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Bitterer Abschied

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Dort fing damals für viele ein anderer, ein ganz realer Albtraum an, in dem das Grauen der Tage in die Träume der Nacht und wieder in die Tage hinüberschwang – in Hunderte, nein – in Tausende, Abertausende leidzerquälte Tage. Ein Albtraum, den Menschen im Westen nie träumen mußten. Renate Siebert, damals in Sachsen-Anhalt zu Hause, blieb er nicht erspart. Sie erinnert sich:

„Es war kurz nach Ostern 1948, an einem 6. April. Das Datum werde ich nie vergessen. Denn es ist der Geburtstag meiner Jüngsten. Sie wurde damals gerade zwei. Die Ältere ging seit Ostern in die Schule. Auf die Geburtstagsfeier hatten sich beide Kinder schon lange gefreut. Auch die Kleine. In dem Alter fangen sie ja langsam an zu verstehen. Gerade hatte ich ihr ein Blumenkränzchen gebunden, wie sie es sich wünschte. Genau so eines, wie ihn das kleine Mädchen auf einer Geburtstagskarte trug. Aufsetzen konnte ich’s ihr nicht mehr. ‚Dawai, dawai!‘ – Schnell, schnell, forderten die Männer mit den blauen Kragenspiegeln des NKWD. Und schon fiel die Wohnungstür hinter mir zu.“

Jahrelang ließ die Erinnerung an die verschreckten Gesichter ihrer beiden kleinen Mädchen die Gefangene im Schlafen und im Wachen nicht los. Doch aus diesem Schmerz, aus der Sorge um ihre Kinder erwuchs ihr auch immer wieder die Kraft, allen Leiden und Nöten zum Trotz die Haftjahre durchzuhalten.

In der Sprache der Akten braucht’s nie viele Worte, um ein Schicksal zu fassen. Knappe zehn Zeilen genügen für das der Renate Siebert:

-Geboren 1914, verheiratet, Hausfrau, zwei Kinder (1942 und 1946).

-Verhaftet am 6. April 1948 in Halle/Saale

„wegen Sammeln von Spionage-Informationen betreffs der Sowjetarmee und der Wirtschaft und Politik in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands“.

-Verurteilt dafür am 4. September 1948 zu fünfundzwanzig Jahren Straf- und Arbeitslager.

-„Gnadenhalber“ nach acht Jahren am 31. Juli 1956 vorzeitig aus dem Zuchthaus entlassen.

-Am 18. Oktober 1994 in Moskau rehabilitiert

als „zu Unrecht“ verurteilt und eingesperrt. Denn – so die russische Militärgeneralstaatsanwaltschaft heute:

„(…) Die Akten enthalten keinerlei Beweismittel über (…) eine Spionagetätigkeit oder andere verbrecherische Handlungen zum Schaden der UdSSR (…)“

Wie soll man beschreiben, was es heißt, als Opfer politischer Willkür acht Jahre in Sachsenhausen und Hoheneck am Rande des Hungers zu vegetieren? Von der Familie – ja, von Welt und Leben überhaupt so total getrennt und isoliert, wie nicht einmal die Nazi-KZs es kannten! Wie lebte es sich in solcher Verlassenheit unter dem ständigen Druck eines Urteils, das mit seinen fünfundzwanzig Jahren doch auf ein Lebenslänglich hinauslief? Die Antwort auf solche Fragen steht in keiner Akte verzeichnet! Sie wäre auch nicht in einige knappe Zeilen zu fassen – so wenig, wie das Leben „danach“. Was hielt es für Irene Siebert bereit?

Sie stand vor dem Nichts wie fast alle ihre entlassenen Kameradinnen und Kameraden. Der Kreis, der ihr Leben ausgemacht hatte, die Familie, war zerbrochen. Ihr Mann hatte längst eine neue Ehe geschlossen. Die Kinder kannten die Mutter nicht mehr. Ihre einzige Schwester war ohne sie zu Grabe getragen worden. So kam zu der äußeren materiellen Not die innere einer unsäglichen Einsamkeit. Es war keiner mehr da, der sie liebevoll in die Arme geschlossen hätte.

Wenn sie jetzt, als alte Frau, auf ihr Leben zurückblickt, sind es nicht die bis heute reichenden Folgen der materiellen Verluste von damals, die sie bekümmern. Noch immer stehen die Kinder im Mittelpunkt ihrer Gedanken:

„Es kam alles ganz anders, als ich’s mir erträumte. – Der Frau, die meinen Mann geheiratet hatte, trage ich dabei nichts nach. Wäre es nicht die, dann wäre es eine andere gewesen. Sie hat mir einen sehr anständigen Brief geschrieben, als ich entlassen worden bin: Sie hätte meinen Mann nur geheiratet der Kinder wegen. – Mag sein, dass es stimmte.

Das Tragischste ist, wie die Kinder seelisch gelitten haben. Am meisten meine Älteste. Das ist spürbar bis auf den heutigen Tag, da sie selber bald 50 wird. Als ich abgeholt wurde, war sie sechs. Ich stelle sie mir immer vor, in den Jahren, wo ich weg war: wie ein schwaches, schwankendes Schilfrohr im Wind, das gebeugt und gebeutelt wird und nicht weiß, wohin sich zu wenden. Besonders, nachdem meine Schwester verstorben war. An ihr hingen die Kinder. Sie war immer wie eine zweite Mutter für sie gewesen.

Die Kleinere, an deren zweitem Geburtstag ich verhaftet wurde – mit der habe ich überhaupt niemals wieder richtig Kontakt gekriegt, als beide Kinder nach meiner Rückkehr schließlich doch zu mir kamen. So, als wäre sie gar nicht mein Kind, so entfremdet ist sie mir geblieben.

Natürlich – beide, heute erwachsen und gut erzogen, benehmen sich immer freundlich und lieb. Wenn einer sie jetzt anriefe, sagte, ihrer Mutter sei etwas zugestoßen und sie brauche Hilfe, dann würden sie natürlich kommen. Alle beide. Sofort. Aber dieses Innige, Warme zwischen Mutter und Kindern, das ist leider niemals wieder aufgekommen. Bis heute nicht. Beide wollen auch nichts hören von früher, wollen gar nichts hören. Dieses Schweigen drückt mir auf die Seele. Den bittersten Teil meines Lebens verschweigen zu müssen, als wäre es meine Schande – das ist es wohl auch, was die große Fremdheit zwischen mir und den Kindern macht.“

Zwei kleine Kinder, etwa im gleichen Alter, ließ auch Renate Kunze zurück, als die damals 35-jährige Hausfrau im Februar 1946 dem NKWD in die Hände fiel. Frau Kunze war erst gegen Ende des Krieges aus Wilhelmshaven nach Mitteldeutschland gezogen. Den englischen und amerikanischen Fliegerbomben war sie damit entronnen. Dass die Zukunft für die Mitte Deutschlands Schlimmeres bereithielt als nächtliche Fliegeralarme, das konnte wohl keiner damals ahnen.

So erinnert Irene sich heute:

„In Wilhelmshaven fielen damals, 1944, so viele Bomben; jede Nacht! Und ich war schwanger, erwartete mein zweites Kind. Wie viele andere Frauen mit kleinen Kindern wurde auch ich deshalb in ein ruhigeres Gebiet ‚evakuiert‘. Mit meiner damals vierjährigen Tochter landete ich in Mitteldeutschland, in Suhl in Thüringen. ‚Das wird amerikanisch besetzt werden’, sagte mein Mann noch, als er nach seinem letzten Urlaub wieder an die Front ging. ‚Da kannst du ruhig hinziehen, da passiert dir nichts!’ Er sah wohl damals schon, wie alles enden würde.

Ich habe mir solche Gedanken nicht gemacht. Ich bin ja eine große Träumerin und war glücklich verliebt, verheiratet, eine selige Mutter – und sonst gar nichts! Alles andere interessierte mich nicht. Ich war nur Mutter, nur Mutter und hatte nur meine Kinder im Sinn!

Noch in den letzten Tagen des Krieges ist mein Mann dann gefallen. Auf den 31. März 1945 lautete der Totenschein.“

Kurz darauf ziehen wirklich – wie ihr Mann es vorausgesagt hatte – in Suhl amerikanische Truppen ein. Doch die kümmern sich nicht um die zugereiste junge Familie. Warum auch? Irene Kunze hatte sich niemals öffentlich betätigt, und sie tat es auch jetzt nicht. Sich mit zwei kleinen Kinder überhaupt über Wasser zu halten, war für eine Ortsfremde schwer genug. Nahezu jeder hungerte damals ja und fror.

Am 1. Juli 1945 lösen – Vereinbarungen der Alliierten entsprechend – sowjetische Truppen die Amerikaner ab. Irene spürt von dem Wechsel wenig – vorerst!

„Eines Tages waren die Amis weg. Und plötzlich kamen – na, ich dachte, da kommen so ein paar zerlumpte deutsche Heimkehrer von der Front. Doch das waren die russischen Soldaten! Die sahen ja zum Fürchten aus zu Anfang!

Von den Amis hatten die offenbar Jeeps geklaut, damit rasten sie im Wald herum. Ich wohnte direkt am Wald, und so erlebte ich das aus nächster Nähe mit. Wenn das Benzin alle war, dann ließen sie den Jeep einfach stehen. Die wußten wohl überhaupt nicht, dass da Sprit reingehörte. Die wußten nur, wie die Dinger anzudrehen waren. Ach, es waren ja verdreckte und zerlumpte Kinder, richtige große Kinder – also wirklich.

Man hätte sich vor ihnen fürchten können, weil sie doch Waffen hatten. Aber wir sind nicht vergewaltigt worden. Der Kommandant hat allen Deutschen gesagt, die Frauen sollten sich Pfeffer ans Bett stellen oder in die Tasche stecken und das benutzen, wenn ein Russe sie anfallen würde. Oder eine Flasche Tinte ans Bett. Wenn einer eine Flasche Tinte über die Uniform bekommen hat, dann könnten sie ihn als Übeltäter erkennen. Sich an Frauen heranzumachen war den Soldaten überhaupt streng verboten! Sie durften uns nicht nur nicht anrühren, sondern nicht mal mit uns reden! Die hatten wohl Angst, dass wir sie beeinflussen könnten.“

Die Ruhe, in der die junge Witwe mit ihren Kindern lebte, war trügerisch. Im Februar 1946 – mitten in der Nacht – läutet es plötzlich Sturm an Frau Kunzes Tür. Als sie aufgeregt öffnet, drängt eine Gruppe von Uniformierten in ihren schmalen Wohnungsflur. Von dem Lärm erwachen die Kinder. Sie beginnen zu weinen.

„Sie kamen mit sechs Mann. – Eine Frau darunter zwar, aber das nachts um zwei! Angeblich ging es um meinen gefallenen Mann, der Offizier gewesen war. Er wurde plötzlich gesucht, obwohl sein Tod doch ordnungsgemäß bei allen Behörden registriert war. Ich sage, mein Mann ist gefallen, und habe die Gefallenenmeldung vorgezeigt. Da haben sie erst so ein bißchen Russisch vor sich hingeredet. Und dann haben sie gesagt, ich möchte doch so freundlich sein und mitkommen und ihnen auf der Kommandantur unterschreiben, dass mein Mann gefallen ist. – Nachts um zwei holen die mich dazu aus dem Bett, damit ich unterschreibe, dass mein Mann gefallen ist!“

Auch Irene Kunzes Erinnerung bewahrt bis heute ein schmerzvolles Bild jener Nacht: Wie ihr kleines Mädchen sich ängstlich in ihre Arme schmiegt, der Zweijährige aus seinem Gitterbettchen die kleinen Händchen nach ihr streckt. Aber ‚Dawai, dawai!’ ‚Schnell fort, schnell fort!’ Die Kinder beruhigen? Daran ist gar nicht zu denken. Man läßt Frau Kunze kaum Zeit, sich anzukleiden. Als die Tür hinter ihr ins Schloß fällt, tönt das ängstliche Rufen und Weinen der Kleinen hinter ihr her. Acht Jahre lang gellte ihr das in den Ohren nach – eine Mutter, gezwungen, stumm davonzugehen, als fechte die Not ihrer Kinder sie überhaupt nicht an… Acht Jahre lang – denn erst 1954 wird sie wieder nach Hause kommen.

Besonders quält sie der Gedanke, dass sie keinen weiß, der sich um die beiden kümmern könnte. In Suhl gibt es weder nähere Bekannte noch Verwandte. Und von der Familie in Wilhelmshaven trennt damals, Anfang 1946, unerbittlich die Zonengrenze. Als Irene in den Vernehmungen darüber klagte,

„dass ich doch in Suhl keinen Menschen kannte, der sich um die Kinder hätte kümmern können, da hieß es nur: ‚Die Kinder sind in Moskau und werden dort zu Sowjetbürgern erzogen.’ – Vier Jahre haben die Russen mich in diesem Glauben gelassen! Ich habe darüber bald den Verstand verloren, dass meine Kinder auf Nimmerwiedersehen in der Sowjetunion verschwunden sein sollten!“

Einzelfall oder Methode? Eine anderes Opfer: Helga Söntgen. Und eine andere Szene:

„Dann waren nur Nachtverhöre. Nachts – in der Stille – hörtest du jeden Tritt! Die Schritte – sie kamen immer näher, immer näher. Und da wußtest du: Jetzt, jetzt schließen sie gleich bei dir auf. Jetzt kommst du raus. Dann waren die Vernehmungen – sie waren immer bei Scheinwerferlicht. Und das – wie grausam das war, kann ich keinem beschreiben … !

Mein schlimmstes Erlebnis war, da ließen sie ein Kind nebenan schreien. Es war bestimmt – das sage ich mir heute – es war bestimmt ein Russenkind. Jedenfalls sagten sie, es wäre mein Kind, das ginge jetzt auf Rußland-Transport. Eine Mutter, die Spionin ist, die braucht kein Kind, sagten sie. Das Kind ginge nach Rußland.

Ich habe das damals geglaubt, ich war wie … ach, … wenn ich eine Möglichkeit gehabt hätte, also – da hätte ich Schluß gemacht! Denn wenn man sein Kind schreien hört und man kann nicht hin …! Dass es vielleicht doch nicht das eigene Baby ist, das erkennt man dann ja nicht! Den Ton – durch die Zellentüren durch …! Es war schon grausam. Ich gönne das meinem ärgsten Feind nicht!“

Schon die Verhaftung der jungen Frau war schockierend genug gewesen. Helga Söntgen bleibt noch heute die Stimme im Halse stecken, wenn sie schildert, wie man sie abgeholt hat.

„Ich war gerade anderthalb Jahre verheiratet, mein Junge war neun Monate alt, als es eines Tages an der Tür klopft und klingelt. Ein Deutscher steht da: ‚Für Sie ist ein Einschreibebrief auf der Post. Den müssen Sie abholen. Kommen Sie gleich mit. ‘

Ich gehe runter mit ihm. Da steht unten ein zweiter Mann. Wir gehen ans Auto – ein Auto wartet da, ein Zivilauto. Plötzlich kriege ich einen Sack über den Kopf, ins Auto rein – und weg war ich …“

Bis sie schließlich – 1951, nach der Verurteilung – den Deutschen übergeben wurde, verbrachte Frau Söntgen ein Jahr in russischer Untersuchungshaft. Mehr will sie darüber nicht sagen. Nur diese Begründung noch:

„Das mußt du verstehen. Wir hatten ja nur nachts Verhöre. Und da kommst du raus aus der Zelle, kommst du runter in den Gang da lang – und dann siehst du, dass Blut da aus der Zelle rausfließt!

Das sind alles so Sachen, die du nie vergißt. Nein, ich möchte das gar nicht mehr alles auffrischen, nicht mehr darüber reden!“

Im Frühjahr 1950 also noch immer und immer wieder ganz einfach „Sack über’n Kopf“! Und Vernehmungen, bei denen Menschenblut floß. Denn mit den gleichen Methoden war es schon 1947 zugegangen. Sack über den Kopf – so war mit einer Gruppe junger Frauen und Männer auch Inge Haller abgeholt worden. Und auch ihr weinten zwei kleine Kinder jämmerlich nach.

„Die deutsche Kriminalpolizei hat uns nach Wernigerode gebracht, ins GPU-Gefängnis. Von dort mit verbundenen Augen, die Hände mit Stricken gefesselt, auf einen LKW. Und auf dem LKW Säcke über den Kopf gestülpt, damit wir nichts sahen. Wir haben gedacht, wir werden jetzt irgendwo in den Wald gebracht und erschossen. Aber die Säcke waren kaputt, da haben wir dann auf dem Wagen doch mitgekriegt, dass die uns nach Halle fuhren, in den Roten Ochsen – so als Säcke. Wir wurden so hingestellt, dass keiner sah, dass da Menschen drin waren.“

Als erzähle sie einen Krimi, den sie jüngst gesehen oder gelesen hat, so ruhig berichtet Inge Haller heute über diese Stunden der Todesangst.

Dass sie vor ein Sowjetisches Militärgericht gestellt werden würde, ahnte sie damals nicht. Zwar gehörte es längst zum Alltag, dass immer wieder Menschen verschwanden – spurlos, völlig und absolut spurlos! Das wußte jeder. Doch was mit diesen Menschen geschah, das lag völlig im Dunklen. Es machte die Angst noch größer – eine Angst, die keinem fremd war, der damals ‚drüben‘ lebte.

Tatsächlich wartete auf alle Verhafteten eine brutale ‚Untersuchungshaft’, danach harte Urteile der Sowjetischen Militär-Tribunale. Das konnte Todesstrafe bedeuten. Viele Jahre Gefängnis und Zuchthaus waren es in jedem Falle. Vielleicht bedeutete es auch Transport nach Sibirien, Zwangsarbeit in den Bergwerken dort oder riesige Bäume fällen in den Wäldern der Taiga.

Auch für Helga Söntgen lautete der Spruch auf fünfundzwanzig Jahre „Arbeitsbesserungslager“, wie das schöngefärbt hieß. Für Spionage. Nun gilt Spionage überall auf der Welt als verfolgungswürdige Straftat. Spione werden in allen Ländern gejagt. Hätte die junge Frau da nicht lieber rechtzeitig an ihre Mutterpflicht denken sollen, ehe sie …? Aber was hatte sie denn getan?

„Ja – mein ‚Fall‘? – Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war die Neiße unsere Grenze zu Polen geworden und damals, 1950, hatte die Regierung in Warschau sie doch total dicht gemacht. Wer jetzt noch aus Polen raus wollte, mußte es heimlich versuchen, nachts durch den Fluß.

Immer wieder kamen welche durch die Neiße, Deutsche natürlich, die nicht Polen werden wollten. Solche habe ich aufgenommen, das war mein ‚Spionageverdacht‘. Denn da hätten ja können Spione dabei sein, sagten die STASI und die Russen. Aber … wenn einer hinfällt, dann hilfst du ihm doch auch aufstehen ? Und wenn einer naß durch die Neiße kommt und du hast dein Heim, dann hilfst du demjenigen doch!?“

Aus der Gruppe der einander fremden Flüchtlinge, denen Frau Söntgen für eine Nacht ein trockenes Obdach gegeben hatte, wurde in den Papieren von STASI und NKWD eine veritable Spionage-Organisation. Die Menschen waren bei einer Personenkontrolle weiter drin im Land ohne gültige DDR-Ausweise betroffen worden. Ihren Wunsch, unter Deutschen in Deutschland zu leben, bezahlten sie nun mit einer langen Freiheitsstrafe als Spione und Agenten.

Nach sechs Jahren kehrte Helga heim, mittellos und gesundheitlich aufs Tiefste erschöpft. Doch schon lange wartete auf sie kein Zuhause mehr, um sie aufzunehmen. Den Mann, den sie liebte, hatte sie für immer verloren, und ihr Kind sagte ‚Vater‘ und ‚Mutter‘ zu fremden Leuten.

Irene Kunze hatten die Jahre tiefster Sorge um das Ergehen der Kinder zum Glauben der eigenen Kinderzeit zurückgeführt. Wohl war sie unter Diakonissen aufgewachsen.

„Aber Diakonissen sind auch nicht immer fromm und lieb, sondern oft sehr hart. Vor allem bedenken sie oft nicht, dass Kinder feine, empfindliche Seelen haben. Deshalb mochte ich die alle nicht, die mich erzogen haben, und war gern bereit, die Kirche zu verlassen, als mein Mann mir das vorschlug.

Heute? Heute meine ich, das Wenigste, was wir tun können, ist, uns zu Gott zu bekennen. Auch wenn ich – ich meine, ich gehe niemals zur Kirche, schon früher nicht. Denn ich bin ein Ostfriese. Ehe wir den Mund aufkriegen, ist der Pfarrer fertig mit seiner Predigt. Ich bin außerdem ein Einzelgänger.“

Nicht schnell mit den Worten zur Hand sein, das ist eine Sache, sich in schweigender Demut zu üben eine andere. Doch Irenes ergebenes Dulden hatte einen gewichtigen Grund:

„Einmal, in der Haft, hat mir Irms Thormann, die ich sehr mochte, gesagt: ‚Irenchen, du bist mir manchmal schon zu sanft. So … so untergeben darf man nicht sein!‘ Und ich habe ihr nicht geantwortet. Ich hätte es vielleicht sagen sollen: Wenn du deine Kinder so weggenommen kriegst und vier Jahre nicht weißt, wo sie denn nun sind … Ja, dann sitzt du da, nicht, und betest nicht mehr für dich, sondern nur noch für deine Kinder – seit Bautzen habe ich wieder gebetet, seitdem ich dort das mit Mutti Hessmann miterlebt habe …“

Es war in Bautzen gewesen, 1946, oben im großen Saal in Haus Zwei, in dem damals die Frauen lagen. Da lernte Irene Kunze Frau Hessmann kennen und freundete sich sehr mit ihr an. Denn beide trugen als Mütter das gleiche Leid. Muttchen Hessmann, wie alle sie nannten, stammte aus Siebenbürgen.

„Die Hessmanns waren schon auf der Flucht nach Deutschland gewesen, als die Front sie überrollte. Die Russen verhafteten sie, schmissen den Mann auf einen Lastwagen, sie auf einen anderen. Damit keiner flüchten konnte, saßen obendrauf auf den Gefangenen die Soldaten mit ihren groben Stiefeln. Wo Hessmanns Sohn geblieben war? Der kleine Junge war verschwunden. Nun verzehrte Muttchen Hessmann sich nach ihrem einzigen Kind.

Die Siebenbürgerin war fromm katholisch. Einmal sagte sie mir: ‚Frau Kunze, ich bitte jeden Abend die Gottesmutter, dass sie mir ein Zeichen schickt!’

Wir haben natürlich gelächelt und genickt, und auf meinem Bett habe ich gedacht, na, also … da ist auch die Gottesmutter überfordert. Wie soll sie in diesen Käfig eine Nachricht bringen?

Eines Tages kommt eine Neueinlieferung. Wir waren noch nicht so viele, paßten alle noch in den einen Saal. Immer, wenn eine Neue kam, stellten wir uns im Kreis um sie herum, und die Neue ging dann von einer zur anderen und schüttelte Hand um Hand. So auch diesmal. Mutti Hessmann stand wie immer neben mir und sagt ihren Namen: Hessmann, Anni Hessmann. Die Neue will schon weiter, streckt schon mir die Hand entgegen, da stockt sie plötzlich und sagt: ‚Wie heißen Sie? Hessmann? Kommen Sie aus Siebenbürgen?’ Ja. Und dann erzählt die Neue, dass sie durch Wien getrieben worden sind, von den Russen eingefangen – ja, durchgetrieben so in Fünfer-Reihen. Und da ist ein Wiener Sängerknabe rumgelaufen – in diesem Anzug, den die trugen – und ist immer neben den Frauen hergelaufen, hat gerufen, ‚Ich bin … ich heiße Wolfi Hessmann. Und wenn Sie meine Mutter sehen, sagen Sie ihr, dass ich lebe!’

Da … also Mutti Hessmann fiel gleich in Ohnmacht. Und ich bin auf mein Bett gegangen, habe gedacht, wenn es IHN aber doch gibt … !?

Das war erschütternd. Ja, erschütternd ist es für mich selbst heute noch, dass mir die Tränen kommen, wenn ich davon erzähle! Denn es war so unwahrscheinlich, was da geschah – unter lauter armen Plennies. Ein Gotteswunder, ein wirkliches, nicht? Denn die Fremde wußte ja nicht, die stutzte, stotterte nun … Ein Wunder war es ja schon, dass sie den Namen des Jungen überhaupt richtig verstanden und ihn nicht vergessen hatte!

Um Mutti Hessmann in ihrer Ohnmacht haben sich die anderen gekümmert. Ich bin von meiner Matratze lange nicht heruntergekommen, da oben, auf der zweiten Lage, wo ich schlief.

Wie die Neue das gesagt hat, habe ich immer wieder gedacht: Wenn es IHN aber doch gibt? Und ich habe angefangen, mein ganzes Leben zu überdenken. Wenn es IHN aber doch gibt? Die Frau hat Hilfe gekriegt, nun will ich mal für meine Kinder beten. Und dann – ich war ja religiös erzogen. Ich kannte ja den Satz von den Sünden der Väter, die auf die Kinder kommen. Ich dachte, was habe ich schon groß getan, aber wenn ich schuldlos mit schuldig geworden bin, mein Mann vielleicht schuldig gewesen ist und ich eben, weil ich ihn so blind liebte, mitschuldig, dann, lieber Gott, habe ich gebetet, dann will ich ja alles auf mich nehmen. Aber bitte, verschone die Kinder! Ich will alles ertragen, alles machen, ohne zu klagen! Aber hilf den Kindern. Und das hat er ja auch getan. Die waren ja zu Hause, nicht?

Ich bin ein sehr gläubiger Mensch geworden – aber ich hätte in der Haft nie mit jemandem darüber gesprochen!“

Vier Jahre, vier lange Jahre der Angst und der Not hatte Irene ausharren müssen, bis sie 19502 – im ersten Brief von zu Hause – endlich Gewißheit erhielt: ihre Kinder waren vor russischem Zugriff gerettet worden. Die Nachricht erschien ihr wie eine Gebetserhörung.

„Es war doch ganz kurz vor Hilles sechstem Geburtstag gewesen, als sie mich verhaftet hatten. Zu diesem Geburtstag hatte meine Schwester es geschafft, ein Päckchen über die Grenze zu schicken. So erfuhr meine Putzhilfe, wo die Großeltern wohnten. Sie schrieb nach Wilhelmshaven, dass ich nachts geholt worden war und dass sie die Kinder abholen sollte. Das hat meine Schwester auch unverzüglich getan, kurz, ehe die Russen nach den Kindern fragten.“

Deutsche Frauen vor sowjetischen Militärtribunalen

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