Читать книгу Deutsche Frauen vor sowjetischen Militärtribunalen - Annerose Matz-Donath - Страница 12

Die Mütterstube

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Doch auch Kinder waren selber verurteilte Gefangene. So gehört in die schändlichen Annalen jener Jahre im Herrschaftsgebiet von NKWD und SED auch die Geschichte vom „Kohlenklau im Kindertäschchen“. Alice Haber erinnert sich, wie diese Geschichte sich 1945 zugetragen hatte:

„Da war diese kleine Holt, die Ilsemarie – ein Kind noch, ein halbes Kind, als sie verhaftet wurde. Und ihre Freundin von draußen, die Viktoria Gäb. Die waren beide doch erst elf oder zwölf, und vom Leben überhaupt keine Ahnung, wie sie eingesperrt worden sind. Wofür? Weil sie bei den Russen am Bahnhof paar Kohlen geklaut haben! Die sind immer mit ’m Täschchen fort und haben ein bissel Holz und Kohlen aufgelesen, nach 1945 in Berlin …

Einmal waren da ein paar Jungen dabei, die haben gesagt: ‚Menschenskinder, wo holen denn die Russen bloß die Kohlen her?’ Und sind da wohl nachgegangen – von den Kohlenwagen war doch immer so eine dreckige Spur auf der Straße. ‚Ach, kommt doch alle mit!’ Und die beiden Mädchen sind wirklich mitgegangen – am Bahnhof war die Kohlenquelle. Der eine Junge ist dann auf den Waggon gestiegen, hat ein paar Briketts hinuntergeworfen, und die Kinder haben im Handtäschen, im Einkaufstäschchen die paar Kohlen mitgenommen. Na, was können so Kinder schon tragen! Sie waren damals doch sowieso nur zwei spillerige kleine Dinger! Jedenfalls hat man sie dabei erwischt, Tasche geguckt – zehn Jahre …! Fast genau so lange Zeit, wie die beiden überhaupt erst auf der Welt warn!“

Die Spur der beiden verlor sich nicht so leicht unter den Gefangenen. Denn die Jüngsten blieben sie ja immer, wie die Zeit auch fortschritt und sie dem Kindesalter entwachsen ließ. Ihre manchmal kuriosen, naiven Fragen waren es, die bei den älteren Kameradinnen die Erinnerung an die Kinderverhaftung wachhielt. Zum Beispiel:

„Wie war das eigentlich, wenn ihr früher in ein Tanzlokal gegangen seid und so ein Mann ist gekommen und wollte mit euch tanzen? Was habt Ihr denn da gemacht? Oder wenn Euch einer küssen wollte – oder so – na du weißt schon, was ich meine?“

Heute würde kein Kind mehr solch eine Frage stellen. Allein das Fernsehen hätte sie Elfjährigen längst ausführlich beantwortet. Aber Fernsehen gab es ja damals noch nicht. Als Ilsemarie und Viktoria grade fünf oder sechs geworden waren, hatte der Krieg begonnen. Die Geschlechter trafen einander nun häufiger im Lazarett als Verwundete und Krankenschwester statt bei Tanzvergnügen. Als im Sommer 1942 der Feldzug in Rußland begann, wurde öffentlicher Tanz und jede ähnliche Lustbarkeit kategorisch und gänzlich verboten. So gut die beiden Teenager inzwischen das Leben in Lagern und Zuchthäusern kannten – normaler Friedensalltag war für sie so fremd wie das Land auf dem Mond.

Von der Erinnerung übermannt, erzählt Alice Haber weiter:

„Es war ja die Karnevalszeit. Ein paar von den Jungen, die durch den Krieg auch noch nie hatten Karneval feiern können, wolltens jetzt wissen. Da war Dorli Baum dabei, die hatte sich aus lauter Kopftüchern – aus den blauen Kopftüchern, die zu unserer Häftlingskleidung gehörten – ein Zipfelröckchen gemacht. Aus dem Abfall der Küche hatte sie ein paar Fetzchen Goldpapier aufgegabelt – alte Käse- oder Margarineverpackungen. Jede hatte sich mit so ein bißchen irgendwelchem armseligem Abfallzeug schön gemacht. So sind sie dann hin und her gehüpft.

Mit einem Male: ‚Menschenskinder, es ist gleich sechs, die Wach-Ablösung kommt! Schnell das Zeug runter! Hört auf! Der jetzige Zug ist besonders gemein’, haben wir Älteren gesagt. ‚Ach, die kriegen das gar nicht mit!’ meinten die Mädchen – wie das mit den jungen Leuten so ist. Die Ablösung kam – und mit einem Mal standen in der Gemeinschaft drei Frauen und drei Männern mit Hunden und aufgepflanztem Gewehr! Wir standen da und wußten nicht, was wir machen sollten. Elf oder zwölf der jungen Dinger haben sie gleich mitgenommen in Isolierung. – Ja, so sind sie damals mit uns umgesprungen…“

Am Stadtrand von Fürstenwalde erinnert ein Gedenkstein an die Opfer des stalinistischen Terrors, die nach 1945 hier elend zugrunde gingen. Ketschendorf war eines der berüchtigten „Speziallager“ des NKWD in Deutschland. Von der Umwelt streng isoliert, in größter Enge zusammengedrängt, siechten hier unzählige Männer und Frauen dahin, bis Hunger, Kälte und daraus entstehend Krankheit sie endlich zu Tode brachten. Nur wenige haben Ketschendorf überlebt.

Ob unschuldig oder schuldig – mit solchen feinen Unterschieden hatten die Kerkermeister sich damals gar nicht erst aufgehalten. Nur Zeit- oder Leidensgenossen wie Hannes Schlieker, der in der Nähe lebte und dort in die Schule ging, können heute noch berichten, wer damals in Ketschendorf einsaß. Auch vier seiner Klassenkameraden sind hier gestorben:

„Wir waren sechzehn damals, als der Krieg zu Ende war. Konnte man in dem Alter ‚großer Nazibonze‘ gewesen sein, wie es in der DDR immer hieß, wenn von den Verhafteten allgemein und auch von denen in Ketschendorf die Rede war?

Die ganzen Jahre in der DDR hieß das hier der ‚Platz der Freiheit’. Erst jetzt, seit dem vorigen Jahr, haben sie es umbenannt in ‚Platz des Gedenkens.’ – Hier, direkt wo jetzt der Häuserblock steht und wo wir jetzt wohnen, ist damals das Lager gewesen.

Man hat viele Gebeine hier gefunden. Sie hatten die Toten ja einfach verscharrt damals – an Ort und Stelle, wo sie gestorben waren. Und dann, als sie hier gebaut haben … Ich kann mich erinnern, da haben Jungens mit einem Totenkopf Fußball gespielt. Kleine Jungs. 1957, wie sie hier die Blöcke bauten.

Sie haben die Knochen dann in der Nacht heimlich wegtransportiert mit großen LKWs. Wo sie hingekommen sind, weiß niemand. Die Leute, die die Transporter gefahren haben, die müßten das ja noch wissen. Man hat nachgeforscht, nach den LKW-Fahrern. Aber es ist nichts dabei rausgekommen.“

Für Margot Schlieker, seine Frau, ist der Blick zurück noch schmerzlicher. Erst im zweiten Nachkriegswinter war sie mit ihren Eltern in Fürstenwalde angekommen. Vertriebene waren sie, Flüchtlinge, denen es an allem fehlte. Sogar am Nötigsten, am täglichen Brot. Obwohl erst neunzehn, war die junge Frau schon eine praxiserfahrene Buchhalterin. Aber wer brauchte damals in Fürstenwalde solch eine qualifizierte Kraft? Die Besatzungsmacht!

„Auf dem Arbeitsamt fragte gerade ein russisches Ehepaar nach. Die Frau sprach gut Deutsch: ‚Kommen Sie doch zu uns’, sagte sie. ‚Mein Mann leitet die Garnison in Fürstenwalde. Und da ist Buchhaltung und Lohnabrechnung nötig’. Sie bot mir 500 Mark. Das war für die Zeit unheimlich viel Geld. Unheimlich viel! Im allgemeinen hatte man zwei- bis dreihundert Mark und fühlte sich damit ordentlich bezahlt.

Der Kommandant, ihr Ehemann, sah wohl meine Zweifel. Er ließ übersetzen: ‚Sie werden direkt mit meiner Frau zusammenarbeiten und brauchen keine Angst zu haben. Nichts, nichts wird Ihnen geschehen! Und Sie können auch Essen mit nach Hause nehmen.’

Vor allem deshalb nahm ich das Angebot an. Als Ortsfremde ohne Beziehungen … verhungert waren wir ja schon fast!“

Alles ließ sich genauso an wie versprochen. Jeden Tag konnte Margot sich nach der Arbeit in der Offiziersküche ein Kübelchen Essen holen. Zuhause warteten alle schon darauf.

Überraschend war für die junge Frau der nähere Einblick in die Verhältnisse der Garnison, für deren 4.000 Köpfe sie nun alle Abrechnungen zu machen hatte. Der Sold der sowjetischen Besatzungstruppe wurde damals – jedenfalls 1947 in Fürstenberg – nicht in sowjetischer, sondern in deutscher Währung gezahlt. Eine Mark pro Tag bekamen die Soldaten, die Offiziere vier. Dafür konnten sie an der Wache Weißbrot, Schnaps und Zigaretten erwerben. Mannschaften und Offiziere erhielten jeweils Essen von unterschiedlicher Qualität. So war es zuletzt im deutschen Kaiserreich üblich gewesen. Nun gab es das – seit 1918! – in Deutschland schon längst nicht mehr, aber noch in der Sowjetunion. Die Verpflegung der russischen Soldaten war mitleiderregend elend und schlecht wie auch die Behandlung, die einfache Rotarmisten erfuhren:

„Auch Schläge haben die Soldaten gekriegt! Beim geringsten Ding! Mit dem Stock haben sie gekriegt und mit der Peitsche! Die haben eine Angst gehabt! Schreckliche, schreckliche Angst haben die gehabt! Was man so gesehen hat – ich war ja in der Kaserne drin, da waren die Büroräume.

Ach, und meine erste Aufgabe – daran erinnere ich mich noch heute: Ich mußte einen großen Korb voller Papiergeld sortieren – ganz zerknittertes, wie die Russen das so hatten, deutsches Geld und anderes dazwischen. Ich habe gebündelt und aufgelistet. Ach, ich hatte zwei Tage damit zu tun. Es waren etwas über 86.000 Mark. Als ich das nun dem Kommandanten bringe, guckt der mich groß an, zieht einen Zettel aus der Tasche – er hat den Betrag schon vorher genau gewußt!“

Eine Prüfung auf Ehrlichkeit also. – Gelegentlich kamen andere Offiziere oder Dolmetscher ins Büro. Manchmal gab es dann ein Gespräch, ein paar Worte hin und her, soweit die Sprachkenntnis reichte.

„Manchmal kam auch einer, der sprach Deutsch fast perfekt, genauso wie wir. Das fiel schon auf. Denn auch die Dolmetscher haben ja alle so einen bestimmten Akzent. Es war ein höherer Offizier. Hinterher ist mir aufgefallen, dass er immer kam, wenn ich allein im Büro war, dass er ein Gespräch mit mir führen konnte. Damals habe ich mir nichts dabei gedacht. Denn meine Chefin hat sich ja auch mit mir unterhalten. Eines Tages hat er mich so nebenbei gefragt, ob ich nicht einen Schneider wüßte. Er brauche einen Zivilanzug. ‚Nun sicher’, sage ich,’ es gibt hier schon Schneider. Ich kann mich ja mal erkundigen.’

Ich bin nicht gleich – nein, ich bin überhaupt nicht auf die Idee gekommen und habe gefragt: ‚Wozu brauchen Sie denn einen Zivilanzug?’ Die Frau des Kommandanten trug ja auch Zivil und war sicherlich eine Offizierin.

Ein guter Stoff sollte es sein, wirklich ein guter Stoff, sagte er. ‚Ach ja,’ sage ich, ‚dann gehen Sie doch mal da und dahin.’ Ich habe ihm die Adresse aufgeschrieben. Es war gar nicht weit von der Kaserne.

Eines Tages, vielleicht fünf Tage später, war der Mann weg! Aber sie haben ihn ja gekriegt, in Berlin. Sie fanden bei ihm den Zettel mit der Anschrift des Schneiders.“

Drei lapidare Sätze einer harmlosen Auskunft – sie entschieden über das Schicksal einer jungen Mutter und ihres Kindes. Denn Margot war schwanger und freute sich schon auf die Hochzeit, als sie verhaftet und wegen Beihilfe zur Fahnenflucht zu zehn Jahren Arbeitslager verurteilt wurde.

Wie die Vernehmungen waren? Keine Rücksicht auf die Schwangerschaft. Aber auch Mißhandlungen nicht, erinnert sie sich. Nur ein einziges Mal:

„Wo ich in Untersuchungshaft war, da standen die Stühle fest. Die waren wie angenagelt. Man konnte nicht von der Stelle rücken. Der Vernehmer hatte an seinen Stiefeln so etwas wie Sporen dran. Er ging hinten an mir vorbei und hat so an meine Kniescheibe geschlagen, dass ein Riß drin war. In der linken Kniescheibe. Ich habe danach lange Zeit gelahmt, auch in Hoheneck noch. Aber ich habe keinem erzählt, wovon das war. Aus lauter Angst.

Ich sollte eingestehen, dass der geflüchtete Offizier mir gesagt hat, er wollte fort. Sonst haben sie mir nichts getan, nur immer grelle Lampen direkt ins Gesicht … Und das Urteil in Potsdam, das war russisch. Das mußte man unterschreiben. Aber man konnte es nicht lesen.“

Die DDR war gerade dreizehn Tage alt, als ihre Bürgerin Margot Schlieker, damals noch Fuhrmann, vom NKWD verhaftet worden war. Sie gehörte zu den ersten, die nicht mehr über das sowjetische SPEZLAG Sachsenhausen, sondern direkt aus der russischen Untersuchungshaft nach Hoheneck kamen – gerade zur Entbindung zurecht:

„Die Mütterstube in Hoheneck war das Furchtbarste – ja, das Furchtbarste! –,was es überhaupt gab! Die Entbindung im sogenannten Krankenhaus erst, in diesem Krankenbau, die war glatt menschenunwürdig! Alle Turmposten waren dabei, buchstäblich jeder von den Kerlen, der sowas mal sehen wollte. Das ging ‚Achtung! Die Entbindung! Kommt schnell!’ durch den ganzen Bau. Und dann kamen die Kerle an und starrten mir auf den Bauch…

Ja, alle, die Lust hatten, haben zugeguckt. Wenn ich heute noch daran denke…! Und hinterher – ebenso fürchterlich! Da gab es nichts zu essen. Nur Hirse – und die war angebrannt. Und man hatte doch soviel Hunger. Hinterher, nach der Anstrengung. Man wollte doch so gerne was essen! – Nein, es war grauenhaft.“

Es entzieht sich jeder Beschreibung, was Schwangerschaft, Entbindung und Wochenbett hinter Gefängnismauern bedeuten – schon ohne solche Brutalitäten. Nicht ohne Grund nimmt in zivilisierten Staaten selbst bei schweren kriminellen Delikten das Strafrecht Rücksicht auf die besondere Situation von Gebärenden und Wöchnerinnen. In der Sowjetunion dagegen wie auch in der DDR hätte solch rücksichtsvolle Menschlichkeit den gefährlichen Ruch des „Versöhnlertums“ gehabt. Die „Mütterstube“ in Hoheneck war nichts anderes als eine kahle Doppelzelle, nicht besser als die der anderen Gefangenen. Dass sie als „Stube“ bezeichnet wurde, war im Grunde der pure Hohn:

„Uns in der Mütterstube hatten sie dunkelblaue Kleider verpaßt. Dicker Stoff, Stehkragen und hier vorne Knöpfe so herum. Aber stillen konnte ja fast keine. Milch für die Kinder konnten – oder mußten – wir uns aus der Küche holen. Einen Viertelliter pro Tag, den wir mit Wasser verdünnten.

Die sogenannte Mütterstube war immerhin nicht zugeschlossen wie die Zellen sonst. Wo diese ‚Mütterstube‘ eigentlich lag, könnte ich jetzt nicht mehr sagen. Zu dem übrigen Gefängnisbetrieb hatten wir ja keinen Kontakt. Ich sehe mich nur noch mit einem kleinen Topf in der Hand zur Küche gehen. Eine Totenstille war. Auf einmal kommt ein Offizier in dunkelblauer Uniform, schon älter, und fragt: ‚Wo wollen Sie hin? Und wo kommen Sie her?’ Ich bin ganz perplex. Denn wir haben doch keine Männer bei uns im Haus gesehen, überhaupt nicht. Bloß die Torposten. Und da sage ich ganz verdattert: ‚Ich komme aus der Mütterstube und gehe in die Küche, Milch holen.’ Jede holte sie sich da für ihr Baby extra, alleine.“

Es war der Anstaltsleiter gewesen, dem Margot zu ihrem Unglück über den Weg gelaufen war. Denn das Gespräch blieb nicht ohne Folgen – und in Hoheneck waren Folgen fast immer nur negativer Natur. Drei Tage später wurde den Müttern verboten, selbst in die Küche zu gehen. Die Milch wurde nun gebracht und vor der Türe der Mütterzelle abgestellt. Auch der letzte bescheidene Kontakt zu anderen Kameradinnen war den Müttern damit genommen. Nun waren sie völlig von allen abgeschnitten – in der Isolierung noch einmal isoliert! Darunter litten alle:

„Es war zwar immer beim Milchholen Polizei dabei gewesen, aber immerhin – doch immer mal ein paar Schritte heraus aus der Enge und ein paar andere Gesichter sehen. Nun waren wir in der Mütterstube ganz eingesperrt!“

Kamen sie überhaupt je aus ihrem Raum heraus, etwa zum Rundgang auf den Hof, an die freie Luft, mit oder ohne Kinder? Margot Schlieker kann sich beim besten Willen heute daran nicht mehr erinnern. Die quälenden Eindrücke jener Zeit sind zu übermächtig geblieben – vor allem die Sorge um die Ernährung der Kinder:

„Zu der verdünnten Milch gab es immer einen Brei, einen grauen Brei. Süßlich war er, wahrscheinlich aus Hirse oder gemahlenem Reis. Obst oder mal Gemüse, eine Möhre vielleicht – nein, das gab es überhaupt nicht. Von Mohrrübensaft oder irgendwelchen Saftgetränken für Kinder oder Mütter haben wir nicht einmal geträumt! Was wir hatten? Irgendwelches miese Trockengemüse, Kartoffelschalen praktisch – und Wasser.“

Soweit man weiß, haben alle Kinder diese Mangelernährung überlebt. Ob sie Spätschäden – und wenn, dann welche – verursacht hat, hat niemals jemand zu erforschen versucht. Von einem „beth-lehemitischen Kindermord“ mit modernen Mitteln ist also nicht zu berichten. Doch auch der übliche „Hohenecker Kinderraub“ schlug Müttern und Kindern tiefe Wunden. Zum ersten Male fand er in besonders perfider Form im April 1950 statt. Das jüngste Kind war, als es der Mutter entrissen wurde, gerade sechs Wochen alt. Auch die Säuglinge und kleinen Kinder, die in Sachsenhausen geboren und im Januar des Jahres mit ihren Müttern nach Hoheneck gekommen waren, gingen mit auf diesen Transport. Später, vor allem nach 1950, wurden die Gepflogenheiten etwas milder. Schwangere SMTerinnen konnten nach Lage der Dinge allerdings nun kaum noch davon profitieren.

„Ja, die Mütterstube …! Das war ein einziges Elend! Bis sie uns die Kinder überhaupt weggenommen haben! Da hatten sie uns alle in die Ambulanz geholt – zu einer Untersuchung oder irgend so einer Sache. Und als wir zurückkamen, waren die Bettchen alle leer …

Danach haben wir nichts gehört vier Jahre lang! Gar nichts gehört! Erst kurz vor der Entlassung im Januar 1954 – einige schon ein halbes Jahr vorher – haben manche – nicht alle! – Bescheid gekriegt, dass die Kinder in Leipzig im Heim sind. Und es gab ein Foto. Aber wir waren drei, wir haben nichts gekriegt, kein Bild, rein gar nichts. Man wußte überhaupt nicht, ob man nach den Jahren sein Kind noch erkennen würde! Sie hatten es uns doch weggenommen, als es noch in den Windeln lag!

Ich weiß es noch genau, wir waren fast die letzten von denen, die in der Mütterstube gewesen waren. Da hieß es, es wird ein Sammeltransport gemacht, nach Leipzig, wo das Kinderheim war. So sind wir mit der grünen Minna dahin gebracht worden, um die Kinder von da gleich mitzunehmen.

Wir sind dann mit den Kindern nach Leipzig zum Bahnhof gebracht worden. Die eine Frau – so eine Schwarzhaarige war sie, aber ich will ihren Namen nicht nennen, es war eine Kriminelle, keine von uns – die hat dort ihren Jungen einfach stehen lassen!

Ich sehe den Jungen noch vor mir… Sie war keine böse Frau – nein, das war sie eigentlich nicht. Vielleicht war sie so verzweifelt – selber gerade aus der Haft, ohne Geld und ohne Bleibe – und nun noch das Kind. Da hat sie vielleicht Angst gekriegt vor der Verantwortung? Ich weiß es nicht. Jedenfalls ist der Zug ab … wir waren alle zusammen in einem Abteil. Der Zug ist abgefahren. Und das Kind stand am Bahnsteig. Es hat so auf eine Art geschielt. Sie kam nicht mehr ins Abteil zurück. Und das Kind stand da. … – Die waren alle egal angezogen, die Kinder.“

Auch Rabenmütter in Hoheneck also? Wer sich, wie die „Politischen“, jahrelang nach seinem Kind verzehrt hatte, hätte es um keinen Preis wieder hergegeben wollen. Aber Hoheneck war nicht nur berüchtigtes Zuchthaus für politisch Verfolgte. Seit den frühen 50er Jahren und später immer häufiger wurden auch Kriminelle dort eingeliefert – zur Plage und oft sogar handgreiflich-handfesten physischen Pein der politisch verurteilten Frauen.

Seit 1951 gab es überhaupt keine schwangeren SMTerinnen mehr. Nur noch Kriminelle kamen jetzt in Hoheneck in die Mütterstube, die diesen Namen inzwischen – fast! – verdiente. So erinnert sich Gisela Britten. Sie war im Krankenbau von Hoheneck lange als Schwester eingesetzt.

„Ich habe mal nachgerechnet, ungefähr sechzig Geburten habe ich mitgemacht, darunter ein Großteil Kriminelle, die ja nach Hoheneck oft nur zur Entbindung kamen, dablieben, bis sie abgestillt hatten, und dann kamen sie wieder weg. Aber da waren Leute dabei …!

Wir haben die Kinder ungefähr bis zum vierten, fünften Monat behalten. Manche sogar länger, einige konnten schon laufen. Wir hatten immer so fünf, sechs, manchmal auch sieben in den Betten. Die Kinder kriegten alles, was nötig war. Die Oberrätin hat sich sehr eingesetzt für die Kinder …

Diese Oberrätin war eine kräftige, stramme Person, ihre dunkelblaue Uniform war stets auffallend gepflegt. Sie verhielt sich immer sehr distanziert und kühl. Doch sie blieb immer korrekt. Für die Kinder hat sie sich also sehr eingesetzt. Von Hoheneck kamen die dann nach Meusdorf und anschließend nach Leipzig. Sie waren gesund und munter, wenn sie weggingen von uns. Den Kindern hat nichts gefehlt. Wir haben sie betreut, gefüttert und so.“

Das waren ja nun auch nicht mehr die „Verbrecherkinder“ der hart verfemten SMTerinnen, die weit unter jeder Schwerkriminellen rangierten – nach dem Motto: „Jeder Mörder ist uns lieber als Sie!“

Doch auch in der Schilderung dieser scheinbar inzwischen so freundlichen Baby-Welt verbirgt sich kalte Unmenschlichkeit: Die Mütter, die ihre Kinder im Hause ganz nahe wußten, waren und blieben streng von ihnen getrennt. Nur wer stillen konnte, sah sie wenige Monate lang dabei für wenige Minuten am Tag. Die Freude, die kleinen Wesen zu betreuen, ihre Körperchen zu streicheln, das erste Lallen zu hören und sie zum ersten Male lächeln zu sehen, blieb den fremden Frauen vorbehalten, denen die Anstaltsleitung die Pflege der Kleinen anvertraut hatte.

Auch wegen krimineller Delikte Bestrafte waren und blieben ihren Familien, ihren Kindern natürlich oft liebevoll verbunden. Kriminelle Personen waren aber auch für jede Überraschung gut, wie nicht nur Gisela Britten erfahren mußte:

„Eine von diesen Kriminellen hat es dann fertiggebracht, als sie entlassen wurde, mit ihrem Sohn, den ich betreut hatte, zu meinen Eltern zu gehen. Da hat sie dann abgesahnt – aber wie! Sie hat erzählt, sie wäre mit mir sehr befreundet und ich hätte ihren Sohn so gut betreut. Das stimmte ja. Aber das habe ich ja nicht ihr zuliebe getan. Sie hat meine Eltern regelrecht ausgenommen und ist auch noch zu den Eltern von zwei anderen SMT-Kameradinnen gegangen, die sie aus Hoheneck kannte.“

Noch heute wundert sich Margot Schlieker leise, wenn sie an das Wiedersehen in Leipzig denkt, dass die Kinder freiwillig mit diesen unbekannten Frauen, die ihre Mütter ja für sie geworden waren, einfach mitgegangen sind:

„Wir waren doch völlig Fremde für sie! Aber es lag wohl daran, dass es da im Heim sehr, sehr streng gewesen sein muß. Ja, furchtbar eingeschüchtert ist er brav mit mir mitgegangen. Weil er sich gar nicht getraut hat … Er hat kein einziges Wort gesprochen. Ordentlich angezogen waren sie ja – für die damalige Zeit. Alle hatten einen dunkelblauen Trainingsanzug an, einen Schal, eine blau-rote Mütze dazu. Denn es war ja Januar, als wir sie holten.

Mein Junge hat sich lange kaum zu weinen gewagt. Wenn etwas war, dann hat er nur so ganz, ganz leise geweint und immer die Hand vor dem Mund. Die durften wahrscheinlich dort nicht weinen oder schreien und nur ganz leise sprechen. Es hat lange, ach, ich weiß gar nicht mehr, wie lange gedauert, noch ewig, bis er sich wie ein normales Kind benahm. Das war dann wohl endlich, als er so sechs war. Und vier war er, als ich ihn wiederbekam … immerhin zwei Jahre, bis er das Schlimmste überwunden und vergessen hatte.“

Ein Kinderheim wie aus böser KZ-Vergangenheit. Neue Forschungen, auf die noch zu kommen sein wird, bestätigen die unmenschliche Härte vieler Erzieherinnen. Doch auch unter ihnen muß es ab und zu eine Frau gegeben haben, die ein mütterliches Herz für die Kinder hatte. Eine Bekannte der Familie scheint das Kind an eine solche Frau erinnert zu haben. Wenn sie zu Besuch kam, ging der sonst so scheue Kleine von allein zu ihr hin und schmiegte sich an ihre Seite. Im Bilde des großen Kinderelends soll dieser schmale Lichtstreif nicht unterschlagen werden. Bei der Heimverbringung der Kinder ging es offensichtlich nicht um ihre Versorgung, sondern um ganz andere Ziele. Denn häufig bemühten sich Großeltern oder andere Verwandte darum, die Kinder aufzunehmen. Bei politischen Gefangenen war solches Verhalten sogar die Regel – sofern es überhaupt noch unverhaftete Familienmitglieder gab. Aber nur der Familie einer einzigen SMTerin ist es je gelungen, ihr Enkelkind dem grausamen Kinderheim-Regiment der DDR zu entreißen. Margot Schliekers Eltern gehörten zu den anderen vielen, die keine Chance gegen die Behörden hatten:

„Ich hatte kein Bild meines Kindes, ich wußte nicht mal, wie es ihm überhaupt geht. Meine Mutter wollte es zu sich holen. Aber die haben es ihr nicht gegeben. Erst mal hat sie angefragt, wie es dem Kind überhaupt geht und wo es ist. An die Polizei ist das gegangen, in Leipzig. Und da haben sie geschrieben, das Kind ist im Kinderheim da und da.

Ich habe das Schreiben noch: Es ist von 1951. Da war der Kleine schon ein ganzes Jahr alt! ‚Wie uns das Kinderheim mitteilte, befindet sich das o.g. Kind in einem guten Gesundheitszustand und entwickelt sich seinem Alter entsprechend sehr gut. Irgendwelche Beschwerden traten bei ihm nicht in Erscheinung. Unterschrift: Volkspolizeipräsidium Leipzig.’

Für deren Begriffe war das wahrscheinlich schon sehr menschenfreundlich. In Hoheneck dachten sie da ganz anders. Ich habe es erst sehr viel später erfahren. Denn als meine Mutter mir das dann geschrieben hat, haben sie es in Hoheneck herausgeschnitten. Es wurde ja doch immer sehr viel rausgeschnitten, aus den Briefen … Da kamen ja manchmal so richtige Scherenschnittdeckchen an. Das war das, was nach der Zensur noch übrig geblieben war, was kaum mehr zusammenhielt. Das weiß ich noch. Und ein Bild bekam ich in Hoheneck gar nicht.“

Vieles, was im Namen der „sozialistischen Gesetzlichkeit“ geschah, hing von menschlicher Willkür ab. Nur manchmal waren Glück oder Zufall mildernd im Spiel. Dem waren auch die Frauen von Hoheneck ausgeliefert. Wer ein Bild seiner Angehörigen haben durfte und wer nicht, hing zum Beispiel von solchen Umständen ab. In besonderem Maße galt das für die Jahre 1950 bis 54, die Ära der SMTerinnen.

Im Juli 1950 hatte Thea Kösel in Hoheneck ihr zweites Kind zur Welt gebracht:

„Die Bedingungen bei der Geburt? Frage nicht! Alles andere als schön, kann ich dazu nur sagen. Dann die Mütterstube: Da waren ein paar Kinderbetten mit Strohsack, und da wurden die Kinder dann hineingelegt. Meine Tochter ist bald verhungert, weil ich selbst keine Nahrung hatte. Wenn eine andere Kameradin, die heute nicht mehr lebt, sie nicht ein paar Mal gestillt hätte, bis sie über den Berg war, hätte das Kind gar nicht überlebt!

Haferflocken gab es für die Kinder, aber die ungereinigten, groben Haferflocken mit den Schalen drin. Und diese Spelzen sind hart und spitz. Meine Tochter hat sich gekrümmt und gewunden davon und vor Schmerzen geschrien. Da habe ich dann in der Küche gebeten – wir kriegten ja jede Woche auch einmal Haferflocken – wenn sie uns das geben würden – wir hätten uns das für die Kinder ja gerne selber gemacht. Da hat der Polizei-Küchenchef gesagt, ‚Ja ja, wir werden euren Kindern noch Zucker in den Hintern blasen!’“

Nach vier Monaten kam, wie üblich, auch die kleine Susanne Kösel in ein Heim. Es war kurz vor Weihnachten, als man sie ihrer Mutter aus den Armen nahm – für wie lange? Frau Kösel war zu fünfundzwanzig Jahren verurteilt gewesen. Da sie schwanger war, wurde die Strafe jedoch „gnadenhalber“ auf zehn Jahre Zwangsarbeit herabgesetzt:

„Nachdem ich abgeurteilt und in die Zelle gebracht worden war, wurde ich plötzlich noch einmal aufgerufen und mußte runter kommen, und da haben sie gesagt – nochmal dieses selbe Gericht zusammen –,sie hätten sich entschlossen, mich zu begnadigen – und nun sollte ich mich darüber freuen! – Ach, mir war doch alles egal! Zehn Jahre – oder fünfundzwanzig …?!“

Ja, wer hat schon die Nerven, über eine Strafe von „nur“ zehn Jahren Freude zu empfinden? Für die Behandlung während der Untersuchungshaft hatte Theas Schwangerschaft übrigens keine Rolle gespielt:

„Ich habe genauso gehungert wie alle anderen. Selbst das wenige, was es gab – ach, ich konnte ja überhaupt nichts essen, solches Sodbrennen habe ich gehabt. Der Kaffee – diese undefinierbare braune Brühe – dazu gab es nur trockenes Brot. Ich habe gedacht, in der Plörre ist Süßstoff drin. Nachher, später, haben sie mal gesagt, da ist Marmelade drin gewesen. Meistens hätten die mit Marmelade gesüßt. Das war dann dermaßen süß – richtig widerlich! Und das Innere vom Brot, das war wieder fürchterlich sauer. Das konntest du gar nicht essen. Und da habe ich nur die Rinden abgemacht und gekaut. Ich bin nicht so lange in Potsdam – in Untersuchungshaft – gewesen. Vom November bis zum März. Dann bin ich da weggekommen. Da war ich im sechsten Monat. Mit der Kleidung kam ich immer noch zurecht. Denn vor Hunger und Aufregung wurde ich ja statt dicker immer dünner.“

Was für sie das Schwerste in ihrer Haft gewesen sei? Thea muß für die Antwort keine Sekunde überlegen: Die Sorge um den in Bautzen inhaftierten Mann und die Kinder. Die Erstgeborene war erst drei gewesen, als nach Vater und Großmutter auch die Mutter noch abgeholt worden war. Ein Kleinkind von drei Jahren, unversorgt und allein in der Wohnung – was für Schreckensbilder ruft diese Vorstellung auf!

Auf der Treppe hatte Frau Kösel ein Nachbarskind getroffen. An diesem jungen Mädchen hing nun ihre ganze Hoffnung:

„Christina schläft oben. Ich gebe dir mal den Schlüssel. Ich muß hier mit. Vielleicht guckst du mal nach ihr?’ hatte ich ihr gerade noch sagen können. Bei den Verhören habe ich dann immer gefragt, was meine Tochter macht. ‚Der geht es gut’ und ich sollte mir keine Sorgen machen, kriegte ich immer zur Antwort. ‚Morgen sagen wir Ihnen, wo sie ist.’ Und so jedes, jedes Mal, wenn ich fragte. Immer war es ‚das nächste Mal…’, wo sie mir sagen wollten, wo meine Dreijährige nun war. Das war dann auch noch ein Terror gewesen von ganz besonderer Art. Es war eine Hölle – und das in meinem Zustand! Ich hatte manchmal überhaupt kein Empfinden mehr, kein Gefühl oder sonst irgend etwas – gerade so, als wäre ich schon tot …“

Wie es ihrem Mann ergangen war, erfuhr sie auf schockierende Weise schon im März auf dem Transport über Bautzen nach Hoheneck. Was sie dabei zu hören bekam, konnte ihr das Herz nur noch schwerer machen:

„Wir waren einige Frauen und einige Männer auf dem LKW. Sprechen durften wir zwar nicht. Aber vorsichtig, fast ohne die Lippen zu bewegen, hat mir dann doch einer zugeraunt: ‚Ach, Sie sind Frau Kösel? Na, ihr Mann, als der aus dem Karzer kam, kam er zu uns. Wir wußten nicht, ist das ein Mensch oder ist das ein Tier? So war er zugerichtet.’ –

Er hatte dreiundzwanzig Tage im Karzer gesessen, war bis zur Bewußtlosigkeit geschlagen worden und wurde dann mit Wasser übergossen, damit er wieder zu sich kam. Am Tage dann in die überheizte Zelle zum Verhör. So ging das dreiundzwanzig Tage lang. Als er aus dem Karzer kam, hatte er eine Lungenentzündung. Diese Lungenerkrankung hat dann mit den weiteren Folgen der Haft nach neun Jahren in der Freiheit zu seinem frühen Tod geführt. Da war er erst fünfundfünfzig. Als jungen, gesunden Mann von einundvierzig hatten sie ihn verhaftet.“

Mit der Verhaftung waren die Kösels für ihre Umwelt spurlos verschwunden, genau so wie Tausende vor ihnen schon in der Besatzungszone der Sowjets. Die Gründung der DDR, die ja inzwischen erfolgt war, hatte daran vorerst gar nichts geändert. Allerdings – für Thea dauerte es nur ein knappes Jahr, bis sie ihr erstes Lebenszeichen nach draußen senden durfte. Seit dem Sommer 1950 durften in Hoheneck jeden Monat 15 Zeilen geschrieben und empfangen werden. Da endlich erhielt Frau Kösel die Antwort auf die Frage, die ihr auf der Seele brannte: Wer hatte sich ihrer kleinen Tochter Christina angenommen? Wo lebte sie, wie erging es ihr?

„Die Nachbarn hatten Christina zu sich genommen und dann durch Bekannte meine Tante in Westberlin verständigt. Die hat sich zuerst auch nicht hingetraut. Mit einer Nachbarin ist sie aber dann gekommen und hat Christina geholt. Wenig später war der Russe da und wollte sie selber holen …“

Der in der Haft geborenen kleinen Schwester Susanne war das Glück versagt geblieben, in der eigenen Familie aufzuwachsen. Auch Frau Kösels Verwandte bemühten sich vergeblich:

„Einmal – ich kann heute nicht mehr sagen, in welchem Jahr – haben wir Bilder bekommen. Da konnte Susanne schon gehen. Sie stand in einem Kinderbettchen. Aber alle Bemühungen meiner Verwandten in Westdeutschland und auch in Leipzig, Susanne zu sich zu nehmen, waren vergebens. Das Kind blieb – unter Polizeiaufsicht! – im Kinderheim der Volkspolizei und wurde niemandem ausgehändigt. Selbst Besuche von Angehörigen wurden verweigert. Begründung: Es handele sich um Politische, und da habe niemand Zugang. Aber was hatte das kleine Kind wohl mit Politik zu tun?!

Auf Susannes Geburtsurkunde steht ‚Geboren in Hoheneck / Stollberg.’ Nicht etwa Zuchthaus oder Gefängnis oder so, gar nichts. Wer da nicht Bescheid weiß, denkt, es war eben im Erzgebirge. So hat ja auch die Behörde in Westdeutschland ihr gesagt: Sie sei doch im Kinderheim gewesen und sei gar nicht festgehalten worden … Aber was für ein Kinderheim! Das haben wir am Schluß noch selber erfahren. Wir sind mit dem VP-Wachtmeister Hammer aus Hoheneck hingefahren, mit dem Bus. Wenn der nicht dabei gewesen wäre, hätten wir sie nicht rausgekriegt. Die wollten sie uns zuerst wirklich nicht rausgeben. Es war ein Polizeikinderheim. Unsere kleinen Kinder standen regelrecht unter Polizeiaufsicht. Es waren ja noch mehr Kinder da von unseren – von anderen Müttern gar keine.“

Ihrem jeweiligen Alter entsprechend wurden die Gefangenenkinder offenbar durch verschiedene Kinderbewahranstalten der Volkspolizei geschleust. Erst heute, nachdem die Akten zugänglich sind, ist ihr Leidensweg zu verfolgen. Das gestörte Verhalten aller Kinder, die in solchen Einrichtungen gehalten worden waren, sprach aber schon damals eine deutliche Sprache. Dass aber nicht nur die Kinder von Ängsten gebeutelt waren, zeigen Berichte wie dieser von Thea Kösel:

„Susanne hat ins Bett gemacht – vor Angst – und vor allem Möglichen! Ich durfte kein Licht ausmachen – ‚Nicht dunkel, nicht dunkel!’ hat sie immer geschrieen. Und Tante und Onkel hat sie gesagt zu uns … Sie hat sehr lange unter solchen Ängsten gelitten. Dann hat sie – noch mit vier Jahren – eine Hilusdrüsen-TB gehabt.

Aber wir waren ja selber so angeschlagen! Wenn ich mich daran erinnere … Wir hatten ja solche Angst, dass sie uns wieder rüber holen – aus dem Westen wieder zurück! Genug Beispiele für Entführungen gab es ja. Niemand von uns hat groß ein Wort darüber gesprochen, wo wir hergekommen sind, weil die Angst so in einem steckte. Ja, auch in Westberlin.

Wir – meine Mutter, die ja mit mir in Hoheneck eingesperrt war, und ich – wir sind in Leipzig in den Zug gestiegen – und Susanne hat geschrien, geschrien! Die wollte nicht in den Zug, weil dieser große Zug – nein, ich weiß auch nicht, warum. Sie hat eine Angst gehabt, unbeschreiblich. Dann fiel uns ein Mann auf … Als wir dann nach Westberlin kamen, hat man uns beruhigt. Aber da waren wir schon so verängstigt durch alles, dass wir kaum wagten, uns zu unterhalten. Denselben Mann habe ich nachher in West-Berlin ein paar Mal gesehen – auch als wir dann im Auffanglager mal beim Amerikaner waren, wo wir diese ganzen Fragebogen ausfüllen mußten . Ich war wie versteinert. Ich habe mich nicht getraut, damals zu sagen, das ist der Mann. Ob das nun ein Spitzel oder sonstwas war? Ich weiß es nicht. Es steckte einem ja immer noch diese unsagbare Angst im Rücken. Es hat Jahre gedauert, bis ich die halbwegs überwunden hatte.“

„Halbwegs überwunden“, sagt Thea Kösel heute. Wenigstens ihre Lebensführung, ihre Alltagsentscheidungen sind nicht mehr von irrationaler Angst bestimmt. Zwangsträume, wiederkehrende Angstzustände ohne nennbaren und erkennbaren Grund aber machen ihr bis heute das Leben schwer – wie vielen, allzu vielen Menschen, die damals dem NKWD in die Hände fielen. Aber für immer bleibt ihr, bleibt allen gefangenen Frauen jenes Glück der Mutterschaft verwehrt, das durch die Jahrzehnte leuchtet und die Herzen ein Leben lang wärmt: den neuen kleinen Erdenbürger bei seinen ersten Schritten ins Leben zärtlich zu leiten.

Auch wer Kinder draußen zurücklassen mußte, trägt für immer die schmerzende Narbe eines großen Verlustes im Herzen. Selbst wer hoffen durfte, sie seien gut und behütet aufgehoben, durfte sie ja nicht heranwachsen sehen.

Deutsche Frauen vor sowjetischen Militärtribunalen

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