bericht des Oberlandjägers Ehrling nennt als Grund für die Schüsse meines Großvaters, dass er „drei Schritt vom Leibe“ gerufen habe, gleich darauf seien die Schüsse gefallen. Die näheren Umstände werden nicht erwähnt, anscheinend ging es nicht um Felddiebstahl, wie es meine Mutter wiedergegeben hat. Laut Polizeibericht wollte mein Großvater lärmend auftretende Leute vor Ehreckes Gasthof „zum Schweigen“ bringen. Auch die beiden Zeitungsberichte machen nicht wirklich klug. Wir verstehen im Grunde nicht, warum Richard Jordan die beiden jungen Männer erschossen hat. Jordan wollte für Ruhe sorgen, Lärm verhindern und forderte die Streitenden auf, Abstand ihm gegenüber zu wahren. Seiner Darstellung nach taten sie das nicht. Das mussten sie mit dem Leben bezahlen. Nach der zweiten Zeitungsmeldung standen die Arbeiter aber 12 und 15 Meter von Jordan entfernt. Wegen meiner unvollständigen Recherche-Ergebnisse bleiben einige Fragen offen. (6)

Der Vergleich der Zeitungsberichte, des amtlichen Protokolles von Oberlandjäger Ehrling mit der Darstellung meiner Mutter ergibt Folgendes: Nach den Erinnerungen meiner Mutter hat ihr Vater Richard Jordan die beiden Männer auf dem Felde beim Diebstahl überrascht. Diese Version findet sich nirgendwo wieder.

Zu den Fakten:

Aus den Polizeiberichten und den Zeitungsartikeln, die mir zur Verfügung stehen, ergibt sich für mich folgendes:

(1) Laut Zeitungsbericht (6) war es das Ende eines Tanzabends im Gasthof Ehrecke in Olvenstedt. Man unterhielt sich lautstark, man stritt. Sowohl im Zeitungsbericht wie auch im Bericht des Oberlandjägers Ehrling geht es um lautstarken Streit bzw. um lautstarke Stimmen. Jordan wollte für Ruhe sorgen.

(2) Die lautstark sich Unterhaltenden sollten meinem Großvater nicht zu nahe kommen („drei Schritt vom Leibe!“ ( 2 u. 6).

(3) Nach Darstellung meines Großvaters haben sie nicht den geforderten Abstand gewahrt. Das war für ihn Grund genug, sie zu erschießen, erst den einen, dann den zweiten.

(4) Über eine Bewaffnung der Erschossenen ist nirgendwo etwas erwähnt. Die amtlichen Stellen hätten es sich kaum nehmen lassen, darauf hinzuweisen, weil dadurch die Bedrohung für Richard Jordan umso größer erschienen wäre. Man kann also davon ausgehen, dass sie unbewaffnet waren.

Spätes Nachspiel

Viele Jahre später, ich war vielleicht 17 Jahre alt, also muss es um 1962 gewesen sein, überraschte mich mein Großvater im Verlauf eines Besuches mit dem folgenden Bekenntnis: Das Gerichtsurteil, also seine Freisprechung, sei falsch gewesen. In Wirklichkeit hätten ihn die jungen Männer nicht bedroht. Ich weiß nicht mehr, ob er auch sagte, warum er trotzdem geschossen hat. Ich weiß nicht mehr, ob ich nachgefragt habe. Dass er mir gegenüber seine Untat eingestanden hat, weiß ich aber genau. In vorgerücktem Alter, wenige Jahre vor seinem Tod, war ihm das offenbar ein Bedürfnis.

Meiner Mutter habe ich es erzählt, aber sie wollte es nicht glauben. Ein wesentlicher Pfeiler des Gebäudes ihrer Lebensgeschichte wäre für sie eingebrochen. Schließlich hatte sie ihren Vater vor dem mordbereiten Mob gerettet. Wenn ihr Vater tatsächlich aus unbeherrschter Wut die beiden jungen Männer, die er ja gut kannte, umgebracht hätte, wäre der Zorn der Bevölkerung doch verständlich gewesen. Ihre Bewertung des damaligen Geschehens wäre komplett falsch gewesen. Meine Mutter konnte nicht zulassen, dass ihr Vater als Identifikationsfigur ausfiel.

Warum sollte mein Großvater geschossen haben, ohne ausreichenden Grund? Auch der Bauer, der beinahe einen Arbeitslosen getötet hätte, weil der zwei Kohlköpfe stehlen wollte, hatte keinen ausreichenden Grund. Annas Vater konnte sehr hart zu untergeordneten Mitmenschen sein; schon sein eigener Vater, Annas Großvater, war sehr hart, auch zu den eigenen Kindern. Erst zu seiner Enkelin Anna entwickelte er eine liebevolle Beziehung.

Die familiären Beziehungen waren damals häufig von Unterordnung und Strenge geprägt, die Schwelle vor der Gewaltanwendung war niedriger als heutzutage. Außerdem hatten der Weltkrieg und die Bürgerkriege danach zur Gewöhnung an Gewalt beigetragen.

Wenn man durch die Zeitungen des Jahres 1923 blättert, begegnet man ungeheurem Leid und niederschmetternden Schicksalen. (7) Mein Großvater gehörte nicht zur Gruppe der Verhungernden. Gerne bewachte er die Felder der Bauern vor Dieben. Er war bewaffnet mit einem scharfen Hund und einem Revolver. Zur Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung und zum Schutz des Eigentums durfte er notfalls Gewalt anwenden und sogar töten. Es gibt Menschen, die Befriedigung darin finden, anderen ein Leid zuzufügen. Bei manchen schließt das die Tötungsbereitschaft ein, wenn sich eine Gelegenheit bietet und die Hemmschwelle fällt. Andere neigen zum Jähzorn und verlieren manchmal die Selbstkontrolle.

Ich weiß keine Erklärung für das Handeln meines Großvaters. Ich habe versäumt, ihn genauer zu befragen. Ich weiß aber, dass er ein harter, gewalttätiger Mann sein konnte. Bestimmt hatte er seine weichen Seiten, vor allem für seinen Sohn und seinen Enkel. Ein wenig wohl auch für Anni, seine „Kleine“, aber für sie reichte es nicht. Sie wurde benachteiligt, missachtet und aus dem Haus geschickt.

Mein Großvater hat zwei junge Männer totgeschossen und Leid über ihre Ehefrauen, ihre Familien und ihre Freunde gebracht. In den mir zur Verfügung stehenden Dokumenten finde ich keine überzeugende Rechtfertigung. Wenn seine beiden Opfer ihm zu nahe gekommen sein sollten, selbst wenn sie ihn am Ärmel gepackt hätten (wofür es keine Aussagen und Hinweise gibt), wäre das kein Grund zur Liquidierung gewesen. Sein spätes Schuldeingeständnis mir gegenüber hat meine Zweifel bestätigt.

Ich kann mir jetzt erklären, warum bei einem Besuch meiner Mutter in den fünfziger Jahren in Olvenstedt die Schrift „Jordan – Mörder“ an der Wand stand. Und ich verstehe, dass das aus Sicht der Angehörigen und Freunde der Opfer die Wahrheit ist. Meine Mutter war darüber sehr erschrocken. Dass die Schreiber vielleicht recht hatten, das konnte sie sich nicht vorstellen. Die Verjährung für Mord wurde 1979 aufgehoben. Wahrscheinlich wäre die Tat als Totschlag, vielleicht als fahrlässige Tötung eingestuft worden. Mein Großvater starb im Jahre 1967. Übrigens ist er nach seiner Tat befördert worden. Als er aus dem Dienst schied, war er Polizeihauptwachtmeister.

Das Ereignis von 1923 finde ich bedrückend. Wer hat so etwas schon gerne in seiner Familiengeschichte!

Dienstmädchen und Leichtmatrose

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