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Kapitel 5

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Nach einer weiteren, schon beinahe unerträglichen halben Stunde waren wir dann endlich bei der Residenz angekommen, welche ich für zwei Monate als mein neues Zuhause bezeichnen würde.

Als erstes streckte ich mich gen Himmel und atmete noch einmal tief durch. Meine Kamera hatte ich während des Aufstieges irgendwann in meine Tasche verfrachtet, die ich zwischenzeitlich gegen ihn verteidigen musste. Er hatte sich natürlich angeboten, als er bemerkte, dass die Last groß war, doch es war mir unangenehm gewesen, einen wildfremden Mann meine Tasche tragen zu lassen, in der mein ganzes Hab und Gut verstaut war.

Interessiert ließ ich meinen Blick über das Gelände schweifen und entdeckte zu meiner Linken einen hübschen Shinto Schrein. Der Tempel hatte ein hübsches mintgrünes, geschwungenes Dach aus Tonziegeln und stand auf vielen Säulen aus Mahagoniholz. Zwischen den Säulen hatte man Teakholz verwendet, was diesen Schrein magisch erscheinen ließ. Ich seufzte vergnügt. Welche Gottheit darin wohl verehrt wurde? Neugierig betrachtete ich das Gebäude und fing an in meinem Kopf eine Liste zu machen, was ich mir alles ansehen müsste. Mein Vater würde sich über den guterhaltenen Tempel freuen. Ich erinnerte mich daran nur zu gut, wie er mich von einem Tempel zum nächsten schleppte und wie ein Kind ganz begeistert davor rum hüpfte. Die ganzen Arbeitszettel, die er dabei erstellte und an mir ausprobierte… Ich schmunzelte, versunken in meinen schönen Erinnerungen.

Nachdem ich mich satt gesehen hatte, vernahm ich einen gut erhaltenden Spielplatz zu meiner Rechten. Obwohl die Rutsche, die Schaukel und die Wippe alt schienen, waren sie sehr gut gepflegt. Es platzte kein Lack ab und das Holz war nicht gesplittert. Wer wohl für diese Reparaturen zuständig war?

Ich wusste es nicht, doch bestimmt würde ich es später erfahren, denn ich brannte regelrecht darauf, den Restaurateur kennenzulernen, um ihm seine Geheimnisse für dieses Wunderwerk zu entlocken.

Zuletzt sah ich zur Residenz und erstarrte. Diese besaß auch mintgrüne Ziegel, Mahagonisäulen und die Wände schienen aus Weidenholz, während drum herum eine Veranda aus Mahagoni das Ganze abrundete. Das Holz blitzte, als hätte es gerade jemand frisch poliert. Mir blieb die Spucke weg, bei diesem majestätischen Anblick. Ich hörte schon meinen Vater neben mir, wie er mich fragte, wann das Gebäude wohl erbaut worden war. Durch eine dieser Wetten hatte ich sogar schon Kameraobjektive bekommen. Mein Vater hatte immer gemeint, ohne Fleiß kein Preis… wortwörtlich.

Doch eine Frage stellte sich mir:

Hat der fremde Schönling nicht behauptet, hier wäre es chaotisch? Von außen sieht alles edel aus. Ist er vielleicht pingelig?‹

Nachdenklich drehte ich mich zu meinem freundlichen Begleiter und musterte ihn, als mir auf einmal komisch zu Mute wurde. Mir wurde schwindelig und alles drehte sich, als hätte ich Alkohol getrunken. Ich atmete hektisch und versuchte das Gleichgewicht zu halten, was mehr als schwer war, doch ich schaffte es! Er sollte nicht sehen, dass ich von dem Aufstieg K.O. war. Ungern zeigte ich Schwäche vor dem männlichen Geschlecht.

»Dies hier ist die Residenz, Fräulein Suzuki. Möchten Sie sich im Haus umsehen, während ich kurz die Beeren waschen gehe?«

Ich dankte den Göttern innerlich für diese Fügung. So könnte ich wieder zu Atem kommen und müsste nicht wieder die Jungfrau in Nöten zur Schau stellen. Lieber war ich eine Kämpferin und auf der Arbeit erlaubte ich mir auch keine Schwächen… auf meiner ehemaligen Arbeit. »Gerne.«

Rückwärtsgehend beobachtete mich der hübsche Kerl noch und warf mir ein paar Blicke zu, die wirklich… anmaßend waren. Natürlich war ihm bestimmt nicht das Gesamtpaket entgangen, wo wir jetzt hier im Freien standen, aber das konnte er sich abschminken. Wer wusste schon, wie die Hausbewohner reagierten, wenn die neue Vermieterin gleich mit einem Tempeldiener in flagranti im Tempel rummachte. Die Vorstellung war schrecklich, denn hier tuschelte jeder mit jedem und ich würde niemals wieder den Begriff Flittchen loswerden.

Aber aufgeschoben war nicht aufgehoben. Ich lächelte ihn noch mal liebevoll an. Sollte ich mich entscheiden, wieder nach Tokyo zu reisen, würde ich am letzten Tag womöglich in seinen Schoß fallen, doch nicht vorher.

»Bis später«, brachte der Mann plötzlich leicht errötet von sich, als er schon stolperte und etwas zurückhüpfte, bis er sich fing und in Windeseile davonzustürze. Ich kicherte kurz. Er war ein Mann, wie jeder andere auch. Bestimmt würde das noch witzig werden.

Etwas munterer drehte ich mich wieder zur Residenz und schlenderte durch das hohe Gras darauf zu. Einen Gärtner hatten sie anscheinend nicht, aber mir gefiel dieser wilde Garten. Dieser ganze Ort schien wie verzaubert und sehr einladend.

Ein Blick nach links, einer nach rechts. Niemand zu sehen. Ich hüpfte wie ein Kind hoch auf die Veranda und hielt mich schnell an einer Säule fest, da ich fast den Halt verlor. Ich war echt fertig.

Suchend wanderte ich über die Veranda. ›Wo ist der Eingang?‹ Das dumme, wenn man in Tokyo, in neumodischen Wohnungen aufwuchs war, dass man keine Ahnung von diesen altmodischen Gebäuden hatte. Natürlich hatte ich schon unzählige Tempel besucht, aber dieses Gebäude schien keinen direkten Eingang zu haben. ›Hätte ich auf den Mann warten sollen?‹

»Eingang, wo bist du?«, fragte ich an mich gewandt und murmelte es immer wieder, obwohl ich wusste, dass dieses selbst erdachte Mantra keinen Nutzen hatte.

Weiter umrundete ich das Gebäude, Schritt für Schritt und betrachtete die große grüne Fläche, auf der ein massiver Felsen stand. Ob man den Hinkelstein hierhergeschafft hatte? Oder war er schon vorher da gewesen und zu schwer, um ihn zu räumen? So viele Fragen, doch ich würde schon alles erfahren. Als Journalistin war ich schon immer ein neugieriges Ding gewesen und das änderte sich auch dann nicht, wenn man den Job verlor.

Als ich dann aber gefühlt das Haus umrundet hatte und auch nichts auf der Rückseite entdeckt hatte, stierte ich auf eine der Schiebetüren, die mich unverschämt anlächelte. Theoretisch führten doch all diese Schiebetüren ins Innere oder? Zumindest stand diese einen Spalt weit offen.

Kurz haderte ich, da ich nicht wusste, wer in diesem Zimmer wohnte, doch dann schob ich sie mit einem Ruck auf. Ich war die neue Vermieterin. Einerseits könnte ich mich entschuldigen und andererseits es als unangekündigte Prüfung des Zimmers deklarieren. Ein Grinsen schlich sich auf meine Lippen. Perfekt.

Vorsichtig blickte ich hinein und öffnete schon den Mund, als ich bemerkte, dass die Luft rein war. Noch besser. Wenn keiner da war, musste ich mich bei niemanden für mein unverschämtes Eindringen entschuldigen.

Ohne einen weiteren Gedanken daran zu verschwenden, zog ich meine Turnschuhe aus und watschelte durch den Raum. Watscheln konnte man es auch nennen, denn ich hatte mir wahrscheinlich ein paar kleine Blasen gelaufen. Ich hätte die Wanderschuhe anscheinend einlaufen müssen und mein Schwindelgefühl machte es nicht besser.

Immer weiter ging ich in den Raum, als ich plötzlich eine kühle Brise nach dieser schwülen Hitze da draußen spürte. Eine Klimaanlage, ein Wunder der Technik! Ich atmete die kühle Luft ein und zupfte an meinem durchgeschwitzten Shirt, dass klamm an meiner Haut klebte und diesem Tempeldiener bestimmt heiße Einblicke gegeben hatte. Darum hatte er bestimmt so gegafft und hatte sich fast auf die Klappe gelegt. Ich grinste leicht angewidert. Bestimmt hatte er nur an das Wort Titten gedacht. Glückwunsch, Großmutter, ich war gerade hier angekommen und hatte dein Erbe besudelt. Anstatt der tyrannischen Frau, gab es jetzt eine vollbusige Frau, die einen Tempeldiener auf Abwege führte. Hoffentlich war mir deswegen die Schreingottheit nicht feindlich gesinnt, da dem Mann bestimmt unreine Gedanken in den Sinn kamen.

Seufzend schüttelte ich den Kopf über mein frevelhaftes Verhalten, als ich auf etwas trat, was sich klein und hart in das weiche und auch empfindliche Fleisch meines Fußes presste. Schmerzverzerrt unterdrückte ich einen Aufschrei und hob den Fuß hoch, nur um am Boden einen Stift zu entdecken. Zum Glück war er heil geblieben, aber wieso…

Ich betrachtete den Boden genauer und erkannte, dass ich anscheinend das Zimmer eines Kindes betreten hatte, obwohl es riesig war. An den Wänden befand sich viele Zeichnungen von einer glücklichen Familie, doch noch öfter fand ich welche mit zwei identisch aussenden Kindern, die freudig spielten und den Betrachter mit einem breiten Grinsen begrüßten. So viele bunte Farben, was mein Herz erfreute, doch warum war da nur ein Futon am Boden? Konnten sie sich nicht mehr leisten?

»Komisch…«, brummte ich, während mein Forscherdrang mich aufforderte, das Zimmer noch weiter unter die Lupe zu nehmen. Manchmal hasste ich mich dafür, dass ich meine Nase nicht aus den Sachen anderer raushalten konnte.

Piep – piep

»Piep?«, ahmte ich das Geräusch nach und entdeckte schnell den Ausgangspunkt. Ein uralter PC mit einem beigegrauen Röhrenbildschirm stand im Raum auf einem kleinen Tisch zusammen mit einer genauso alt aussehenden Tastatur. Das flimmernde Geräusch manifestierte sich laut in meinem Kopf. Ich brauchte unbedingt Entspannung, aber erstmal sah ich mir das näher an.

Achtsam, dass keiner mich erwischte, tigerte ich auf den schwarzen Bildschirm zu, dessen Finsternis immer wieder von bunten Buchstabenreihen unterbrochen wurde.

»Ein Chat?«, hauchte ich fragend und betrachtete den Monitor genauer. Ob das Kind gerade rausgegangen war und seine Freunde weiterschrieben? Überhaupt schien das ein alter Chatroom zu sein. Merkwürdig. Ich würde den Eltern sagen, dass es gefährlich war, ein Kind unbeaufsichtigt in einen Chatroom zu lassen, der keine Authentifizierungsmaßnahme aufwies.

Doch dann erstarrte ich, als ich fast schon mit der Nase an der Röhre hing. Ja, ich hatte mir Kontaktlinsen wieder leisten können, aber das was ich sah, machte mich einfach nur sprachlos. An der Seite standen die Teilnehmer. Es waren drei Leute und alle DREI schrieben! Wie war das möglich? Natürlich könnte dieses Kind das ganze gehackt haben, aber ich glaubte nicht daran. Dieses Zimmer sah zu sehr nach einem jungen Kind aus.

Ich rieb mir das Kinn und versuchte dieses Rätsel zu knacken, als ich fast nach hinten fiel, nachdem ich die Maus berührt hatte und aus dem Nichts die Wörter sich riesig auf dem Bildschirm manifestierten. Erst dachte ich ja, es wäre ein Bildschirmschoner, doch da ich die Maus berührt hatte, dürfte keiner aufpoppen. War das etwa ein schlechter Scherz?

»Meinst du mich?«, fragte ich aus dem Blauen heraus und erhielt wie zur Bestätigung noch ein Pop-up mit denselben Worten. Eindeutig an mich adressiert! Ich schluckte und trat einen Schritt zurück, ließ es mir aber nicht nehmen, den Bildschirm zu taxieren. Wir waren hier auf einen kaum bewohnten Berg, ich sah Bilder von zwei Kindern und nur ein Futon. Ob es sich hier um eines der Wesen handelte?

Ich atmete tief durch und schloss die Augen, bevor ich mich entschied, diesem Schabernack einen Riegel vorzuschieben. Für die nächsten zwei Monate war ich die Frau im Haus und dann galten meine Regeln! Langsam begriff ich, was der Mann meinte, mit dem chaotischen Benehmen. Wesen die ihre Streiche spielten.

Ich baute mich vor dem PC auf, hoffte aber inständig, dass es kein Kinderstreich war und schimpfte mit dem ungestümen Bildschirm: »So redet man nicht mit einer Dame! Benimm dich gefälligst oder du fliegst raus!« Um meinen Worten mehr Ausdruck beizufügen, erhob ich tadelnd den Zeigefinger. Eiskalt fixierte ich den Bildschirm und wartete ab, ob er mich auch weiterhin raushaben wollte. Fast faszinierte es mich, wie mutig ich gegenüber einem Wesen war, dessen Sein ich gar nicht einschätzen konnte, doch gesagt, war gesagt!

»Ken, was ist denn hier los?«, fragte neben mir auf einmal eine verdutzte Jungenstimme.

Sofort löste sich mein Blick von dem Bildschirm und glitt zum Neuankömmling, der mich mit offenem Mund anstarrte. Er war nach meiner Schätzung etwa zehn Jahre alt und 1,50 m groß. Die braunschwarzen Haare, wie auch die braunen Augen kündeten von seiner japanischen Abstammung und ließen ihn wie ein ganz normales Kind erscheinen, was mich verwirrte. Ken hatte er gesagt, was stark und gesund bedeutete, doch wo war dieser Ken?

Gerade wollte ich auf die Suche nach diesem Ken machen, als der Junge an meiner Kleidung zupfte und mich anscheinend aus dem Raum ziehen wollte. »Wer bist du?«, fragte er und ich hörte, dass er panisch klang, doch wieso? Sah ich so beängstigend aus?

Ich zwinkerte einige Male und setzte ein freundliches Lächeln auf. »Mein Name ist Arisu und wie heißt du? Ich habe nur mit deinem PC geschimpft, weil er meinte, ich solle verschwinden. Du musst vor mir keine Angst haben«, versuchte ich es, so gut es ging, während ich mich vor den Buben auf die gleiche Augenhöhe kniete. Vielleicht könnte er dann Mut fassen.

»Ich heiße Hibiko«, nuschelte der Junge unsicher und stierte zum Bildschirm, welcher fast schon zu ruhig vor sich her rauschte. Ob er dort Hilfe suchte oder wartete… konnte es sein?

»Und das ist Ken, habe ich Recht? Ist er in dem Bildschirm gefangen?«

»Nein, er kontrolliert ihn nur gerade!«, verkündete der Junge kopfschüttelnd und sah immer wieder zu ihm rüber, als erwartete er etwas.

»Ist er dein Bruder?«

»Woher weißt du das denn? Bist du eine Hexe?«, fragte der Junge etwas aufgeregt und starrte mich an, als wäre ich nicht von dieser Welt, dabei hatte er hier den Bruder im PC. Das musste ich nicht verstehen oder? Hexe?

»Ich bin darauf gekommen, weil ich die Bilder von euch beiden gesehen habe. Also bitte, lass das mit der Hexe, ich bin eine ganz normale Frau.«

Hibiko starrte mich noch kurz verwirrt an, während ich mich immer mehr entspannte. Dieser Kindergeist schien keine Gefahr zu sein, dafür verlief dieses Gespräch einfach zu entspannt. Wenigstens diesen

chaotischen Hausgast bekam ich unter Kontrolle!

»Das ist übrigens mein PC, nur damit du es weißt!«, murmelte überraschend eine Gestalt neben mir. Ein Blick genügte, um zu erkennen, dass der Zwillingsbruder ein Geist war, da er gerade dem Bildschirm entstieg, jedoch teilweise so unschuldig, dass es nicht mehr gruselig war, sondern eher niedlich.

Nach dem Aussehen des Bengels zu urteilen, waren die Beiden gleichalt, doch das hieß, dass der Bruder erst vor kurzem gestorben war. Anscheinend war er noch nicht bereit in die andere Welt herüber zu gehen, was eigentlich alle irgendwann taten. Bisher hatte ich sehr selten ältere Geister gesehen und leider waren diese meistens Poltergeister, um die ich einen großen Bogen machte. Oft blieben sie in dieser Welt zurück, wenn es unerfüllte Wünsche gab, die so stark waren, dass es sie an diese Welt band und ich ahnte, dass dieser seinen Bruder beschützen wollte, denn er stellte sich zwischen Hibiko und mich. Ob Ken sein Leben verloren hatte, als er seinen Bruder beschützte? Es wäre zumindest ein sehr starker Gedanke und er würde wohl erst gehen, wenn er sicher war, dass Hibiko auf sich allein achten konnte.

Als der Junge mich an schmollte und einen auf bösen Geist versuchte, antwortete ich schnell: »Kein Problem, ich wollte ihn dir nicht wegnehmen. Es hatte mich nur gewundert, dass alle Personen im Chatroom schreiben, doch keiner an dieser Tastatur sitzt.«

»Hast du denn gar keine Angst vor mir? Ich bin ein Geist!«, fragte Ken verwundert und schwebte zum Beweis vor mir immer mal wieder hin und her, wobei er einige kindische Geisterbewegungen mit wellenartigen Armbewegungen und Grimassenschneiden austestete. Bestimmt hatte da einer zu viele Kindergespensterfilme geschaut. Ich musste mir ein Grinsen verkneifen. Ehrlich? In der Großstadt gab es Schlimmeres und wenn ich nur solche kleinen Geister hatte, würden das angenehme Wochen werden.

»Nein, sollte ich denn Angst haben?«, hauchte ich neckisch in seine Richtung und dachte, ich spielte mit. Auch ich war schon in den Genuss von manch Geisterfilm gekommen und so verkündigte ich, wie ein echter Geisterjäger: »Wenn du wirklich ein gefährlicher Geist bist, dann hol ich geschwind den Staubsauger! Dir vergeht Hören und Sehen, so schnell verschwindest du im Staubsaugerbeutel, so wie in den Geisterfilmen! Das funktioniert wirklich!«

»NEIN!«, rief Hibiko lauthals und rannte zu mir rüber, drängte seinen Bruder beiseite, als wäre der aus fester Materie und schnappte mein Oberteil. »Bitte, bitte, tu ihm nichts! Bitte nicht! Ken wird auch ganz brav sein oder Ken? Bitte sag, dass du ab jetzt brav bist!«

Kichernd wuschelte ich durch das Haar des verdutzten Jungen. Der war ein kleiner Sonnenschein. »Na, na, na. Ich bin doch kein Monster oder sehe ich so aus? Deinem Bruder tu ich nichts an, bitte schau mich nicht so verängstigt an. Aber ich verstehe euch schon. Wenn man etwas nicht kennt, reagiert man auch schon mal über. Ich habe heute wegen der Hitze schon einen Menschen für ein Monster gehalten«, erklärte ich schnell und zeigte meine ganz normalen Zähne, mit denen ich spielerisch nach dem Jungen packen wollte, welcher auf einmal kichernd davonsprang. Er begriff zum Glück, dass ich keine Gefahr war, was mir eindeutig besser gefiel. Ich wollte mir nicht wie meine Großmutter einen Namen als Hausdrache machen.

Ken gesellte sich wieder neben Hibiko und ein Blinder hätte gesehen, dass sie Zwillinge waren. Beide starrten mich an, als wäre ich vom Mond, bevor sie aufgeregt miteinander tuschelten. In meinem Leben war ich vielen Geistern begegnet, denn Tokyo war eine reine Hochburg, was diese anging. Ob es nun aus erwiderter oder unerwiderter Liebe war oder aus dem dummen Grund, dass man seine Arbeit nicht vollendet hatte. So viele Gründe, dass man sie gar nicht mehr an einer Hand aufzählen konnte, doch eines hatten alle Geister gemein. Sie waren gut. Nur die Poltergeister, die Rachegeister, hatten es auf jemanden abgesehen und trachteten oftmals ihrem Mörder nach dem Leben, was zum Glück dieses Kind nicht betraf.

»Gut, wir helfen dir«, flöteten die Kinder gleichzeitig und rissen mich aus meinen Gedanken. Ich zwinkerte ein paar Mal, während sie mich freundlich angrinsten. »Unser großer Bruder sagt immer, man muss Frauen in der Not beistehen und helfen!«

›Großer Bruder?‹

»Das heißt?«, hakte ich verwirrt nach und presste meine Hand auf meinen Bauch, der unser Gespräch jäh mit einem mächtigen Knurren unterbrach. »Oh je, hab ich einen Hunger…«

»Sie braucht Essen! Komm mit, unser Bruder macht die besten Kekse weit und breit! Du wirst sie lieben! In der Küche auf dem Schrank hat er immer einen Vorrat für Momente wie diesen stehen!«

Das klang wie Musik in meinen Ohren. Kekse. Zucker und vielleicht dazu eine kalte Limonade, um meinen trockenen Hals anzufeuchten.

»Einverstanden, mit Keksen kann ich mich anfreunden. Wären die beiden Lebensretter so gütig, mich zu führen? Ich, Frau in Not, fand nicht einmal die Haustür und verirrte mich in eure Räumlichkeiten.« Ich lächelte die beiden Jungs bezaubernd an, was sie mit einem Grinsen erwiderten. Ein wenig rumalbern war immer drin und so würde ich ihr Vertrauen gewinnen.

»Kein Problem, holde Maid!«, schmunzelten beide und schoben die Tür zum Flur auf. Na gut, eigentlich war es nur Hibiko, der dies tat, doch Ken gab sich alle Mühe, seinen Bruder dabei zu unterstützen. Selten konnten normale Geister Gegenstände verrücken.

Langsam und vorsichtig steckten sie wie Erdmännchen oder vielmehr Ninjas ihre Köpfe zum Flur heraus und sahen nach links und rechts, bevor sie mich gleichzeitig heranwinkten. Ob wir auf geheimer Mission waren und die Beiden ein Spiel daraus machten?

»Dürfen wir denn einfach die Kekse essen?«, fragte ich vorsichtshalber nach und bekam als Antwort ein einstimmiges Kopfschütteln, was mir die ganze Sache erklärte. Wir taten etwas Verbotenes.

»Eigentlich nicht, er meinte zu viel Süßes ist schlecht für den Geist!«

»Euer Bruder ist ja ein richtiger Spielverderber. Versprochen, ich gebe euch etwas von dem Schatz ab, wenn ihr beide mich nicht verrät«, hauchte ich leise, damit uns ja keiner hörte und musste mit ihnen zusammen grinsen. »Hoffen wir nur, dass er das nicht nur gesagt hat, weil er einfach alle schon selbst aufgegessen hat!«

Die Beiden kicherten leicht angespannt und Hibiko erhob die Stimme: »Mister Moralapostel? Er würde doch nie gegen seine eigenen Gesetzte verstoßen!«

Ich verdrehte belustigt die Augen, während wir uns durch den Flur schlichen, bis sie an einer Tür Halt machten und sie langsam aufschoben. Sofort erkannte ich, dass wir es hier mit der Küche zu tun hatten und zu meinem Glück entdeckte ich einen echten Ofen und eine Kochstelle! Das war auch das Mindeste, was ich erwartet hatte und… es gab tatsächlich einen waschechten Wasserhahn, an dem man nicht pumpen musste!

Ich sandte schon wieder ein Stoßgebet an den Himmel und hätte vor Glück fast geweint, als ich sogar einen Kühlschrank entdeckte. Meine Großmutter war also nicht ganz so altmodisch, wie ich befürchtet hatte!

Um das Thema noch mal aufzugreifen, während ich mich den Schränken näherte, sprach ich zu den Jungs: »Ihr müsst wissen, Erwachsene verstoßen sehr oft gegen ihre eigenen Gesetze. Aber darum entstehen sie, weil sie aus ihren Fehlern, zum Beispiel mit Bauchschmerzen, gelernt haben. Ihr wollt gar nicht wissen, gegen wie viele Regeln ich verstoßen habe, nur um daraus meine eigenen Schlüsse zu ziehen.«

Ob ich die Kinder damit verdarb? Wohl kaum. So wie die beiden drauf waren, schienen sie ihren großen Bruder auf Trapp zu halten. Der arme Kerl tat mir irgendwie leid, während sie mir einstimmig zu nickten. »Kann sein, dass er es macht, aber sonst ist unser Bruder der tollste, auch wenn er ein Spielverderber ist!« Sie streckten mir danach ganz frech die Zungen raus und deuteten oben auf einen der Schränke. Ich folgte ihrem Fingerzeig, nur damit mir das Gesicht entgleiste. Bildete ich mir das ein oder waren diese Schränke ganz schön hoch aufgehängt worden? Dieser böse Schuft von Spielverderber hatte die rote, aus feinem Porzellan gefertigte Keksdose ganz oben auf einen dieser Hängeschränke platziert. Jedoch so dicht an den Rand, dass sie einen zu Missetaten verlockte.

Genervt fletschte ich wie ein Tier die Zähne und schnappte mir den nächstbesten Stuhl vom Küchentisch, da ich sogar mit meinen 1,80 m zu klein war, um direkt an die köstlichen Süßigkeiten zu gelangen.

»Beeil dich aber, unser Bruder müsste bald daheim sein, schnell, schnell!«

»Ich mach ja schon!«, zischte ich und kletterte vom Stuhl auf die aus Mahagoni gefertigte Anrichte. Das Haus hatte für meinen Geschmack fast schon zu hohe Decken, auch wenn ich dadurch auf der Anrichte mich gerade hinstellen konnte, ohne mir den Kopf zu stoßen.

Geschickt ergriff ich die große Keksdose und umschloss sie mit beiden Händen. Sie glänzte und war leicht kühl, aber auch schwer, was mir verkündete, dass dort viel zu holen war. Viele Kekse für mich und die Kinder, die mir das Versteck gezeigt hatten.

Natürlich würden wir nur ein Paar stibitzen, damit die Kinder kein Bauchweh bekamen. Wenn zu viele fehlten, würde wahrscheinlich auch Mister Moralapostel davon Wind bekommen und ich musste nicht noch mehr Männern zeigen, was ich für ein unverschämtes Ding war.

Zumindest war der Tag erfrischend und machte Spaß, sodass ich nicht darüber nachdachte, was wohl passieren würde, sollte man mich beim Diebstahl von Keksen erwischen.

»Super, du hast sie! Schnell komm runter!«, feuerten mich die Jungs begeistert an und förderten meinen Hochmut noch mehr. Es war fast so, als wäre ich eine von ihnen. Vielleicht sogar ein Kind, dem keiner was konnte. Ich konnte nur beten, dass der Bruder mich nicht dabei erwischte. Knallrot würde ich im Erdboden versinken, wenn ich eine Moralpredigt bekäme, dass man nicht auf Kinder hören sollte. Ich grinste und war gerade dabei, wieder herabzusteigen, als ich aufstöhnte. »Mhmmm«, keuchte ich kurz, während ein heftiges Stechen in meinem Hinterkopf dafür sorgte, dass ich nicht mehr darauf achtete, wie ich herunterkam und somit meisterlich abrutschte. Mein Gleichgewicht verschwand augenblicklich, da die schwere Keksdose mit mir nach hinten kippte und ich keine Hand zum Festhalten frei hatte. Und so stürzte ich nach hinten, die Keksdose fest umklammert, wissend, dass der Aufprall schmerzhaft sein würde, doch… ich landete überraschender Weise sehr weich.

Der Zauber des Mt. Kamui

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