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Zahnschmerz im Herzen

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Frau Kunzes Entlassungspapiere waren auf Suhl in Thüringen ausgestellt. Das war der Ort, an den sie im Kriege evakuiert worden war und wo man sie acht Jahre vorher verhaftet hatte. Als sie bat, zu ihrer Familie nach Wilhelmshaven gehen zu dürfen, traf sie ein neuer Schreck: Wenn ihr Suhl nicht recht sei, dann könne man ja die ganze „Begnadigung“ rückgängig machen! Wahrlich Grund genug, um entsetzt zusammenzuzucken. Denn noch hingen von den zehn Zuchthausjahren des Urteils zwei unverbüßt über ihrem Haupt. Doch sie nahm ihren ganzen Mut zusammen und hielt allen Drohungen stand – und schließlich hatte sie sich doch die Fahrkarte nach Wilhelmshaven erkämpft.

Wartete auf die inzwischen 43-jährige Kriegerwitwe zu Hause, im Schoß der Familie, nun endlich ein neues, bescheidenes Glück?

„Ja, dachte ich, ich werde nun mit offenen Armen empfangen …

Sie haben mich ja auch herzlich empfangen, aber auch gleich mit so was, was meine Mutter mir ins Gesicht sagte: ‚Wie konntest du das tun? Hast du nicht an deine Kinder gedacht?‘ – Was Erwachsene ja immer vergessen: Kinder haben feine Ohren, sie hören alles. Vor allen Dingen, was sie nicht wissen sollen – wenn man extra leise spricht. Und es ist bestimmt in all den Jahren meiner Gefangenschaft von meinen Angehörigen oft so debattiert worden: ‚Was kann sie wohl gemacht haben…?‘ und ‚Da mußte sie doch an ihre Kinder denken …!‘ Wenn Kinder so etwas hören, dann fühlen sie sich verraten von ihrer Mutter.

Natürlich, ich war acht Jahre in Haft – Hasko war inzwischen zehn und Hille – da kam ich gerade zur Konfirmation zurecht. Klar, die konnten mich ja nicht kennen, aber sie kamen mir ausgesprochen feindlich entgegen. Beide. Wenn ich den Kindern etwas sagte, die hörten gar nicht hin. Die überhörten das einfach und ließen mich stehen! Da war eine Sperre aufgebaut worden. Wie weh das tat! Ich hatte doch nur überlebt, um meine Kinder wiederzukriegen! Sonst hätte ich doch gesagt, was soll das Theater? Mein Mann, den ich über alles geliebt hab, war gefallen, die Benachrichtigung hatte ich ja noch gekriegt; meine Kinder wahrscheinlich in Moskau … Ich habe mich in der Haft immer wieder gefragt, warum machst du dieses ganze Elend überhaupt mit? Und die Antwort war immer wieder: Um meine Kinder wiederzukriegen, nach ihnen zu suchen, wo immer man sie hinverschleppt haben könnte.

Und nun das!

Das Verhalten meiner Kinder, ihre Opposition, das war für mich …. Ich kann es kaum beschreiben. Nicht, als wenn man mich mit Eis begossen hätte, nein. Sondern als wenn ich ins Feuer gefallen wäre. Diese Abwehr meiner Kinder! Kinder merken ja nicht, welchen Schmerz sie verursachen. Die ziehen eine Grenze, die ist dann einfach da. Und die überwinde nun mal! Aber doch nicht, wenn man mit vollem Herzen kommt und denkt: So, jetzt hast du sie endlich wieder!

Mit keinem konnte ich darüber etwa auch nur sprechen, was ich erlebt, was ich hinter mir hatte – von Verständnis und Trost ganz zu schweigen! Es hieß höchstens: ‚Jaja, wir wissen, es ist nicht einfach gewesen, so im Zuchthaus – aber wir haben es auch nicht leicht gehabt.’ Und dann fingen sie an aufzuzählen, was sie alles durchgemacht hatten! Dabei waren sie weder ausgebombt worden, noch hatten sie flüchten müssen! – Da war ich dann immer schon still und hab es gar nicht mehr versucht. Sie haben mir ja sowieso auch nicht geglaubt.“

„Da war ich dann immer schon still“ – wie leicht sich das sagt! Mehr als drei Jahrzehnte! Nachts von schlimmen Erinnerungsträumen geplagt, tags bohrenden Schmerz in der Seele – nicht nur um die verlorenen Jahre, um das gestohlene Leben! „Wer nichts gemacht hat, wird auch nicht eingesperrt! Willst du dich nicht endlich dazu bekennen, statt uns anzulügen?“ Die ihr die Nächsten waren, hatten es ihr so bei der Ankunft gesagt. Und stand es ihnen nicht immer noch in den Augen, wenn sie, wie freundlich auch immer, mit ihr sprachen? Bohrender Schmerz wie „Zahnschmerz im Herzen“ – so hatte Heinrich Heine einst seine eigene Seelenpein genannt.

Mit Irene Kunze haben unzählige Frauen und Mütter diesen bohrenden „Zahnschmerz im Herzen“ jahrelang stumm ertragen, ertragen müssen! Erst der Zusammenbruch der DDR brachte die Wende – auch und gerade für die Verfolgten, die im Westen lebten! Irene Kunze:

„Der Einzige, der mir schon damals glaubte, als ich 1954 wiedergekommen war, das war mein Vater gewesen. Aber da war er schon vom Tod gezeichnet. Er hat mir geglaubt, das sah ich an seinen Augen. Bloß – er war auch ein Mann, der seiner Frau nicht gern widersprechen wollte.

Meine beiden Schwestern – eine ist heute 87, die andere ist schon ein paar Jahre tot – ich hab ihren Zweifel an mir all die Jahre immer schmerzlich gespürt! Beide haben mir erst nach 1989 unter Tränen abgebeten, was sie mir damit angetan hatten. ‚Was du über den Grund deiner Verhaftung erzählt hast, das haben wir dir doch nie geglaubt!’ haben sie da endlich offen zugegeben: ‚Ganz ohne jedes eigene Zutun ins Zuchthaus!? Das gibt es doch nicht; das kann es doch gar nicht geben, haben wir immer gedacht!’

Damals, als ich gekommen war – Presse war sofort da und hat mich fotografiert, und das ist durch alle Zeitungen gegangen. Meinen Kindern hat das ja schon imponiert. Aber das flaute dann ja ab – und die Zweifel der Familie blieben. Sie waren nett. Sie waren überhaupt immer nett und wohlerzogen. Aber in allem und immer schwang der stille Vorwurf mit wie im Gleichnis vom gefallenen, verlorenen Sohn. Er wird wieder aufgenommen. Aber der Bruder sagt, Herr, wie kannst du ihn so belohnen …? So ungefähr, ja.“

Es bedurfte vieler Jahre und unendlicher Nachsicht und Geduld, bis eine darüber alt gewordene Frau endlich wieder sagen konnte: „Meine Kinder haben mich lieb!“

Zu solch bitterer Entfremdung kam es oft auch da, wo Großeltern und Verwandte die Erinnerung liebevoll zu pflegen versuchten. Auch Anni Leifers mußte das aufs Schmerzlichste erfahren. Die Mutti habe auf eine große Reise gehen müssen, hatte die Oma der Enkelin all die Jahre erzählt. Das war für ein kleines Kind nicht leicht zu begreifen. Schon gar nicht aber konnte der Großmutter Liebe die Wunden heilen, die böses Gerede dem kleinen Mädchen schlug. Im Dorfe und gar von Spielgefährten wurde es immer wieder gehässig belehrt: „Du hast ja gar keine Eltern! Du hast überhaupt keine Mutti und auch keinen Vati!“

In einem kalten Frühjahr kam Anni Leifers nun, nach fünf Jahren, endlich nach Hause zurück. Ihr Kind – es stand jetzt kurz vor der Einschulung – war es wirklich „ihr“ Kind geblieben? Die Probe aufs Exempel fiel vernichtend aus:

„Meine Mutter hatte ein paar Tage verreisen müssen. Solange sie daheim gewesen war, schien es, als habe meine Tochter sich nach und nach an mich gewöhnt. Aber als ich nun allein mit ihr war und sie wirklich als Mutter betreuen wollte – mein Gott, wie aus einem Vulkan brachen Abwehr und schiere Feindseligkeit aus der Kleinen heraus. Oder war es nur Angst, weil ich ihr zu fremd war?

Sie hat regelrecht gegen mich gekämpft! Und mit was für einer Energie! So wilde Wutanfälle hätte man dem sonst so braven und sanften kleinen Ding gar nicht zugetraut! Spielzeug flog an die Wand, trommelnd und trampelnd schmiß sie sich auf den Boden. Als ich sie gar ins Bett bringen wollte, ging es erst richtig los. An anfassen, waschen, Nachthemdchen überstreifen war gar nicht zu denken!

Mir brach eine Welt zusammen! Jahrelang hatte ich doch immer wieder nur davon geträumt, ihren kleinen warmen Körper in meinen Armen zu halten, ihre Ärmchen zärtlich um meinen Hals zu fühlen. Denn sie war ja alles, was mir von meiner ersten großen Liebe geblieben war. Ihren Vater, wenn er denn überhaupt noch lebte, würde ich wohl niemals wiedersehen. Sie hatten ihn nach Sibirien geschleppt.“

Als sie 1948 verhaftet wurde, war Anni Leifers gerade 17. Ihre einzige Schuld war die Liebe zu einem russischen Soldaten. Ihr Unglück, dass sie in jenem Teil Deutschlands – im Erzgebirge – geboren wurde, der nun Sowjetische Besatzungszone war. Denn was wäre ihr geschehen, hätte nicht ein russischer Junge ihr Herz gewonnen, sondern ein Franzose, Engländer oder Amerikaner an Rhein oder Weser? Der falsche Wohnort brachte ihr statt einer fröhlichen Hochzeitsfeier ein Urteil auf fünfundzwanzig Zuchthausjahre ein.

Die Tochter, längst selber Frau und Mutter, fühlt heute mit, was die eigene Mutter erleiden mußte und ist ihr liebevoll zugetan. Aber nicht immer gab es solch spätes bitter-süßes Happyend. Eine andere Gefangene, die ihr Kind in Hoheneck hatte gebären müssen, wurde bis zu ihrem Tod dieser Mutterschaft nicht froh.

Das Baby war seinerzeit von der Familie in Westberlin aus dem staatlichen Kinderheim der DDR herausgeholt worden – unter allergrößten Schwierigkeiten und mit viel Glück dazu. Als die Mutter schließlich zurückgekommen war, hätte das Mädchen gesichert und geborgen in einer neuen Familie in Westdeutschland aufwachsen können. Aber was geschah? Ausgerechnet unter eingefleischten, linientreuen Kommunisten suchte sich die Oberschülerin ein Ersatz-Zuhause. Die gläubigen Anhänger jener Gewalt, die der Mutter Jahre des Lebens und ihr, der Tochter, die Mutter gestohlen hatte, zog sie den eigenen Eltern vor!

Kühl und herzlos ist das Verhältnis dieser Tochter zu ihrer Mutter immer geblieben. Kalt und ohne Liebe war auch das Begräbnis, das sie der früh Verwitweten und früh Verstorbenen bereitet hat. Warum es nie eine Brücke gab, auf der Mutter und Tochter einander hätten begegnen können? Speiste sich der offensichtliche Wunsch der Jüngeren, der Mutter weh zu tun, aus einst erlittenem und nie überwundenem Kleinkinderleid, verlassen, verraten worden zu sein? Lebte die Tochter mit ihrer Verweigerung unbewußt eine irrationale Rache aus?

Auch für Verwandte wurde oft das Leben nicht leichter, wenn sie sich der verlassenen Kinder politischer Gefangener angenommen haben. So erlebte es 1951 die Familie von Alice Haber in Rudolstadt:

„Meine Tochter war ja bei der Verhaftung dabei. Mich haben sie ins Auto reingenommen, das Kind – ich hatte sie auf dem Arm – das Kind haben sie einfach rausgetan. Da war wohl noch ein deutscher Beamter. Später, bei den Vernehmungen, wenn man wieder mal von draußen Kinder spielen hörte, hieß es immer: ‚Das ist Ihre Tochter. Hören Sie sie?’ Natürlich stimmte das nicht. Sie war nie am Gefängnis. Und eigentlich habe ich das auch nicht so recht geglaubt. Ins Herz schnitt das schon – die Fröhlichkeit der Kinder – und du warst von deinem getrennt. Bange Frage: für wie lange?

In Wirklichkeit hatten sie meine Erika gleich zu meiner Mutter gebracht. Aber meine Eltern waren zu alt und zu krank. So haben meine Schwester und mein Schwager sie zu sich genommen. ‚Wir sind ihre Paten’, haben sie gesagt, ‚und es ist der Sinn einer Patenschaft, dass man sich um sein Patenkind kümmert, wenn Mutter oder Eltern nicht weiter sorgen können.’

Was mit mir war, wußte natürlich keiner. Aber eine Angestellte von uns, die ich dann in Hoheneck wiedertraf, war zwei Jahre vorher verhaftet worden. Es war also keinem ganz neu, dass Leute plötzlich und ohne erkennbaren Grund verschwanden. Mehr wußte niemand und es konnte sich auch keiner etwas zusammenreimen. Wer hätte auch darauf kommen sollen, dass es im Grunde um eine Ehegeschichte ging! Mein Mann war fremdgegangen, hing aber noch immer an mir und dem Kind. Er wollte zurück. Deshalb – um mich aus der Welt zu schaffen – hat mich seine Neue denunziert!

Dass Erika keine Erinnerung an die Verhaftung hatte, war ein Glück. Sie war damals noch zu klein gewesen. Wenn sie nach mir fragte, erklärte ihr meine Schwester, ich sei im Krankenhaus. Aber damit gab sie sich nicht zufrieden. Sie hat gesagt: ‚Wenn jemand im Krankenhaus ist, dann kann man ihn besuchen. Wie ich im Krankenhaus war, war die Mutti auch immer da. Und wir wollen da mal hin!’ ‚Ja’, sagte meine Schwester, ‚da können wir aber nicht hin, das ist weit, weit weg!’ So ging das eine ganze Weile.

In dem Vorort von Rudolstadt, wo meine Schwester wohnte, hatte sich ja rumgesprochen: ‚Die Erika, das ist gar nicht deren Kind, das ist ja … ’ wie halt in Familien so was erzählt wird. Auf jeden Fall – meine Tochter ist dann in die Schule gekommen, und eines Tages haben die anderen Kinder ihr gesagt: ‚Deine Mutti ist überhaupt nicht krank! Die ist gar nicht im Krankenhaus, die ist im Gefängnis!’ Da kam sie weinend heim und hat erst gar nichts gesagt. Dann hat sie immer nur gefragt und gefragt: ‚Gell, aber meine Mutti hat doch nichts Böses gemacht?’ Mein Schwager hat sie getröstet, dass ihre Mutti wirklich nichts Böses gemacht hat. Aber es war sehr schwierig, ihr das klarzumachen, weil – ja nun, weil es ja immer hieß, wer böse ist, kommt ins Gefängnis. Und wieso war ich dann drin? Viel sagen durften sie ihr nicht, wenn sie sich nicht selber in Gefahr bringen wollten. Etwa, dass die die Bösen wären, die mich da reingesteckt haben! Aber alle Vorsicht hat nicht viel geholfen. Wo sie nur konnten, haben die Behörden meiner Schwester Knüppel zwischen die Beine geworfen.“

Zum Beispiel, als es um eine etwas größere Wohnung ging für nun, mit der kleinen Nichte, zusammen vier Personen. Der Antrag hatte bescheiden auf zweieinhalb Zimmer gelautet. Doch die Antwort war rüde:

„‚Wenn Ihnen das Kind zuviel ist, wir haben Heime, wo wir es hintun können!’ Und das war noch nicht ihre letzte Schikane. Schlimm war auch, was sie meinem Neffen angetan haben. Sie hätten ihm fast das Leben zerstört.

Er war ein sehr guter Schüler. Deshalb sollte er auf eine höhere Schule gehen. Ich weiß nicht, ob es diese EOS, die Erweiterte Oberschule, damals schon gab oder ob noch die alten Gymnasien bestanden. Aber trotz guter Zensuren und aller Fürsprache des Direktors, der ihn kannte, wurde er dort nicht zugelassen, weil meine Schwester ‚ein Verbrecherkind aufgenommen’ hatte! Statt dessen wollten sie den Jungen mit 16 zur Armee ziehen. Nach der Musterung in Weimar – tauglich! – ist er deshalb mit einem anderen abgehauen. Per Anhalter nach Berlin, dann ausgeflogen nach Hamburg. Dort mußte er sich zuerst als Feldarbeiter verdingen. Der Weg, auf dem er dann doch noch Abitur und Studium schaffte, war sehr, sehr lang und sehr schwer.“

Alice Habers Eltern wohnten in Eisenach. Dahin mußte sie zurück, als sie 1955 entlassen wurde. Ihre Tochter Erika wohnte damals immer noch bei Alices Schwester in Rudolstadt. Dorthin mußte sie fahren, wenn sie sie sehen wollte. Allerdings – so einfach, wie das jetzt klingt, war das nicht:

„Unerlaubt war das und deshalb jedesmal eine Angstpartie. Es war so: Ohne Ausweis durfte man nicht den Wohnort verlassen. Aber einen Ausweis gaben sie mir lange nicht.

Beim meinem ersten Besuch in Rudolstadt – meine Schwester hatte dem Kind mein Kommen angekündigt – da lag Erika schon im Bett. Wie sie meine Schritte hört und ich mich über sie beuge, schlägt sie plötzlich ihre Augen auf und sagt strahlend: ‚Du bist meine Mutti! – Aber gell, du heiratest nicht wieder?’ Denn inzwischen hatte man ihr erzählt, warum ich abgeholt worden war.“

Seit ihrer Entlassung im Sommer 1955 ist Alice Haber nun schon wieder fast 40 Jahre ein freier Mensch. Aber erst 1993 hat sie zum ersten Mal mit ihrer Tochter über die Vergangenheit zu sprechen versucht.

„Ich habe gesagt, mich wundert, dass sie nie gefragt hat. Da wurde sie ganz blaß. ‚Mutti,’ hat sie gesagt ‚ ‚bitte erzähle mir nichts! Es belastet mich zu sehr, wenn ich weiß, was du mitmachen mußtest! Das ertrage ich nicht!’ – Wer aber fragt und hören will, das sind meine drei Enkel!“

Ja, und wie war das sonst, als Alice zurückgekommen war? Die Behörden gaben ihr nicht nur keinen Ausweis, sondern auch keine Arbeit. So versuchte sie über alte Bekannte ihr Glück. Schließlich kam sie bei einem alten Apotheker als Aushilfe an.

„Na, und dann kam der 1. Mai ran. Da kommt einer und sagt zum Apotheker: ‚Sie haben hier eine eingestellt, die gesessen hat. Die soll mitmarschieren am 1. Mai und das Transparent tragen!’ Dann sollte ich eine rote Nelke kaufen. Da war ich so wütend! Transparent tragen? Ich habe gesagt: ‚Wissen Sie was? Ich habe einen kaputten Rücken. Das ist Transparent genug!’ Den Rückenschaden hatte ich von der Arbeit in der Haft. Sogar ein Arzt in der DDR hatte mich deshalb als zu 80 Prozent schwerbeschädigt eingestuft.

Plötzlich, Anfang Mai, mußte ich jedenfalls schleunigst fort. Das kam so: Gegenüber der Apotheke war die Polizei. Eines Tages kommt eine von drüben und sagt: ‚Sie müssen verschwinden. Sie haben einen Fehler gemacht!’ Es ging um das Transparent. ‚Sie haben sich geweigert…’ ‚Geweigert?’, sage ich, ‚ich habe mich nicht geweigert! Ich habe gesagt, ich kann es nicht tragen, weil mein Rükken kaputt ist. Ich muß mich ja schon bei der Arbeit dauernd setzen! Fragen Sie mal meinen Chef.’ Da sagt sie: ‚Ich besorge Ihnen einen Paß.’ Aber über Berlin – es gab noch keine Mauer – das würde ich ja nicht schaffen, meinte sie. Deshalb würde sie mir eine Bescheinigung geben, mit der ich drei Tage nach Bebra – im Westen – fahren könnte, um meine früheren Schwiegereltern zu besuchen. Dafür wollte sie allerdings etwas aus der Apotheke. Mein Chef hat zu mir gesagt, ‚Nehmen Sie es, Sie wissen, wo es liegt. Ich weiß von nichts!’ und ist rausgegangen. Nun, da habe ich der gegeben, was sie wollte, und die hat mir den Paß gebracht. Am gleichen Nachmittag bin ich dann noch fort.“

Von fünfundzwanzig Jahren Urteil „nur“ fünf Jahre „abgesessen“. Danach eine neue glückliche Ehe und ein liebevoller zweiter Vater für Erika, dessen Fürsorge sie ihm mit Anhänglichkeit vergalt – soweit könnte Vergangenes vergessen sein. Wenn nicht der tägliche, brennende Schmerz des kranken Rückens wäre! Schon lange kann sich Frau Haber nur noch an Krücken fortbewegen.

Leidende Mütter – und die Kinder? Erwachsene finden Worte für ihre Schmerzen. Aber Kinder? Wer hat die Kinder dieser „Verbrecherinnen“ je danach gefragt, was sie empfunden, was sie erlitten haben?

Ilse Erben hatte deren fünf, das kleinste drei Monate alt, als sie verhaftet wurde, der älteste, Lothar, zwölf Jahre. Frau Erbens Mann, Berufsoffizier, Major, war in den letzten Tagen des Krieges noch gefallen. Nach ihrer Verhaftung nahm sich die Fürsorge der verlassenen Kinder an, suchte Pflegeeltern. Nur zwei der vier kleinen Mädchen zogen dabei ein erträgliches oder glückliches Los. Doch die drei anderen …

„Gerda? Die hatte es vielleicht am schlimmsten getroffen. Von allen Geschwistern getrennt und dann … Narben auf der Seele! Manchmal spricht sie noch heute davon: ‚Was habe ich für Schläge gekriegt! Und für nichts und wieder nichts. Oder – wenn ich mal so ein bißchen Sehnsucht hatte und habe mich an meine Pflege-Mutti anlehnen wollen, dann fuhr sie mich an: ‚Ach nee, laß das mal! Das kannst du ja machen, wenn deine Mutter zurückkommt …’

Zehn war sie damals so etwa. – Ja, und es hat mehr als neun Jahre gedauert, bis ich zurückkam. Als ich sie endlich in die Arme nehmen konnte, war sie kein Kind mehr. Es schmerzt mich noch heute, wenn ich daran denken: Ein Kind – mein Kind! – für das keiner ein gutes Wort, keiner eine herzliche Geste hatte! Da ging es ja uns im Zuchthaus fast besser, denn wir hatten einander! – Naja, Ihre Pflegemutter war eine Erzkommunistin und eine … in der Partei irgend so eine Erste, Vorsitzende.“

Die beiden Ältesten, Lothar und Gisela, hatte ein Architekten-Ehepaar ins Haus genommen. Eigentlich hatten diese jedoch nur ein Kind zu sich nehmen wollen, ein größeres Mädchen. Aber die Geschwister hatten sich mit allen Kräften und schließlich erfolgreich gegen eine Trennung gewehrt. Alle fünf Kinder waren übrigens anfangs, gleich nach dem Verschwinden der Mutter, erst einmal in ein Kinderheim gekommen.

„Da gab’s auch so eine Geschichte! Das Heim war schlecht geleitet. Mit der Gesundheit der Kinder ging es immer weiter bergab. Schließlich kam heraus, dass das Pflegepersonal sich jahrelang an der Verpflegung seiner Schutzbefohlenen vergriffen hatte. Was da sonst noch alles vorgekommen war, haben die Kinder erst im Prozeß erfahren. Man hat sie dazu als Zeugen vernommen, wie fürchterlich alle hatten hungern müssen. Und wie ich jetzt entlassen bin und mein Lothar mir erzählt, wie es ihm ergangen ist, da nennt er die Namen der diebischen Frauen. Was, sage ich, die waren das! Die sind ja eines Tages als Verurteilte in Hoheneck angekommen! In der Schneiderei waren sie sogar in meiner Schicht! Glück für sie, dass damals keine in Hoheneck wußte, weshalb die eingesperrt worden waren. Die hätten sie ja erschlagen, wenn bekannt geworden wäre, dass sie Erbens Kindern das Essen weggefressen hatten!“

Was wie eine glückliche Wendung für die beiden Großen erschien – der Schritt aus dem Kinderheim in die Architekten-Familie – ‚erwies sich statt dessen als Einzug in eine ganz spezielle Hölle:

„Ja … das Ehepaar … war … anormal veranlagt. Wenn die die Kinder schlugen, machte ihnen das Gefühle. Und sie schlugen sie jeden Tag. Wenn abends ein Schuh vor dem Bett so dastand anstatt so, dann war das schon ein Grund, sie aus dem Schlaf zu prügeln. Oder – mit der Gisela haben sie es zum Beispiel einmal so getrieben:

Nach einem Klassenausflug hatte sie sich im Zoo noch ein bißchen verweilt und war dabei mit einem jungen Mann ins Gespräch gekommen. Beim Unterhalten – am hellerlichten Nachmittag und in aller Öffentlichkeit! – verflog natürlich die Zeit. – Als sie zu Hause ganz unbefangen erzählte, weshalb sie später kam als erwartet, zwang man sie, sich aufs Klo zu setzen, die Beine breit, und alle beide, der Mann wie die Frau, haben ihr da reingeguckt. Gisela war damals noch unberührt … . Lauter solche furchtbaren Dinge sind da passiert, dass ich gar nichts weiter davon erzählen mag … und sie haben beide Kinder eben auch immer so viel geschlagen.

Lothar ist dann geflüchtet aus diesem Zuhause und hat sich selbst eine Stelle als Hilfsarbeiter gesucht und seinem Chef alles erzählt. ‚Der Chef’, sagte er, ‚war wie ein Vater zu mir, die ganzen Jahre. Und ich war endlich diese Schlägerei los.’ Aber Lothar verdiente so wenig! Er mußte in einem Gasthaus wohnen, wo er früh zu essen hatte. Zum zweiten Frühstück brachten ihm die Arbeiter immer einen Apfel und ein Brot mit. Und abends mußte er dann noch Gemüse putzen, Kartoffeln schälen und im Gasthaus helfen, damit er sein Abendbrot kriegte. Den Hunger wurde er trotzdem Jahr und Tag nicht los.

An ein Studium für ihn war gar nicht zu denken, nicht einmal eine Lehrstelle gab es für ihn. Denn mein Mann, sein Vater, war Berufsoffizier gewesen, also ein ‚Kriegsverbrecher’, und ich war ja nun auch nichts anderes. ‚Wie ich dann Soldat geworden war,’ sagte er – ‚etwas anderes blieb mir ja nicht … wie ich dann das erste Mal als Soldat meinen Sold gekriegt hab’ – Mutti, da habe ich mein ganzes Geld in Würstchen angelegt und verfressen!’“

Ilse Erben hat heute noch die Berichte ihrer Kinder so frisch im Sinn, als hätte sie sie erst gestern gehört. Nicht minder deutlich hat sich die Erinnerung an die eigene Heimkehr in ihr Gedächtnis eingegraben, an die erste Nacht zuhause:

„Ich habe die ganze Nacht mit meinem Bruder diskutiert bis morgens um sieben. Bis er sagte: ‚Du bist mir nicht böse, aber jetzt muß ich mich erst mal duschen und mich frisch anziehen. In einer halben Stunde muß ich zur Arbeit.’

Worüber wir diskutierten? Über die neuneinhalb Jahre oder neun Jahre und zwei Monate, die wir weg waren, meine Schwester und ich. In dieser nächtlichen Diskussion habe ich mindestens, also mindestens zwanzigmal gesagt, wenn nicht noch öfter: ‚Ich habe solche Angst vor meinen Kindern! Vor jedem einzelnen! Wenn mich einer ablehnen würde, ich würde es nicht überleben!‘ Aber mein Bruder hat mich getröstet, und er hat recht behalten! Vor allem Lothars Liebe zu mir und sein Verständnis baute viele Brücken, über die wir zusammenfanden – aber das ist schon wieder eine andere Geschichte!“

Die Hohenecker Kartei der frühen Jahre 1950 bis 1956 weist mindestens 1.314 Gefangene als SMTerinnen aus. Wenigstens jede Dritte von ihnen war Mutter3. Die meisten hatten mehrere Kinder zurücklassen müssen, und das oft unversorgt und in hilfloser Lage. Denn häufig waren die Väter, wenn sie denn überhaupt noch am Leben waren, in Kriegsgefangenschaft, als die Mütter verhaftet wurden. Sehr hoch war unter den gefangenen Frauen auch die Zahl der Kriegerwitwen und Flüchtlinge aus den verlorenen deutschen Gebieten. Und nur allzu oft traf beides in einer Person zusammen.

Auch Waltraud Nettelroth, Jahrgang 1914, in den ersten Monaten der eben gegründeten DDR von dem NKWD verhaftet und im Januar 1950 zu fünfundzwanzig Jahren verurteilt, war Kriegerwitwe. Sie ließ einen kleinen Jungen zurück.

Wieder war es an einem Kindergeburtstag – dem siebenten in diesem Fall –,an dem mit den Kaffeegästen die Häscher kamen. Großvater, Großmutter starben durch den Schock binnen weniger Tage der verschwundenen Mutti nach. Das war zuviel der Verluste für das kleine Kind. Zwar nahm ein Onkel am Ort, selber Vater mehrerer Kinder, sich des Neffen an. Doch auf seine Art versuchte der Kleine, sich gegen das Schicksal zu wehren:

„Aber da, beim Onkel, war er so verbockt, ging nicht in die Schule, schwänzte. Das ging also nicht.“

Auch beim zweiten Bruder, im Westen, im Südharz, ist kein bleibender Platz für das Kind. So erbarmt sich schließlich die Schwiegermutter in Hamburg. Sie gibt den Jungen auf ihre Kosten in ein Internat. Und obwohl Peter sie in den Ferien besuchen darf, fühlt er sich nun erst recht vollkommen abgeschoben:

„Da war erst was los! Da war er ganz verbiestert, hat ins Bett gemacht und alles Mögliche sonst.“

Als Waltraud entlassen wird, in die Zone natürlich, an ihren letzten Wohnsitz vor der Haft, geht sie notgedrungen zu ihrem Bruder dort:

„Ich besaß ja nichts mehr. Ich hatte ja nicht mal mehr ein Nachthemd. Und dann hat der Junge mir geschrieben: ‚Mutti, wann kann ich kommen?’ – In die Ostzone kommen! Um Gottes willen!, habe ich da gedacht! Doch nicht hierher! Ich wollte doch selber die Kurve kratzen!’“

Die Ablehnung war eine neue Enttäuschung für das schon Jahre wartende Kind. Als Frau Nettelroth endlich in Hamburg gelandet ist und ihren Jungen im Internat besuchen kann, stürzt das Wiedersehen erst recht alle beide in eine seelische Katastrophe:

„Mein Junge hat mich überhaupt nicht wiedererkannt! Und ich ihn auch nicht! Da hätte ich mich bald vor den Zug geschmissen!

Meine ganze Sehnsucht! Ich habe mir vorgestellt, ich hätte ihn im Arm, er fällt mir um den Hals, und das ist eine Freude, ein Jubel, und alles ist wieder gut. Aber der sagte vier Wochen überhaupt nicht mal Mutti zu mir! Der war total verbiestert! Ich kann das überhaupt nicht beschreiben! Der steckte sich vor mir unter die Decke. Das war einfach entsetzlich! Er war dann schon elf.“

Erst Jahre nach ihrer Rückkehr konnte die Mutter ihr Kind wieder zu sich nehmen. Denn völlig mittellos – ohne Wohnung, ohne Familie und ohne Beruf – stand sie vor dem nackten Nichts. Heute sagt sie:

„Mein Sohn und ich, wir haben jetzt ein gutes Verhältnis. Aber eine Aufgeschlossenheit – so mal sagen ‚Ach Mutti, ist das schön!’ oder so –,das kann er bis heute nicht. Er lächelt dann zwar, und ich weiß, wie er es meint. Aber das ist immer noch das Resultat aus dieser Zeit. Es war einfach furchtbar! Ach, wie mich das belastet hat! Und das belastet mich noch heute! Unsere Kinder – das ist eigentlich gar nicht mehr gutzumachen, wie verkorkst und verdreht die waren, bis wir die überhaupt wiedergewonnen hatten.“

Fast tausend verlassene Kinder – verzweifelt, ratlos, weinend – ‚sie säumen wie zertretenes Gras den harten Weg ihrer Mütter durch viele lange Zuchthausjahre. Wieviele Kinder mußten auch ihren ersten Schrei hinter Gefängnis- und Zuchthausmauern tun, weil ihre Mütter schwanger eingesperrt worden waren! Als am 12. Februar 1950 die ersten Frauen nach Hoheneck kamen – die SMTerinnen aus Stalins „SPEZLAG“ Sachsenhausen – da hielten neunundzwanzig von ihnen einen Säugling oder ein Kleinkind im Arm.

Deutsche Frauen vor sowjetischen Militärtribunalen

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