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4. Die Perle Anna

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Was tun?, fragte sich Anna, als sie mit 14 Jahren die Schule verließ. Ihre Eltern ermöglichten ihr keine Ausbildung. Anna wäre gerne Schneiderin oder Krankenschwester geworden. Während der Ausbildung hätte Anna kein Geld verdient. Ihre Eltern hätten sie weiter durchfüttern müssen. Hatten sie das nicht schon 14 Jahre lang getan? 14 Jahre waren genug! Zudem hätten die Eltern möglicherweise dem Lehrherrn Geld bezahlen müssen. So war das damals. Sie würde ja später durch den Ehemann versorgt sein. Ganz sicher waren sich die Eltern aber nicht, denn Anna hatte ja diese Schuppenhaut. Andererseits wusste man ja: Auf jeden Topf passte ein Deckel. Und auf dem Tanzboden in Ehreckes Gasthof Samstagabends und Sonntagnachmittags blieb Anna nie sitzen.

Hinzu kamen Abneigungen und Vorlieben von Anna selbst. Anna hatte keine große Auswahl: Sie konnte Landarbeiterin werden oder Fabrikarbeiterin. Oder aber sie konnte als Dienstmädchen in Stellung gehen. Sehr viele junge Frauen waren damals noch in Privathaushalten beschäftigt. Angelernte Fabrikarbeiter wurden in Annas Kreisen, obwohl man selbst der Arbeiterschaft angehörte, als nicht ganz ebenbürtig angesehen, sie galten als ungehobelt und zu Aufruhr und Lärm neigend. Das Leben als Fabrikarbeiterin hatte für Anna etwas Abschreckendes. Die Frauen, die sie kannte und die in der Fabrik arbeiteten, gehörten zu den ganz einfachen Leuten und wussten sich nicht immer zu benehmen. Auch innerhalb der Arbeiterschaft gab es eine Hierarchie und Unterschiede. Gelernte Handwerker und Facharbeiter standen oben. Anna hatte früh eine Neigung zum Höheren, zu feinerem Benehmen, zu schönen Dingen. Außerdem waren viele Arbeiter, auch Fabrikarbeiterinnen, Kommunisten. Und die hatte Anna ja nun kennengelernt. Mit diesem Milieu wollte Anna nichts zu tun haben. Als Fabrikarbeiterin wäre sie besser bezahlt worden und hätte mehr Freizeit gehabt als im Privathaushalt. Als Haushaltsangestellte bewegte man sich aber in einer sozial gehobenen Umgebung, und es würde ihr besser ergehen, nahm sie wohl an. Ihren Eltern, die es genauer wissen mussten, war es egal. Außerdem war man sie als Dienstmädchen in einem fremden Haushalt erst einmal los.

Noch verhasster als Fabrikarbeit war Anna die Landarbeit, denn die hatte sie schon als Kind kennengelernt. Sie war schmutzig, schwer und schlecht bezahlt. Die Feldarbeit als Kind und Jugendliche nachmittags nach der Schule und in den Kartoffelferien im Herbst hatte Anna gereicht. Die Erde war tief in die Risse und Schründe ihrer rauhen Haut gedrungen, wenn sie auf den Knien die Furchen entlangkriechen musste, um Rüben zu verziehen oder Kartoffeln aufzusammeln. (1) Außerdem bluteten die aufgerissenen Hautstellen. Der Rücken schien ihr durchzubrechen. Bequem waschen konnte sie sich anschließend nicht, denn eine Dusche oder Badewanne gab es zu Hause nicht. Anna war zornig auf ihre Eltern für diese Fronarbeit. (2)

Die Tradition der Kinderarbeit auf dem Lande, aus der einstigen harten Armut erklärlich, die Lieblosigkeit gegenüber Anna und der besondere Geiz der Eltern waren mächtiger als die sozialdemokratischen Ideale, zu denen sich die Eltern andererseits auch schon oberflächlich bekannten. Dieses Kind kam nicht gelegen. Wenn man es arbeiten schickte, lag es weniger auf der Tasche und machte sich nützlich. Je früher, desto besser. Sonst hätten sie sich nach ihren eigenen Vorstellungen zu sehr einschränken müssen, denn in den mächtigen Leib ihres Vaters sollten weiterhin viele Schweinebraten, Gänse, Koteletts, „Snuten und Poten“ (3), Butterkuchen, Biere und Schnäpse einfahren können.

Anna arbeitete das erste Jahr nach der Schulentlassung beim Bauern Scharping in Olvenstedt als Kindermädchen. Da war sie vierzehn Jahre alt. Zwar wurde sie auch zu Küchenarbeiten herangezogen, aber hauptsächlich war sie für die Unterhaltung und Beaufsichtigung der Bauernkinder zuständig. Sonnabends ging sie mit einem Paket Wurststullen nach Hause, das war neben freier Kost ihr Lohn, obwohl es zu Hause eigentlich nicht an Essen mangelte. Anna fühlte sich trotzdem geehrt, auf Tuchfühlung mit den wohlhabenden Bauernfamilien zu leben, galten die doch als etwas Besseres als die Landarbeiter und Fabrikarbeiter, die im Dorf nicht weit von der großen Stadt Magdeburg entfernt lebten. Die männlichen Verwandten von Anna waren gelernte Bauhandwerker. Sie hatten es zu bescheidenem Wohlstand gebracht. Fast alle Familien besaßen ein Häuschen, das sie sich in gegenseitiger Hilfe errichtet hatten. Nur ihre Eltern wohnten in einer Mietwohnung. Anna wollte nun aber endlich bares Geld verdienen, und sie wollte fort von den Eltern, dem Dorf, den Feldwegen und dem Geruch der Landarbeit. Nur für Wurststullen Kinder beim Bauern hüten, das war auf die Dauer zu wenig. Da gab eine Schulfreundin ihre Stellung auf und bot sie Anna an. Annas Eltern waren einverstanden. So waren sowohl Anna wie auch ihre Eltern froh, sie im nahen Magdeburg „in Stellung“ zu wissen.

Magdeburg

Für 15 Mark im Monat plus Kost und Logis durfte Anna nun den Haushalt von Frau Dr. Lünenburg in der Großstadt Magdeburg in Ordnung halten, für sie kochen, den Kaffeetisch decken, wenn die Freundinnen erschienen und dem Sohn das Essen zubereiten, wenn er zu Besuch kam, sofern die Hausherrin das nicht selber übernahm. Für den Sohn war ihr nichts gut genug. Frau Dr. Lünenburg besaß eine geräumige Fünfzimmerwohnung im Zentrum Magdeburgs. Sie war eine freundliche ältere Dame, ihr Sohn war Generalvertreter für die Firma „Trumpf“ (Schokolade). Ab und zu kam er nach Hause und ließ sich verwöhnen. Dann durfte Anna die besten Filetstücke beim Schlachter holen, und Frau Dr. Lünenburg bereitete sie mit feinen Gemüsen und Soßen zu. Wenn Anna der Geruch in die Nase stieg, hätte auch sie gerne zugelangt. Immerhin ließ ihr der Sohn ab und zu mal eine Tafel Trumpfschokolade zukommen. Anna bewältigte die Hausarbeit. Es gab damals für den Normalhaushalt noch keine Staubsauger, dafür mechanische Teppichroller, die den sichtbaren Schmutz beseitigten. In den 50ern hatten auch wir noch ein solches Exemplar. Als Dienstmädchen musste meine Mutter täglich das Frühstück bereiten, die Wohnung reinigen, im Winterhalbjahr den Kohleofen befeuern, alle paar Tage die „kleine Wäsche“ machen. Nicht zu vergessen der große Hausputz im Frühjahr. Dann musste Anna die großen Teppiche aufrollen und dabei helfen, sie in den Hof zum Ausklopfen zu schleppen. Ein Großteil der Hausarbeit war damals Schwerarbeit. Man denke nur an die Wäsche: Wäsche kochen, sie auf dem Waschbrett traktieren, ruffeln, reiben, wringen, viele Male spülen, wringen, in die Wanne und zum Trockenplatz schleppen, die Wäsche aufhängen, wieder abnehmen, stärken, bügeln, mangeln, ordentlich zusammenlegen, im Schrank ordentlich unterbringen. Die große Wäsche wenigstens wurde außer Haus gegeben, und Anna bekam die schrankfertige Bettwäsche zurück. Das alltägliche Kochen erledigte Anna, den feineren Küchenkünsten widmete sich Frau Dr. Lünenburg persönlich. Raffiniertere Gerichte und Saucen zu bereiten, war eine Kunst der bürgerlichen Küche, damit hatte man sich im normalen kleinbürgerlichen Elternhaus nicht abgegeben. So durchschnittlich war Annas Elternhaus aber keineswegs. Ihre Mutter Paula Busch hatte im Harz als Köchin gearbeitet und beherrschte die gehobene bürgerliche Küche. Die aber hatte sie ihrer Tochter nicht beigebracht. Bei Frau Dr. Lünenburg durfte Anna zuschauen und lernte einiges davon fürs Leben. Mein Vater wusste das später zu schätzen.

Frau Dr. Lünenburg war Anna zugetan. Ihre Tochter war gestorben, als sie ungefähr so alt war wie Anna jetzt, also mit etwa sechzehn-, siebzehn Jahren. Das lag noch nicht lange zurück, und Frau Dr. Lünenburg litt immer noch sehr am Verlust ihrer Tochter. Anna war für sie ein kleiner Tochterersatz. Wie bei Tante Hermine fiel ihr also eine Rolle als Stellvertreterin zu. Und so hatte Anna es alles in allem gut. Frau Dr. Lünenburg erfreute sich an der guten Laune, der freundlichen Art und an Annis Lebenslust. Es tröstete sie, ein fröhliches junges Wesen im Hause zu haben. Zwar war die damit verbundene Erinnerung an ihre eigene Tochter schmerzlich, aber vorrangig war Anna für sie ein Trost. Frau Dr. Lünenburg schenkte ihr eine Halskette und ein Armband mit Granatsteinen, die ihrer Tochter gehört hatten. Anna fühlte sich nicht nur reich beschenkt, sondern auch hoch geschätzt. Ein einfaches Dienstmädchen erhielt so wertvolle Schmuckstücke! Wertvoll allein schon wegen der Erinnerung an die so früh verstorbene Tochter. Anna fühlte sich von Frau Dr. Lünenburg erhoben, aufgewertet, fast als wäre sie die Tochter. Hatte sie je etwas Schönes und Wertvolles von ihren Eltern geschenkt bekommen?

Meine Mutter beschrieb mir das Armband später immer sehr genau; die Steine waren in Gold gefasst, und es war mit einem niedlichen Sicherungskettchen versehen, damit man es nicht verlieren konnte. Im Bombenkrieg in Hamburg ging es verloren, es zerschmolz in der Glut der Flammen. Aber meine Mutter vergaß es nicht, dieses kostbare Geschenk. Später, als ich mit siebzehn Jahren Geld als Telefonistin verdiente, schenkte ich ihr eine Kette und einen Ring aus Granatsteinen. Nach Jahren kam ein altes Granatarmband mit einem hübschen Sicherungskettchen hinzu, das ich in einem antiquarischen Schmuckgeschäft erworben hatte. Darüber hat sie sich sehr gefreut, beinahe war der Verlust aus dem Jahre 1943 vergessen.

Anna bediente gern beim Kaffeeklatsch. Die Freundinnen ihrer Dienstherrin nannten sie „die Perle von Frau Dr. Lünenburg“, oder „Frau Doktor ihre Perle“. Sonntagnachmittag hatte sie frei. Da ging es zum Tanz in die Düppler Mühle. Bei schönem Wetter konnte man auch draußen sitzen.

Sie tanzte für ihr Leben gern. Wenn der Leierkastenmann vor dem Küchenfenster aufspielte, tanzte Anna mit dem Besen oder dem Teller, den sie gerade abtrocknete. Sie sang dazu mit ihrer bemerkenswert schönen Stimme. Auch ihre Mutter hatte eine schöne Altstimme. Anna wäre gerne schon am Samstagabend tanzen gegangen, aber das erlaubte ihr Frau Dr. Lünenburg nicht. Anna war schließlich unter 21 Jahre alt und damit noch nicht volljährig. So musste sie sich mit dem Dienstmädchen-Tanztee begnügen. Anna wurde immer aufgefordert, sie war hübsch und gut gelaunt.

Mit Bauchschmerzen kündigte Anna, als sie eine Stelle mit mehr Salär und Freizeit bekommen konnte. Sie kam sich treulos vor und musste teuer bezahlen. Um ein Haar wäre ihre Geschichte so ausgegangen wie in den damaligen Küchenliedern. Es passierte ihr, was so vielen jungen Mädchen „in Stellung“ passierte. Die neue Dame des Hauses behandelte sie zwar freundlich. Wie Anna aber bald klar wurde, war sie für den Ehemann eingestellt worden. Der schätzte junge Mädchen, und seiner Frau war es ganz recht, wenn er statt ihrer die Dienstmädchen belästigte. Er war pensionierter Major und verhielt sich charmant gegenüber Anna. Annas Kammer war oben auf dem Dachboden untergebracht. Es gab keinen Ofen, im Winter gefror das Wasser in der Waschschüssel und die Bettdecke klebte vom gefrorenen Atem an ihrem Mund. Man konnte die Kammer nicht abschließen, aber da Anna in dieser Hinsicht ängstlich war, stellte sie immer einen Stuhl mit der Oberkante der Lehne unter die Türklinke, so dass die Tür von außen nicht zu öffnen war. Eines Nachts wurde sie wach. Jemand versuchte einzudringen. Langsam wurde die Türklinke heruntergedrückt. Anna erstarrte. Als sie um Hilfe rief, verstummten die Geräusche, und schwere und gleichzeitig behutsame Schritte entfernten sich.

Am nächsten Morgen war die Hausherrin sehr ungehalten zu Anna. Anna wusste nicht, womit sie das verdient hatte. Sicher, sie hatte die Kaffeekanne zerbrochen. Der Preis wurde ihr aber vom Lohn abgezogen, so dass das kein Grund sein konnte, ernsthaft mit ihr zu hadern. Als der nächtliche Vorgang sich wiederholte, wurde Anna allmählich klar, wer da Einlass begehrt hatte. So naiv war sie nicht mehr. Mit ihrer Freundin überlegte sie sich einen Fluchtplan. Einfach zu kündigen, wäre ihr peinlich und unangenehm gewesen. Es gelang ihr, den Koffer am frühen Morgen herunterzuschaffen und in einem Kellergelass unterzustellen. Am Bahnhof erkundigte sie sich nach den Abfahrtzeiten der Züge, und so ging sie eines Abends noch einmal vor die Tür, um einen Brief einzustecken, wie sie sagte. Mit dem frankierten Brief in der Hand wedelnd, verließ sie das Haus. Als es dunkel war, holte sie den Koffer, eilte zum Bahnhof, die Treppen hoch, und erreichte schnaufend den Zug. Als er abfuhr, warf sie sich in den Sitz. Sie fühlte sich gerettet. Die Eltern wunderten sich, dass die Tochter vor der Tür stand, als so spät noch jemand Einlass begehrte. Sie sahen sofort ein, dass die Tochter recht getan hatte. Der Vater schrieb an den Major und verlangte die Herausgabe der Papiere. Es stellte sich heraus, dass dieser ehrenwerte Arbeitgeber keine Sozialabgaben geleistet hatte. Weder waren Beiträge für die Rentenversicherung geleistet worden noch war Anna krankenversichert. Dass der Herr Major im Ruhestand versuchte, sich an die junge Hausangestellte heranzumachen, fand auch die Frau Gemahlin völlig in Ordnung. Es kam in vielen bürgerlichen Häusern vor, dass die Dienstmädchen genötigt oder überredet wurden, den Herren des Hauses oder den heranwachsenden Söhnen als Bettgefährtin zu dienen. Häufig war die Unerfahrenheit der jungen Mädchen leicht auszunutzen, so dass sie sich vielleicht sogar geschmeichelt fühlten oder an Heiratsversprechungen glaubten, wenn jemand aus „besseren“ Kreisen sie begehrte. Wurde das Dienstmädchen schwanger, entließ man es in der Regel. Manchmal wurde geholfen, das neugeborene Kind wegzugeben oder irgendwo unterzubringen. Anna entging diesen Gebräuchen, und ihr Vater erreichte es dank seiner Autorität als Polizist und dank der von der Mutter aufgesetzten Schreiben, dass die Sozialabgaben nachgezahlt wurden.

Frankfurt an der Oder

Ein paar Wochen spielte Anna wieder Kindermädchen beim Bauern. Dann fuhr sie nach Frankfurt an der Oder. Vor dem Zweiten Weltkrieg war das eine schöne Stadt. Die Familie mit zwei Kindern war freundlich zu ihr und nutzte ihre Arbeitskraft nur auf die übliche Weise aus. Der Hausherr war ein hoher Kriminalbeamter. Im Bücherschrank standen etwas verdeckt am Rande dicke Folianten. Es wurde ihr verboten, diese dicken Bände herauszunehmen. Natürlich gebot ihr die Neugier, genau das zu tun, und das umgehend und sofort bei der nächstbesten sich bietenden Gelegenheit. Die Eltern waren eingeladen zu einer festlichen Soirée, die Kinder schliefen tief. Anna wollte es sich wenigstens gemütlich machen, bei einem Schinkenbrot, heißem Assam-Tee und den verbotenen Bänden. Sie merkte sich genau, wie die schweren Bücher im Schrank standen, und hievte sie heraus. Wie groß war ihr Erschrecken, als sie sie aufschlug! Es waren Bildbände, die scheußliche Verbrechen dokumentierten. Es gab jede Menge abgetrennter Körperteile zu besichtigen, plus der Tatorte und der entstellten Gesichtszüge der Leichen. Und die Gesichter der Täter. Es gab auch ein paar Frauengesichter darunter. Giftmord, hieß es dann! Die Opfer, die so grausam zerstückelten Leichen, waren meist Frauen. Aber es gab auch den auf Jungen und junge Männer spezialisierten Massenmörder Haarmann, der 1924 hingerichtet worden war. An die Zeitungsberichte und die öffentliche Erregung konnte sie sich gut erinnern. Und an die häuslichen Gespräche beim Abendbrottisch, das war noch nicht lange her. Jetzt konnte sie Bilder der Leichen bzw. Leichenteile sehen, in aller Deutlichkeit und in hoher Auflösung, wie man heute sagen würde. Da ging die Tür. Früher als erwartet kamen die Eltern zurück und sie hörte sie auf dem Flur rumoren, wo sie die Garderobe ablegten. In Windeseile stellte sie die Bände an ihren Platz zurück, schloss den Bücherschrank und trank Tee. Sie musste das Arbeitszimmer verlassen, denn der Schein der Lampe verriet den Eltern, wo Anna sich aufhielt. Schnell dachte sie sich eine Ausrede aus: Sie habe nur das Licht ausmachen wollen, das aus Versehen im Arbeitszimmer angeschaltet gewesen sei. Dabei verhaspelte sie sich und wünschte mit zitternder Stimme eine gute Nacht. Lange konnte sie nicht einschlafen. Der Kriminaloberrat merkte mit seinem geschulten Blick sofort an Annas verändertem Verhalten, dass ihre Wissbegierde über das Verbot gesiegt hatte. Solche schrecklichen Bilder hatte Anna noch nie gesehen. Sie fürchtete sich sehr, wenn sie alleine im Hause war. Die schlafenden Kinder zählten nicht als Beschützer. Noch ein paar Male aber konnte sie der Versuchung nicht widerstehen, sich die entstellten Leichen anzusehen. Bis der Kriminaloberrat ihr auf den Kopf zusagte, sie hätte sich wohl die verbotenen Bilder angesehen. Ein wenig konnte sie sich das Grauen von der Seele reden.

Im hohen Alter meiner Mutter ließ ich einmal ein Buch des kritischen deutsch-jüdischen Philosophen Theodor Lessing über den „Fall Haarmann“ bei ihr liegen. Lessing wurde im tschechoslowakischen Exil ein frühes Mordopfer der Nazis. Ich vergaß das Buch und fand es später bei ihr wieder – völlig zerlesen und abgegriffen. Ich hatte offenbar unwissentlich ihre alte Leidenschaft wiedererweckt.

Anna hätte aus der Begegnung mit dem Grauen lernen können, das Leben – ihr Leben – ganz besonders zu schätzen. Das aber tat sie nicht. Sie freundete sich mit einem sympathischen jungen Mann an. Monate später kam heraus, dass er bereits verlobt oder gar verheiratet war. Es kam zur Trennung, und Anna war zutiefst verletzt. Sie wollte nicht mehr leben und drehte am Küchenherd die Gashähne auf. Die Hausfrau fand sie rechtzeitig und Anna wurde ins Krankenhaus gebracht. Es konnte verhindert werden, dass Annas Schicksal den Text für eine Dienstmädchen-Moritat abgab, obwohl sie nahe daran gewesen war. Die evangelischen Krankenschwestern kümmerten sich liebevoll um sie. Anna fand aufmerksame und geduldige Zuhörerinnen und sprach sich ihren Kummer von der Seele. Man tröstete sie, und man malte gemeinsam mit ihr eine schöne Zukunft aus. Was könnte nicht noch alles geschehen? So viele Orte, so viele Menschen würde sie noch kennenlernen. Sie könne sogar im Krankenhaus bleiben und Diakonissin werden! Einerseits fand sie das verlockend, schließlich wollte sie ja einst Krankenschwester werden, andererseits war sie schon wieder so weit obenauf, dass sie dann doch lieber auf ein freieres Dasein und eine neue Liebe als auf ein Leben ohne Tanznachmittage hinter Kloster- bzw. Krankenhausmauern hoffen wollte. Sie wusste damals nicht, und die Diakonissen klärten sie auch nicht deutlich genug darüber auf, dass man aus dem Schwesternkonvent durchaus wieder ausscheiden, heiraten und Kinder kriegen konnte. Zu ihren Eltern wollte sie nicht zurück; sie hatte sie über den Selbstmordversuch und ihre Verzweiflung auch nicht informiert.

Anna kam auf die Idee, in die Stadt zu ziehen, die sie schon mal vor ein paar Jahren besucht hatte. Das war die schöne große Hafenstadt Hamburg. Dort wohnte der Bruder ihrer Mutter, Onkel Franz mit Tante Amanda. Die beiden waren während ihrer Kindheit einige Male zu Besuch in Magdeburg gewesen und hatte ihr die wundervollsten Geschenke mitgebracht. Sie selbst hatten keine Kinder.

Hamburg Grindelviertel

Hamburg sollte also ihre neue Heimat werden. Anna hatte Hamburg mal zusammen mit ihren Eltern besucht und auch eine Barkassenfahrt im Hafen gemacht. Während ihr Vater mit seinem imponierenden Körpervolumen sich ängstlich und krampfhaft an die Reling klammerte, geriet Anna in Begeisterung über den Anblick der schönen großen Schiffe. Vereinzelt gab es noch Segelschiffe zu bestaunen. Anna fand jedes Schaukeln der Barkasse toll. Das war mal was anderes als in Magdeburg Straßenbahn zu fahren. „Wasser hat keine Balken“, wusste ihr Vater. Aber das war ja das Aufregende. Wasser, und auch noch Wellen, und auf dem Wasser Anna. Das war ihr Element. Im Gegensatz zu ihrem Vater konnte sie ja schon als Kind schwimmen. Anna schrieb an Onkel Franz und Tante Amanda und fragte an, ob sie ihr behilflich sein könnten, eine Arbeitsstelle zu finden. Dazu waren beide gerne bereit. Bis eine Stellung gefunden war, könne sie bei ihnen wohnen. Eines Tages machte Anna sich mit dem Koffer auf den Weg. Am Hamburger Hauptbahnhof holte Tante Amanda sie ab. Es ging zur U-Bahnhaltestelle St. Pauli, dann eine Station mit dem Bus die Reeperbahn entlang. Diese berühmte Straße kannte Anna nicht, natürlich hatte sie aber schon davon gehört.

In Hamburg gingen sie zusammen zum Arbeitsamt. Mit ihrer Vorbildung und bisherigen Berufspraxis landete sie bei der Stellenvermittlung für Dienstmädchen. Auch in Hamburg war das damals noch ein verbreiteter Beruf für junge Frauen. Anna hatte Glück. Sie bekam eine Stelle bei einer jungen Familie in der Hallerstraße 4 oder 6. Es gab ein kleines Kind, ein Mädchen namens Henriette, knapp zwei Jahre alt. Die Kleine hatte am selben Tag wie Anna Geburtstag. Anna mochte nicht nur Tiere, sondern auch kleine Kinder. Und in dieses kleine Mädchen verliebte sie sich im Handumdrehen. Anna war von Henriette entzückt, und die Eltern waren wiederum von Annas Liebe zu ihrer Tochter entzückt. Wenn sie miteinander herumtollten, weil die Eltern außer Haus waren, dann quietschten und quiekten sie um die Wette. Sie spielten Verstecken und schlugen Purzelbäume, sie waren Hund und Katze und Esel und Pferd, Henriette musste die Tiere erraten und selber ein Tier sein. Vorhänge waren gut zum Verstecken und Erschrecken geeignet. Über das Sofa hinweg und unter die Stühle hindurch fand die wilde verwegene Jagd statt. Dann verkleidete sich Anna, zog den Mantel des Vaters über und setzte den Hut der Mama auf. Henriette ließ sich aber nicht täuschen. Sie bemerkten gar nicht, dass die Eltern zurückgekommen waren und still vergnügt in der Tür standen. Nun bestätigte sich für sie, was sie schon geahnt hatten und weswegen sie Anna genommen hatten: Dieses junge Mädchen mochte ihre Tochter, sie wussten sie bestens bei ihr aufgehoben.

Der Mann war erfolgreicher Rechtsanwalt, die Ehefrau repräsentierende Dame des Hauses. Häufig hatte man Gäste, es gab Empfänge, bei denen wichtige Repräsentanten der Stadt erschienen. Anna nahm ihnen die Garderobe ab, servierte den Sekt und die Häppchen, wie man damals noch sagte. Die schweren Hausarbeiten, wie Wäsche waschen und Teppiche ausklopfen, musste Anna nicht machen, das erledigten Zugehfrauen. Allerdings hatte Anni nur einen halben Tag in der Woche frei, das war wie üblich der Sonntagnachmittag. Wenn die Empfänge bis spät in die Nacht gingen, musste sie anwesend sein, durfte aber manchmal ins Bett gehen, bevor der letzte Gast gegangen war. Anna wurde freundlich behandelt, sie fühlte sich anerkannt und geschätzt. Auch hatte sie im Souterrain ein ungewöhnlich hübsches Zimmer mit geschmackvollen weißen Schleiflackmöbeln. Davon konnte sie noch im hohen Alter überschwänglich erzählen. Anna konnte sich nicht vorstellen, bessere Herrschaften zu haben. Aber sie war jung und unternehmungslustig, und da war die wenige freie Zeit. Manchmal musste sie sogar am freien Sonntagnachmittag mit Henriette spazieren gehen, nämlich dann, wenn die Eltern ihrerseits Verpflichtungen hatten. Oft vergnügten sie und Henriette sich bei Hagenbeck, und auf dem Spielplatz kam Anna mit anderen Kindermädchen ins Gespräch. Aber Tanzen gehen gefiel Anna noch besser.

Als Tante Amanda ihr eine Stelle im städtischen Altenheim in der Norderstraße in Altona vermitteln konnte, griff Anna zu. Sie kündigte und fühlte sich schlecht dabei. Das Ehepaar war sehr enttäuscht, aber Anna sagte sich, dass sie nun vor Arbeitslosigkeit erst einmal sicher war. Außerdem würde das Ehepaar ja doch in wenigen Monaten nach Amerika auswandern. Dann müsste sie sich sowieso eine neue Stellung suchen. Das nette Ehepaar hätte Anni sehr gerne mitgenommen, weil sie sich eine bessere Spielgefährtin für ihre Tochter nicht vorstellen konnten. Aber Anna traute sich den Schritt in die Neue Welt nicht zu. Sie sprach kein Englisch, sie war noch nie im Ausland gewesen, an wen konnte sie sich dort wenden? Nein, so etwas war denn doch zu gewagt; sie hatte Furcht vor der unbekannten Welt. So bekam Anna von dem Ehepaar schweren Herzens ein gutes Zeugnis ausgestellt. Man verabschiedete sich herzlich von ihr, und Anna bekam zwanzig Mark extra. Meine Mutter hat häufig von diesen warmherzigen, freundlichen Leuten erzählt.

Dass die junge Familie nach Amerika auswanderte, war ein glücklicher Entschluss. Es dürfte um das Jahr 1930 gewesen sein. Die jungen Leute waren Juden. Ob meine Mutter etwas vom damaligen vielfältigen jüdischen Leben im Grindelviertel wahrgenommen hat, weiß ich nicht. In ihren Erzählungen hat sie nichts erwähnt. (4) Später hat meine Mutter mir häufig von dieser kurzen, aber glücklichen Zeit erzählt, von dem so überaus hübschen weißen Schleiflackzimmer und von der Anerkennung, die sie bei dem Ehepaar erfahren hatte. Wir fragten uns, wie es ihnen wohl ergangen sein mochte. Als ich älter wurde, überlegten wir gemeinsam, ob ich nicht mal nachforschen sollte. An den Namen der damals zweijährigen Henriette und ihr Geburtsdatum, den 18. Dezember, konnte sich meine Mutter erinnern, weil Henriette ja am selben Tag Geburtstag hatte wie sie. Wahrscheinlich war sie 1927 geboren worden. Den Nachnamen habe ich im Laufe der Jahrzehnte vergessen. Man hätte eine Anzeige in die deutsch-jüdische New Yorker Zeitung „Aufbau“ setzen können, wahrscheinlich hätten sie oder Leute, die sie kannten, sich gemeldet. Ich unterließ den Kontaktversuch aus Unsicherheit darüber, was man sich zu sagen haben würde. Ungeachtet dessen unterhielten wir uns häufig über diese Familie. Anna war eine begnadete Erzählerin, sie konnte spannend und anschaulich Erinnerungen und Beobachtungen wiedergeben, und witzig war sie auch. Sie hätte unter anderen Umständen sicherlich gut schreiben können. Gerne wäre ich dabei gewesen, beim Versteckspiel von Henriette und Anna.

Wenn ich an die Karriere von Anna als Kinder-Landarbeiterin, als „Perle“ oder Dienstmädchen zurückdenke, dann ergreift mich immer noch der Zorn. Wie hat man diese Menschen damals ausgenutzt! Was waren das für Herrschaften, die sich für wenig Geld bedienen ließen? Elende Plackerei in der Landwirtschaft, oft auch im Haushalt, erniedrigend geringer Lohn, unbeheizbare Kammern mit Nachttopf, sexuelle Übergriffe, nicht entrichtete Sozialabgaben. Dabei war die Stellung des „Gesindes“ bis kurz zuvor, im Kaiserreich, im Vergleich zu den Arbeitern und Angestellten in Unternehmen noch zusätzlich gesetzlich diskriminiert. Damit wenigstens, mit der „Gesindeordnung“, wurde in der Weimarer Republik Schluss gemacht.

Meine Mutter duldete nicht, dass ich auf Bauernhöfen in Sülldorf beim Kartoffelaufsammeln half. In den fünfziger Jahren geschah das noch häufig in Handarbeit. Ihre eigenen Erfahrungen als Erntehelferin hatten ihr fürs Leben gereicht. Als mein Großvater Anfang der fünfziger Jahre aus Genthin zu uns nach Hamburg-Sülldorf zog, wollte er mir die Kartoffelernte schmackhaft machen. Da aber konnte er eine wehrhafte Tochter erleben! Ihre ganze Erbitterung bekam er da zu hören.

Vergleiche mit der Gegenwart sind unausweichlich. Wieder ist häusliche Dienstleistungsarbeit verbreitet. Wir beschäftigen gelegentlich für Wohnungsrenovierungen als umsichtigen Handwerker den Professor aus Georgien, der in der Heimat seine Kinder auf teure Privatschulen schickt. Da sind die polnischen Handwerker mit dem guten Ruf, die es nicht mehr nötig haben, schwarz zu arbeiten, aber immer noch billiger sind als ihre deutschen Kollegen. Die für Nachbarn tätige Haushaltshilfe aus Rumänien ist studierte Ernährungswissenschaftlerin. Es gibt wieder eine Mittelschicht, die es sich leisten kann und will, einige lästige Hausarbeiten für Geld erledigen zu lassen und es gibt Menschen, die auf solche Arbeitsstellen angewiesen sind. Eigentlich ist gegen solche Arbeitsverhältnisse nichts einzuwenden, sofern die Entlohnung stimmt und für soziale Absicherung (Krankheit, Rente, Arbeitslosigkeit) gesorgt ist. Letzteres ist allerdings häufig nicht der Fall. Mein Unbehagen hat damit zu tun, dass meine Mutter ausgebeutet wurde, so hat sie es empfunden. Ich sehe das auch so.

Dienstmädchen und Leichtmatrose

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