Читать книгу Der Zauber des Mt. Kamui - Annette Droste - Страница 4

Kapitel 1

Оглавление

Wie so oft erwachte ich schweißnass aus einem Albtraum, der mich schon seit einer halben Ewigkeit verfolgte. Mein Herz schlug immer noch heftig, während ich mir einerseits genervt, aber auch andererseits erschöpft die goldblonden, klebrig nassen Strähnen aus dem Gesicht strich. Nach diesem Traum war es wie sonst auch schwierig, den Morgen zu begrüßen, der sich quälend durch die dicken Vorhänge meines winzigen Fensters in mein zwergenhaftes Zimmer drängte.

Genervt seufzte ich und musterte meine neuen vier Wände, die ich seit einer geschlagenen Woche nun bewohnte. Mein vorübergehendes Heim, in dem ich Unterschlupf gefunden hatte. Ganze fünfzehn Quadratmeter, gefüllt von Unmengen an Pappkartons, randvoll mit meinen Habseligkeiten aus einem früheren Leben. Bisher hatte ich es noch nicht gewagt, sie auszupacken, weswegen das einzige nutzbare Möbelstück mein Bett war, denn der Rest war vollgestellt.

Ich brummte leise vor mich hin, drehte mich um und schob meine nackten Füße über die Bettkante, herab zu meinen pinken, überaus flauschigen Pantoffeln. Sie waren sehr kitschig, jedoch ließen sie mich jedes Mal aufs Neue lächeln und dies nicht einmal sarkastisch, denn sie erinnerten mich an bessere Zeiten.

›Warum wurde ich nur so gestraft? Ist mein Karma denn so schlecht oder warum geriet mein Leben so aus den Fugen?‹

Seufzend stand ich mit Schwung auf und streckte mich gen Decke, nur um, wie fast jeden Morgen, gegen die tief herabhängende Deckenleuchte zu krachen. »Argh…«, fluchte ich schmerzverzerrt und rieb mir den brummenden Schädel. Wieso mussten bitte diese Dinger in Japan immer nur so tief hängen? Mein Blick glitt herauf zu dem Lampenschirm, den ich des tätlichen Angriffs beschuldigte. »Unmöglich«, knurrte ich leise und stupste leicht aggressiv den Papierschirm an, welcher daraufhin einfach freudig hin und her schwang. Diese Lampen waren gemeingefährlich und sollten ohne Umschweife verboten werden. Am liebsten hätte ich sie gleich heruntergerissen, doch mir gehörte diese Wohnung nicht, sondern meinem Vater.

›Warum wohnt mein Vater bitte in solch einer schäbigen Wohnung? Es ist eng, stickig, weist nur kleine Fenster auf und… es sieht nicht gerade einladend aus.‹

Ich verstand es einfach nicht, wieso er diese Wohnung bezogen hatte, wo bei seinem Gehalt etwas Schickes drin gewesen wäre, wie ich es einst besessen hatte. Leider redete ich da nur gegen eine Wand. Mein Vater war genauso ein Dickkopf wie ich, sodass es einfacher gewesen wäre, gegen Windmühlen zu kämpfen.

Meine flauschigen Pantoffeln schlurften über den Boden, während ich mich zur Tür aufmachte. Langsam schob ich sie auf und starrte nur auf eine weiße triste Wand, die schon an einigen Stellen vergilbt war.

Kurz blickte ich nach links und dann nach rechts. Mein ganzer Körper war verspannt, bis ich bemerkte, dass mein Vater anscheinend bei einer seiner Vorlesungen in der Uni war. Somit war ich erst einmal sicher vor meinem mich bemutternden Vater, der überaus peinlich sein konnte und dabei war ich kein Kind mehr, sondern 27 Jahre alt. Eine erwachsene Frau.

Geschwind nutzte ich die freie Schussbahn und schritt zum Bad, entledigte mich meines weißen, langen Seidennachthemdes aus meinem einst besseren Leben und riss den Wasserhahn auf. Mit einem Satz sprang ich ins kühle Nass der Dusche, dessen Wasserdruck so unregelmäßig war, dass man es für einen Duschmassagekopf halten könnte. Wenn es nur das wäre…

Ich keuchte kurz gequält auf, als das eiskalte Wasser über meinen Kopf und meine Glieder floss. In meiner alten Wohnung hatte ich immer sofort heißes Wasser gehabt, doch hier war es ganz anders. Wie ein Hund schüttelte ich mich kurz, bevor ich sofort mit der Körperwäsche begann, um einen Tod durch Erfrieren zu verhindern. Heiß duschen war in dieser Wohnung wahrlich ein Fremdwort, was ich schmerzlich erkennen musste. Zu Beginn meines erzwungenen Einzugs hatte ich nämlich noch versucht an das heiße Nass zu gelangen, doch musste ich nach einer geschlagenen halben Stunde feststellen, dass das Wasser anstatt wärmer, nur noch viel kälter wurde.

Gratulation, ich war vom Regen in die Traufe gekommen. Ich konnte meinen Vater nicht verstehen, wie er unter solchen Umständen leben konnte.

Es vergingen fünf Minuten, bevor ich den Hahn schnell zudrehte und einmal tief durchatmete. Eins hatte das kalte Wasser für sich, es hatte meinen Albtraum gänzlich verjagt. Man konnte sagen, ich hatte ihn zusammen mit dem Angstschweiß fortgespült.

In meinem Leben war ich schon sehr vielen Psychiatern begegnet, die allesamt versucht hatten, meinen immer wiederkehrenden Traum zu ergründen, doch Fehlanzeige. Nach der Meinung dieser promovierten Fachleute war alles nur ein Hirngespinst, welches ich als Kind erschaffen hatte, um der Realität und Wahrheit zu entfliehen. Sie hatten es als Trauma aus Kinderzeiten hingestellt, welches so schlimm gewesen sein musste, dass ich den Schreckensmoment so in Gedanken verändert hatte, um weiter mit meinem Leben klar kommen zu können. Kinder machten das, doch ich war jetzt erwachsen und nichts hatte sich verändert.

Immer noch besuchte es mich fast jede Nacht, das schwarze Monster mit den leuchtenden Augen und den gefletschten Zähnen.

Niemand, aber auch wirklich niemand hatte es geschafft, meine verschollene Vergangenheit zu ergründen, sodass mir auch noch heute verwehrt blieb, mich direkt an dieses besagte Trauma zu erinnern und nicht einmal mein Vater verlor ein Wort darüber, was damals geschehen sein könnte. Ich verabscheute ihn manchmal dafür, dass er die Vergangenheit totschwieg. Aus seiner Sicht war es für mich angeblich das Beste, obwohl ich nicht mehr sein kleines Mädchen war, dass die Wahrheit vielleicht nicht verkraften könnte.

Schwerfällig wanderte ich aus der Dusche zum Spiegel über dem Waschbecken, das erfreulicherweise keinen Meter in dieser Abstellkammer von Badezimmer entfernt war. Doch was ich dort sah, war einfach nur erschreckend. Nein, besser ausgedrückt, ich sah einfach nur schrecklich aus. Vorsichtig näherte ich mich dem Schauermonster im Spiegel und versuchte es mit einem freundlichen, für mich typischen Lächeln, zu vertreiben.

»Guten Morgen, Arisu Suzuki«, hauchte ich zuckersüß, bevor ich stoßweise die Luft aus meinem Mund ließ. Meine Mutter, die Götter hatten sie selig, war eine waschechte Japanerin aus dem Bilderbuche gewesen. Sie hatte damals an der Uni studiert, in der mein Vater als Dozent gearbeitet hatte. Er war Amerikaner, durch und durch, doch was war ich? Ich war halb Japanerin – halb Amerikanerin. Die Gene meines Vaters hatten sich in vielerlei Aspekten durchgesetzt, darunter waren meine langen blonden Haare, die sich in schwungvollen Wellen an meinem Körper entlang bewegten, wie auch meine azurblauen Augen und die Tatsache, dass ich mit 1,80 m größer war, als die meisten Japanerinnen und Japaner.

Nur die Hautfarbe stammte eher von meiner Mutter, denn wie sie, war auch ich sehr blass, während mein Vater stark gebräunt war. Ein Grund dafür, warum ich Lichtschutzfaktor 50 ständig bei mir trug, um keinen Sonnenbrand zu bekommen.

Zuletzt waren da aber auch noch meine Augen. Die Augenform war ein Mischmasch aus beiden Elternteilen und verlieh mir diesen besonderen Touch, sodass ich fast schon fremdartig zwischen ihnen wirkte. Zum Glück waren die Menschen heutzutage aufgeschlossen, und trotzdem fühlte ich mich immer wieder wie eine Fremde.

Schon zu Schulzeiten war es extrem gewesen. Ein blondes kleines Mädchen zwischen lauter schwarzhaarigen Kindern. Sozusagen ein weißes Schaf in einer schwarzen Herde. Sofort hatte man mich zu einer Draufgängerin, wie auch zu einem aufmüpfigen Biest erklärt, ohne dass ich etwas angestellt hatte. Jedoch musste ich zugeben, dass ich etwas Gefallen daran fand, da man mich nicht einfach als langweilige Frau abstempelte. Aber mein Aussehen hatte im gewissen Maße auch negative Faktoren, denn genug Männer starrten mich unentwegt an. Einerseits gefiel es mir ja, doch manchmal war es störend, wenn man meine Qualitäten verkannte und nur auf Äußerliches achtete.

Langsam wanderte mein Blick tiefer auf meine üppige Oberweite, die natürlich auch dem Geschenk der Gene meines Vaters zu verdanken war, da diese Größe nicht der japanischen Norm entsprach. Sogar meine Hüften hatten einen gewissen Schwung. Gefährliche, aber zurzeit unbefriedigte Kurven.

Viele Frauen waren neidisch auf mein Aussehen und schwärmten davon, doch mit meinen 1,80 m war das Leben um einiges schwerer, wenn es darum ging, einen Partner zu finden. Manchmal hatte ich natürlich einen Partner der körperlichen Art, doch darüber hinaus gab es meist nie etwas. Wenige Männer standen auf große Frauen und ehrlich? Ich sehnte mich selbst nach einem großen Mann mit einer starken Schulter auf meiner Kopfhöhe, der mich vielleicht auch einmal auf Händen tragen könnte.

Schmollend blickte ich mich an, bevor ich mein Haar kurz mit dem Handtuch frottierte und dieses dann elegant um meinen Körper wickelte. Gemächlich durchquerte ich den tristen Flur, bis ich mein Zimmer erreichte und mir dort einen alten verblassten grauen Pulli überstülpte, bevor ich mich in ein graues Höschen und eine schwarze Jogginghose zwängte.

»Fertig«, murmelte ich in mich versunken und betrachtete nachdenklich den überfüllten Raum. In dem Moment kam es mir wieder hoch, ich ging auf die 30 zu und lebte bei meinem Vater. Grandios. Diese Tatsache allein würde es mir unmöglich machen, überhaupt einen Mann abzuschleppen, denn mein Vater war einer dieser Männer, die mit Schrotflinte bewaffnet, die Individuen betrachtete, die man nach Hause brachte. Zumindest vermutete ich das, denn er hatte einen Waffenschein und eine eingeschlossene Schrotflinte. Jedoch hatte es noch nie einen Moment gegeben, wo ich ihm jemanden vorstellen musste.

Wieso musste ich aber auch meinen Job bitte verlieren? Dabei war alles so fabelhaft vonstattengegangen. Bis vor kurzem hatte ich bei einem Zeitungsverleger gearbeitet und mich ins Zeug gelegt, aber … Glückwunsch! Mein Chef hatte Gefallen an mir gefunden. Nicht, weil ich gute Arbeit leistete, sondern in einer ganz anderen Hinsicht. Er war einer dieser Männer, die durch mein Äußeres nur noch an das eine denken konnten. Meine daraus resultierende Ablehnung war nur verständlich, doch zog es eine Kündigung nach sich, da er sich in seinem Stolz verletzt fühlte.

Kurz darauf ging es bei mir dann auch schon abwärts. Ohne Job hatte ich nicht mehr genug Geld gehabt, um meine schicke Wohnung zu halten. Die Miete war einfach zu hoch und meine Ersparnisse gering. Am Ende blieb mir nur noch der Ausweg, zu meinem Vater zu ziehen, welcher mit so einer kleinen Wohnung auskam, da er meist sein Leben lieber in der Uni fristete und manchmal auch Nachtschichten einlegte. Sein Raum dort war richtig hübsch eingerichtet, auch wenn das Büro gefühlt zu 50% aus Büchern bestand, die teilweise in riesigen Regalen an der Wand eingeordnet waren. Überall blitzten die bunten Buchrücken auf und verliehen dem Zimmer in der Uni etwas Magisches, während sie in dieser Wohnung nur vereinzelt rumlagen und nicht viel an dessen Farblosigkeit änderten.

Am liebsten wäre ich ja fortgelaufen, einfach nur weg. Vielleicht sollte ich nach Amerika auswandern. Mein Englisch war sehr gut, aufgrund von einigen Besuchen in der vergangenen Zeit und dort konnten sie bestimmt auch Kolumnisten gebrauchen, doch leider war es nicht so einfach, wie viele glaubten.

Genervt warf ich mich rücklings auf mein reizloses Bett aus einfachen Holzpfosten und Gerüst, bevor ich zu meinem Laptop auf dem Nachttisch schielte. Heute würde ich weitere Bewerbungen schreiben, doch was sollte ich danach machen, so ganz ohne Geld? Vielleicht könnte ich ein paar Fotos schießen? Theoretisch sollte ich diese freie Zeit ausnutzen, doch meine Laune war am Boden, denn es gab noch etwas in meinem Leben, was mich von anderen abgrenzte. Es war wie eine Gabe, die zugleich auch ein Fluch war. Ich konnte Wesen sehen, laut Psychiater Hirngespinste, die mir das Leben schwermachten. Oft entdeckte ich sie, diese kleinen Kobolde, manchmal aber auch größere Wesen, doch keiner glaubte dem damals jungen und unbedachten Mädchen, bis ich einfach irgendwann den Mund gehalten hatte, um nicht in einer Anstalt zu enden oder vollgepumpt mit Drogen.

~ ring ~

Überrascht prüfte ich mein weißes Smartphone, als ein weiteres ~ ring ~ den Eingang eines Telefonats ankündigte. Ohne Umschweife ergriff ich es. Wenn mir das Glück hold war, könnte es womöglich eine Zusage für ein Vorstellungsgespräch sein! Innere Vorfreude packte mich, während ich das Handy an mich riss und begierig die Anruferkennung checkte, nur damit meine Laune wieder in den Keller sackte. Seufzend berührte ich mit meinem Finger das Display und schob den Kreis zum grünen Hörer.

»Hi Dad.«

»Good Morning, Alice!«, flötete eine, im Gegensatz zu mir, begeisterte Stimme an der anderen Seite des Hörers. Wie immer sprach er meinen Namen auf die amerikanische Art und Weise aus, da der Name Arisu nur die japanisierte Form von Alice war. Mir blieb nicht das leise Knacken seines Festnetzanschlusses verborgen, was daran lag, dass er in seinem Büro ein altes analoges Telefon mit einer Drehscheibe besaß. Wie nannte er es noch gleich? Ach ja »Feeling« … Er wusste zum Glück nicht, wie sehr er mir manchmal damit auf den Keks ging…

»Was gibt’s?«, fragte ich so zuckersüß, wie ich konnte, auch wenn die darauffolgende Gänsehaut kaum noch zu ertragen war, aber was tat man nicht alles dafür, dass sich der Vater nicht noch mehr um einen sorgte. Überhaupt wäre das bei ihm katastrophal und würde damit enden, dass er ein Gespräch zwischen Vater und Tochter führen wollte, worauf ich zurzeit regelrecht verzichten konnte.

»Du hast heute Morgen Post bekommen. Ich habe dir den Brief auf den Küchentisch gelegt, er scheint von einer Anwaltskanzlei zu sein. Hast du etwas angestellt? Wenn du Hilfe brauchst, sag Bescheid, du weißt, ich habe da ein paar Kontakte.«

Sprachlos zwinkerte ich ein paar Mal mit den Augen. Warum schrieb mir eine Kanzlei? Hatte ich mich dort beworben oder hatte ich mir etwas zu Schulden kommen lassen? »Warte, lass mich kurz nachsehen!«, erwiderte ich dann immer noch konfus, sprang auf und rannte wie von der Tarantel gestochen zum Küchentisch, während meine Gedanken Purzelbäume schlugen. Was konnte es nur sein? Aufgeregt, mit laut schlagendem Herzen, riss ich die Seite des Briefumschlages auf, nachdem ich das Smartphone zwischen Schulter und Ohr gequetscht hatte. Meine Finger zitterten leicht, als ich den Brief herauszerrte und aufschlug.

»Und? Bist du in Schwierigkeiten?«, fragte mein Vater ganz besorgt nach, was mich nur mit den Augen kreisen ließ. Wie immer ein Übervater.

»Nein Dad. Warte doch mal, bis ich es gelesen habe.« Schnell überflog ich das Schriftstück, nur um am Ende der letzten Zeile meine Stirn in Falten zu legen. »Es ist ein Testament meiner verstorbenen Großmutter. Weißt du etwas darüber? Vom Nachnamen schließe ich darauf, dass es meine Großmutter mütterlicherseits war.«

Schweigen, nichts als Schweigen auf der anderen Seite des Telefons. Es war einfach, eins und eins zusammenzuzählen, um zu begreifen, dass das wieder so eine Vergangenheitssache war, die er zu gerne totschwieg. Er sollte sich nicht so als Geschichtsprofessor anstellen und aufhören, die Familiengeschichte zu vertuschen. Was konnte denn bitte so schlimm sein, dass es dieses Verhalten rechtfertigte? »Dad?«

»Ja… Also ja… es wäre möglich, kleine Alice. Es ist schon sehr lange her, aber damals, als du noch ein kleines Küken warst, haben wir manchmal deine Oma in ihrem Anwesen besucht, doch seit deine Mutter gestorben ist, … nun ja… du weißt schon … danach hatten wir keinen Kontakt mehr zu ihr. Natürlich will ich dir nicht verwehren, dass du zur Testamentsverlesung gehst. Soll ich dich hinfahren, Alice? Doch sehr wahrscheinlich werden es nur Kleinigkeiten sein, du musst es also nicht annehmen, des Weiteren könnte es alte Wunden aufreißen, also…«

Gedankenverloren betrachtete ich die Adresse des angegebenen Sitzes der Kanzlei. Mir prangte der Ort Tokyo entgegen und nach näherem Betrachten und einem Blick auf das U-Bahn-System, das an einer Wand pinnte, bemerkte ich, dass die Kanzlei nicht einmal weit entfernt war. »Passt schon, da finde ich auch allein hin, es ist nicht sehr weit, nur ein paar Stationen.«

»Willst du wirklich allein hinfahren?«

Warum fragte er bitte so etwas? Wie konnte man nur so fürsorglich sein? Es ging hier nur um ein Erbe und nicht um etwas Weltbewegendes. Manchmal hörte mein Vater echt die Flöhe husten. »Ja.« Ich lauschte und hörte ihn laut seufzen. Vielleicht würde der Besuch in der Kanzlei Licht ins Dunkel bringen. Zumindest hoffte ich das, wenn man bedachte, wie er auf die Situation reagierte.

Betrübt warf ich einen Blick auf mein Handgelenk, auf welchem sich eine hauchdünne Narbe abzeichnete. Sie lag seitlich, sodass sie eher selten bemerkt wurde. Die Narbe bestand aus fünf Linien in einem kleinen Abstand zueinander. Oft erinnerten sie mich an Krallenspuren, die ich bei Freunden mit Katzen schon gesehen hatte. Mein Bauchgefühl verkündete mir immer wieder, dass diese Narbe mit meiner vergessenen Vergangenheit, mit dem Monster mit den leuchtenden Augen zu tun hatte.

»Alice?«

»Ja, Dad?«, fragte ich gedankenverloren und konnte es mir nicht nehmen, mein Handgelenk ein weiteres Mal von allen Seiten zu betrachten.

»Ich werde immer für dich da sein, wenn du mich brauchst. Vergiss das bitte nie. Wenn du also Hilfe brauchst, kannst du dich immer an mich wenden, egal worum es geht.«

Schweigend nickte ich, auch wenn er es nicht sehen konnte. Ein Lächeln schlich sich auf meine Lippen, während ich ihm dann doch noch antwortete: »Keine Sorge, Dad, ich bin schon ein großes Mädchen, aber wenn was sein sollte, komme ich sofort darauf zurück.«

Bevor mein Vater dann aber noch weitere Fragen stellen konnte, legte ich schnell auf, er würde es schon verstehen. Er wusste, wie sehr ich Abschiede verabscheute und nahm es immer wieder hin, wenn ich ihn einfach in Gesprächen abwürgte.

Kurzerhand öffnete ich die Kühlschranktür und schnappte mir ein vorbereitetes Sandwich heraus. Ohne Umschweife riss ich die Frischhaltefolie herunter und steckte es mir genüsslich in den Mund. Büffelmozzarella, Tomaten, Schinken und Basilikum. Mein Vater wusste, wie er seine Tochter glücklich machen konnte. Wahrscheinlich waren diese Sandwiches auch der einzige Grund, weswegen ich dieses triste Dasein in seiner Wohnung ertragen konnte.

»Gut, auf, auf!«, feuerte ich mich entschlossen an und schritt schon zur Tür, um mich auf den Weg zu machen, als ich auf der Höhe des Garderobenspiegels mit der Hand an der Türklinke knallrot anlief. Dieses Outfit war eher nicht das richtige, wenn ich durch die Stadt gehen wollte, oder?

Schnell stürmte ich in mein Zimmer und riss einen der herumstehenden Kartons mit der Aufschrift Kleidung auf, der meine edlere Garderobe beinhaltete. Ich musste etwas suchen, bevor ich mich für eine beige, ärmelfreie Seidenbluse endschied und eine enge dunkelbaue Jeans, die das ganze abrunden würde. Es dauerte keine fünf Minuten, da war ich auch schon angezogen und machte mich daran meine leicht wirren, blonden Haare zu flechten, solange sie noch nass waren. Mein Haar ging offen bis zu meinem Hintern, sodass auch der geflochtene Zopf noch sehr lang war. Darum legte ich ihn über die Schulter, sodass er nach vorne hin zumindest noch bis zur Taille ging. Zuletzt suchte ich noch meine weißbeige kleine Handtasche, in der ich alles wichtige verstaute. Zu meinem Glück brauchte ich auch nicht mehr an mir rumzuschustern, da ich sogar noch ungeschminkt verdammt gut aussah, aber irgendwas fehlte doch noch… aber was?

Ich blickte grübelnd an die Decke, als es mir einfiel. Meine Brille. Geschickt fädelte ich das Etui aus meiner Handtasche und schob sie mir auf die Nase. Normalerweise trug ich Kontaktlinsen, aber das stand aufgrund des Preises im Augenblick nicht zur Debatte. Ich musste sparen und ehrlich? Die Brille stand mir und ließ mich gebildeter erscheinen. Sie bestand nur aus Glas und wurde oben herum von einem etwas breiteren Gestell gehalten.

Kurz prüfte ich noch einmal mein Aussehen im Spiegel, bevor ich den Hausschlüssel vom Schlüsselkasten nahm und mir ein paar hochhackige beige Sandalen anzog. Der Sommer war heiß und vielleicht traf man ja doch einen hübschen, ambitionierten Mann. Meine Lippen zogen sich fast automatisch hoch, während ich bei dem Gedanken über meine Lippen leckte, doch dieses Hochgefühl war nur von kurzer Dauer, als mich ein genervter Gedanke durchzuckte: ›Hatte ich es schon so nötig?‹

Noch ein Blick in den Spiegel verriet mir die Antwort. Ja, definitiv ja. Unglaublich. Zurzeit sehnte ich mich mehr nach Zuneigung als sonst, denn es war so still ohne meine ganzen Kollegen um mich herum geworden, was aber auch ganz normal war, wenn man kaum einen Fuß vor die Wohnung setzte, weil man lieber im Selbstmitleid versank.

Der Zauber des Mt. Kamui

Подняться наверх