Читать книгу Der Zauber des Mt. Kamui - Annette Droste - Страница 5
Kapitel 2
ОглавлениеVon mir selbst angewidert, schüttelte ich vehement den Kopf, drückte die Klinke herunter und verließ diese deprimierende Wohnung. Hoffentlich war dies mein erster Schritt in eine bessere Zukunft. Ich war eine Kämpferin und einfach zu neugierig, was in diesem Testament stand!
Tokyos Straßen waren wie an jedem Werktag von hunderten von Menschen bevölkert. Jetzt um zwölf Uhr mittags war Rush Hour für das Getümmel auf den Fußwegen eine völlig untertriebene Bezeichnung. Geschickt wich ich den ganzen Passanten aus, da ich ja unbedingt gegen den Strom schwimmen musste.
Ich kaufte mir ein Ticket an einem der vielen Automaten und passierte das Drehkreuz, bevor ich in die nächste U-Bahn stürzte. Wie immer war es eng und stickig. Zu viele nutzten diese Möglichkeit des Fahrens aus, um ihre perversen Gedanken auszuleben, denn kaum war ich in die überfüllte Bahn eingestiegen, spürte ich eine Hand an meinem Hintern, doch nicht mit mir Freundchen. Genervt zog ich meinen Arm an und stieß den Ellenbogen nach hinten, genau in die Magengrube eines dieser Perversen, der die Hand sofort sinken ließ und in sich zusammensackte. Diese Leute waren immer still und würden es nicht wagen, mich anzuzeigen, da es ein Eingeständnis wäre, eine Straftat begangen zu haben.
Ein paar Stationen später konnte ich dann endlich aussteigen, drängte mich durch die Massen und atmete auf der obersten Treppenstufe tief durch.
An der Oberfläche angekommen, streckten sich meine imaginären Fühler aus. Eine leichte Gänsehaut überkam mich, als ich durch die Straßen zog, die hier nicht mehr so stark besucht waren.
Mein Blick wanderte vorsichtig hin und her, darauf bedacht, niemanden der Anwesenden ins Visier zu nehmen. Mir fiel es auch heutzutage noch schwer, diese teilweise farbenprächtigen Geschöpfe nicht anzustarren. Mein Herz schlug immer lauter, während sie mir ständig begegneten. Überall fand man sie, doch vermehrt an ruhigeren Orten. Womöglich war ein Grund dafür, dass sie genauso sehr den Krach der überfüllten Straßen hassten, wie ich. Oft war ich mir nicht sicher, ob sie wussten, dass ich ihre wahre Gestalt sah. Nur in vereinzelten Fällen sprachen die Wesen mich an, da ich sie eine Zeitlang ungeniert angestarrt hatte. Bei ihnen gab es anscheinen Rangunterschiede, denn so wie ich es sah, gab es höher gestellte und niedrigere.
In meinem ganzen Leben hatte mich noch nie eins dieser hochrangigen Wesen angesprochen, aber wieso auch? Es war ihnen bestimmt egal, ob ich es wusste. Sie ignorierten mich regelrecht und hielten mich für ein vergängliches Menschlein, das ihre Mühe nicht wert war. Zumindest hatte mir das eines dieser Wesen gesagt, nachdem ich es einfach so angesprochen hatte. Wohl einer der peinlichsten Momente in meinem ganzen Leben.
Meine Füße trieben mich über den Fußweg und verursachten eine laute Geräuschkulisse, die von der wieder aufkommenden Flut an Menschen sofort verschluckt wurde. Ich verschwand in dem Schwarm, schien wieder einer von ihnen zu werden. Vergänglich und unbedeutend hob ich mich kaum noch ab.
Viele Menschen waren stolz darauf, was sie taten, doch ich hatte damit meine Probleme. Grund dafür war, dass diese Geschöpfe meist immer höhere Positionen bekleideten, wodurch der blasse Neid in mir erwachte. Wie es wohl wäre, wie sie zu sein?
Kopfschüttelnd vertrieb ich schnell wieder den Gedanken und beeilte mich, die hinter der Menge auftauchenden Treppenstufen zur Kanzlei hochzustürmen. Es war ein Wunder, dass ich sie nicht übersehen hatte, denn wie fast alles auf Augenhöhe, waren sie grau und trist. Wo waren nur die Farben? Für mich fehlten sie überall. Sogar die Zeitungen, für die ich recherchiert und geschrieben hatte, waren grau, aber was erwartete ich von meinem Leben? Ich war normal und sollte es akzeptieren, aufhören zu träumen, dass ich etwas anderes sein könnte.
Als ich die letzte Stufe überwand, blieb ich vor der gläsernen Tür stehen und betrachtete kurz das Spiegelbild einer blonden Frau mit strahlend blauen Augen, die fest ihre Tasche umklammerte. Was würde passieren, wenn ich diese Tür durchschritt? Würde es mein Leben verändern? Es gab ja diesen Spruch, dass wenn sich eine Tür schloss, sich eine andere dafür öffnete. Sollte ich es wagen? Ja. Ich würde nicht vor meiner Vergangenheit weglaufen und würde für meinen Vater ein Zeichen setzen.
Tief einatmend streckte ich die Brust raus, presste meine nackten Handflächen gegen das warme Metall des großen Griffs und drückte die Tür langsam auf.
Sie schwang mit einem leisen Quietschen auf und offenbarte mir das Innere der Kanzlei. Meine Füße trugen mich über einen Boden, bestehend aus roten und weißen Kacheln, die sich in einem stetigen Karomuster ihren Weg zum Tresen bahnten.
Fast wie von selbst trieb es mich zu der Rezeptionistin, die mich schon eingehend begutachtete, bis ich vor dem Tresen stehen blieb und ein weiteres Mal tief durchatmete, als die Japanerin schon das Wort ergriff: »Willkommen, womit kann ich Ihnen behilflich sein?«
»Guten Tag, ich habe diesen Brief erhalten, dass meine verstorbene Großmutter mir etwas hinterlassen hätte«, erklärte ich mutig und beobachtete ihre feingliedrigen Hände, die mir geschickt das Schreiben aus der Hand zogen und über das Papier strichen, als ob sie deren Echtheit prüfen wollte. Sie war kleiner als ich und ihr Haar pechschwarz, wie bei den meisten Japanerinnen. Bestimmt drehte es sich im Kopf der Frau nur um eine einzige Frage, ob ich die Person war, von der hier die Rede war. Ich war das schon gewohnt.
»Können Sie sich ausweisen?«
Wusste ich es doch, dass es darum ging. »Natürlich, kein Problem«, hauchte ich leicht genervt und holte meinen Personalausweis hervor. Elegant reichte ich ihr den Ausweis, der meine Identität bestätigte. Sie drehte ihn um und bestaunte den Ausweis, während ich meine Daten vorsichtshalber nannte: »Suzuki, Arisu. 27 Jahre alt, geboren in Tokyo.«
Die Rezeptionistin glich anscheinend noch kurz das Foto mit meinem Gesicht ab, während ich schon die Neugier in ihren Augen funkeln sah und dem natürlich nachkommen wollte: »Mein Vater ist Amerikaner.« Es war mir egal, dass sie bemerkte, dass es mich anpisste. Ich verabscheute diese Menschen, die mich so ansahen, als wäre ich ein Alien. Zumindest in dieser Hinsicht ähnelte ich diesen Wesen, die ich auch einst so schamlos angestarrt hatte.
Dann hatte ich halt die Gene meines Vaters geerbt. Na und? In welcher Zeit lebten wir denn? Nur weil sie zur älteren Generation gehörte, hatte sie kein Recht, mich so zu mustern.
»Ich werde Bescheid geben«, murmelte sie dann endlich nach einer gefühlten Ewigkeit und verschwand mit meinem Personalausweis und dem Brief. Es gefiel mir nicht, dass sie ihn mitnahm, doch jetzt war es sowieso zu spät, um ihr noch nachzustürzen. Ob sie vielleicht doch noch ein Anruf oder zwei tätigen würde, um meine Identität bestätigen zu lassen?
»Miss Suzuki?«
Mein Herz setzte kurz aus, während mein ganzer Körper stocksteif wurde und ich meine Augen aufriss. Das war überraschend und fix gewesen. Ich sah auf und erkannte, dass eine der Türen, die sich hinter dem Tresen aneinanderreihten, aufgegangen war. »Ja!«, schrie ich beinahe und musste aufpassen, dass ich nicht über meine eigenen Füße fiel, als ich zu der Tür stolperte und währenddessen noch einmal meine Bluse glattstrich. Dort stand sie, die Rezeptionistin, die mich schon genug Nerven gekostet hatte mit einem breiten Grinsen: »Bitte treten Sie ein.«
Das musste sie mir nicht zweimal sagen. Ich nickte ihr manierlich zu und betrat auch schon das Büro, dessen Tür fast im selben Moment hinter mir zufiel. Als ich meinen Blick kurz schweifen ließ, um meine Umgebung zu sondieren, entdeckte ich viele Pflanzen in einem sonst sehr edel eingerichteten Büro. Meine Muskeln verhärteten sich, als ich langsam auf einen Ebenholzschreibtisch zu ging, vor dem ein aus echtem Leder gepolsterter Sessel auf mich wartete. Ich fühlte mich definitiv underdressed, was meine Nervosität immer mehr steigerte.
Bevor ich mich auf diesen bequem aussehenden Sessel setzte, lächelte ich dem Anwalt vor mir so gut es ging zu, um ihm von meiner schlechtsitzenden Bluse abzulenken. Der Mann, in einem sehr feinen Zwirn, legte einige Unterlagen auf den Tisch, was dafür sorgte, dass sich meine Kehle zuschnürte und trocken anfühlte. Wurden immer so viele Papiere benötigt für ein paar Habseligkeiten? Was ich wohl erbte? Verwunderlich war auch, dass ich so schnell an die Reihe kam. Gut, es war keiner da gewesen, aber ich hatte vermutet, dass ich erst einen Termin ausmachen müsste, da es bestimmt mehrere Erben gab. Ich wurde langsam hibbelig und presste meine Hände auf meine Oberschenkel, damit sie aufhörten zu zittern.
Der Mann lächelte mich zuversichtlich an, schien meine Unsicherheit zu bemerken und versuchte sie mit seiner Freundlichkeit zu verscheuchen. »Sehr erfreut, Miss Suzuki«, schmunzelte der ältere Japaner mit leicht ergrautem Haar und legte mir meinen Personalausweis auf den Tisch. »Ihre Großmutter verstarb vor zwei Wochen. Dieses Testament wurde vor einigen Jahren aufgesetzt und ist somit bindend. Jedoch gibt es einige Auflagen, sofern Sie Ihr Erbe antreten möchten, weswegen ich Sie bitte, erst bis zum Ende zuzuhören und dann Fragen zu stellen.«
Sacht nickte ich, um ihm mein Einverständnis mitzuteilen. Leider erinnerte ich mich nicht an meine Großmutter, wieso sollte sie mir etwas vermachen? War ich etwas die einzige Erbin?
»Ihrem fragenden Blick entnehme ich, dass Sie sich über die Umstände wundern, warum nur Sie von dem Erbe betroffen sind. Nun, dies liegt daran, dass Ihre werte Großmutter keine anderen direkten Nachkommen hat. Ihre Mutter war die einzige Nachfahrin. Bisher gab es im ganzen Stammbaum immer nur eine Tochter in der jeweiligen Familie, so als wäre es genetisch oder so gewollt, wodurch nur noch Sie diese Blutlinie weiterführen, doch ich schweife ab, machen wir weiter. Die Summe, die Sie erben beträgt 50 Millionen Yen [ca. 375.000€], wie auch eine Residenz auf dem Berg Kamui in Hokkaido.«
Ich fiel aus allen Wolken und riss die Augen tellergroß auf. Es war so unglaublich, sodass mein Kopf rotierte und ich mir Hokkaido in Erinnerung rufen musste. Die Region war ein schöner Ferienort und viele Japaner machten dort Urlaub. Einzig im Kindesalter war ich mit meinen Eltern dort gewesen, doch seit dem Tod meiner Mutter nie wieder.
Überraschend war, dass sie mir nicht nur eine Residenz, sondern auch einen Haufen Geld vererbte. Bei der Summe musste ich annehmen, dass meine Großmutter sehr wohlhabend gewesen war, wodurch es sich um ein schönes und wahrscheinlich auch sehr großes Anwesen handeln könnte, doch was waren bloß die Bedingungen?
»Kommen wir nun zu der Bedingung, um dieses Erbe antreten zu können. Ihre Großmutter wünschte, dass sie die Residenz bewohnen und verwalten. Das Geld wird Ihnen als Startkapital dienen. Nach unseren Nachforschungen und Ihren Aussagen, gehört dieses Grundstück Ihrer Familie schon seit sehr vielen Generationen. Es wurde vor einigen Jahrhunderten erbaut und wechselte nie den Besitzer. Ihrer Großmutter war es sehr wichtig, dass der Besitz in der Familie bleibt.«
Mein Mund klappte fast wie von selbst auf.
› Umziehen? Nach Hokkaido?‹
Alle Gedanken drehten sich nur noch um diese Bedingungen. Natürlich ging es hier um sehr viel Geld und ein Ferienhaus oder war es eine Pension, da der Ausdruck Startkapitel gefallen war? Oder war es doch ein Einfamilienhaus mit einer Werkstatt? Ich hatte keine Ahnung davon, was mich verängstigte.
»Habe ich eine Bedenkzeit? Sonst wollte ich noch fragen, ob es ein Eigenheim oder ob es eine teilweise vermietete Immobilie ist?«
Nachdem ich die Frage gestellt hatte, schluckte ich leicht und presste meine nun feuchten Hände so fest auf die Oberschenkel, dass es wehtat. Nicht, dass ich komplett gegen diese Idee war, aber es wäre eine sehr große Veränderung in meinem Leben, die ich nicht einfach übers Knie brechen wollte. Schon gar nicht, falls dort meine Vergangenheit, wie auch mein Trauma vergraben lagen.
Der Anwalt fuhr sich kurz durch sein graues Haar, bevor er mir ein charmantes Lächeln zuwarf und nickte: »Es handelt sich um eine Pension, deren Zimmer teilweise vermietet sind. Bedenkzeit erhalten Sie, aber in einer anderen Form, wie Sie annehmen. Ihre Großmutter Suzuki Sakura hat natürlich bedacht, dass es für Sie eine große Umstellung wäre, da sie bei Ihrem Vater in Tokyo leben, weswegen Sie Ihnen zwei ganze Monate einräumt, welche Sie in der Residenz auf Probe verbringen sollen. Danach können Sie entscheiden, ob Sie das Erbe antreten. Wobei ihre Großmutter sich natürlich durch diese Möglichkeit erhofft, dass sie Ihre Vergangenheit und Wurzeln erkunden und sich für dieses Leben entscheiden. Damals hat Sie bei dem Aufsetzten des Testaments sogar den Wunsch geäußert, gerne mit Ihnen in direkten Kontakt zu treten, doch sie wusste nicht wie.«
Kurz ließ ich es sacken. Der letzte Satz blieb mir jedoch im Halse stecken. Was hatte das schon wieder zu bedeuten?
»Was meinen Sie damit, sie wusste nicht wie?«
»Nun, Ihr Vater hat ein Kontaktverbot erwirkt, da er befürchtete, Sie könnten einen Rückfall erleiden. Als Sie noch ein Kind waren, sei wohl etwas Schlimmes an diesem Ort geschehen.«
›Mein Vater hatte was getan?‹
Ich schnaubte kurz und krallte meine Fingernägel in den dunkelblauen Jeansstoff. Was erlaubte sich mein Vater eigentlich? Wer wusste, wie viele Stunden er mir beim Psychiater damit hätte ersparen können. Mein Herz raste, bevor die Wörter einfach aus mir rausplatzten: »Gut, ich mache es! Zumindest vorerst diese zwei Monate.«
›Vielleicht erfahre ich dann auch endlich, was damals geschehen ist. Rückfall hin oder her, ich will es wissen.‹
»Aber ich hätte doch noch eine weitere Frage, da ich zurzeit arbeitslos bin. Wenn ich auf Probe wohne, werde ich keinen Zugriff auf das Erbe erhalten, das weiß ich, doch…«
»Da unterbreche ich Sie gleich, bevor Sie sich den Kopf darüber zerbrechen. Ihre Großmutter stellt Ihnen fünf Millionen Yen [ca. 37.500€] vorab zur Verfügung für anfallende Kosten, wie zum Beispiel Instandhaltung des Gebäudes, Versicherungen und natürlich auch, um sich zumindest etwas einrichten zu können und über die Runden zu kommen. Des Weiteren erhalten Sie vor Ort Unterstützung, was die Handhabung der Mieter betrifft…«
Weiter hörte ich nicht mehr zu, denn mein Kopf raste, wie auch mein Puls, sodass meine Ohren anfingen zu rauschen. Es war unglaublich, was sich gerade für eine Riesenchance vor mir auftat. In diesem Moment verfluchte ich einmal nicht meine Arbeitslosigkeit, sondern hielt sie für eine göttliche Fügung. Zwei Monate würde ich in Hokkaido verbringen. Wahrscheinlich wäre es wie Urlaub und ich könnte den Kopf klar bekommen. Wenn ich meine Fotoausrüstung mitnahm, wäre es auch möglich einen Bildband der Region zu erstellen, vielleicht würde es mir dort sogar gefallen und ich könnte mit der Fotografie und der Pension meinen Lebensunterhalt bestreiten.
Ich war so aufgeregt! So viele Fragen kreisten in meinem Kopf umher. Würde man mich freundlich empfangen? Wo genau befand sich die Pension und welche Möglichkeiten könnten sich mir in der Zukunft eröffnen, doch all das würde ich bestimmt bald erfahren.