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Sechs

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Piep. Piep. Es dauerte einen Moment, bis ich wusste, wo ich mich befand und was mich gerade so unsanft aus dem Schlaf gerissen hatte. Ich war bei Paula, die wohl ebenfalls durch das Geräusch aufgewacht war und verschlafen ihre Augen zusammenkniff. Schützend hielt sie sich eine Hand über die Augen. Mir war es auch viel zu hell. Die Sonne warf schon ihre Strahlen ins Zimmer. Wie spät war es eigentlich?

„War das dein Handy?“, murmelte Paula schlaftrunken.

Kann sein. Ich war viel zu irritiert, um das Piepen richtig zuordnen zu können. Verschlafen tastete ich nach meinem Smartphone, das sich irgendwo unter der Bettdecke versteckt haben musste. Eine Nachricht von Unbekannt.

„Mauerpark? Heute Morgen? Will mit den Boys hin, bist du dabei?“ Augenblicklich war ich hellwach.

„Wer schreibt denn schon so früh?“, wollte Paula wissen. Genervt legte sie sich das Kissen übers Gesicht, um der Helligkeit zu entkommen.

„Nick.“

Jetzt war auch Paula hellwach. Ruckartig setzte sie sich auf. Das Kissen flog dabei auf den Boden.

„Er hat deine Nummer?“

„Ich habe sie ihm gestern gegeben.“

„Und? Was schreibt er?“

„Ob wir zum Flohmarkt im Mauerpark gehen. Er war gestern völlig entsetzt, dass ich noch nie da war.“

„Und? Sagst du ja?“

„Klar!“ Was für eine Frage. Ich sagte es allerdings nicht so euphorisch, wie ich mich fühlte. Paulas Neugier war schon ausreichend geweckt.

„Willst du vorher noch etwas frühstücken?“

„Ein Kaffee wäre super.“

Paula lief schon in die Küche. Ich musste grinsen. So kannte ich meinen Morgenmuffel gar nicht. Mir fiel es ja schon schwer morgens in die Gänge zu kommen, aber Paula lief normalerweise vor dem ersten Kaffee im Schneckenmodus. Genau genommen war eine Schnecke sogar schnell im Vergleich zu ihr. Für gewöhnlich konnte man mit Paula erst nach der zweiten Tasse Kaffee etwas anfangen.

„Kann ich mir noch was zum Anziehen von dir leihen?“

„Na klar“, schrie sie mir aus der Küche zu, gefolgt von einem Knall. Oh Mist! Da war gerade wohl etwas kaputt gegangen. Hoffentlich nicht die Kaffeekanne. Ich rannte schnell in die Küche, aber zum Glück war nur ein Teller auf dem Boden gelandet.

„Du solltest das blumige Kleid anziehen. Das steht dir mega gut.“

„Gute Idee. Wo hast du es?“

„Ich suche es dir gleich raus.“

„Danke, du bist die Beste!“ Was würde ich nur ohne sie tun? „Ich springe noch schnell unter die Dusche, ja?“

Paula sah mich etwas seltsam an. Wahrscheinlich dachte sie sich, dass ich doch nachts nach dem Konzert noch geduscht hatte. Aber bei der Hitze fühlte ich mich schon wieder verschwitzt. Ohne ihre Antwort abzuwarten huschte ich ins Bad.

„Das Kleid ist in der Wäsche“, rief sie mir hinterher. „Ich such dir was anderes aus.“ Sollte mir Recht sein. Paula hatte schließlich einen richtig guten Geschmack.

Das kühle Wasser machte meine müden Glieder ein bisschen wacher. Ich cremte mich mit etwas Sonnencreme ein – die von Paula roch besonders gut, irgendwie nach Mango – und schlüpfte in ihre Klamotten. Schnell band ich mir meine Haare noch zu einem Zopf zusammen und betrachtete mich dann zufrieden im Spiegel. Ich musste Paula loben: Das grüne Top, das im Nacken zusammengeknotet wurde, stand mir wirklich gut. Außerdem war ich endlich ein bisschen braun geworden. Auch wenn das bei mir sehr lange dauerte, hatte die Sonne, die uns seit Wochen verwöhnte, einen schönen Cappuccino ähnelnden Farbton auf mein Gesicht gezaubert. In der Küche empfing mich ein köstlicher Duft: eine Mischung aus frisch aufgebrühtem Kaffee und aufgebackenen Croissants.

„Oh das ist ja wie im Luxushotel. Ich ziehe bei dir ein.“ Zufrieden setzte ich mich auf meinen Stammplatz. Ich liebte ihre Küchenbank. Das blau-weiße Kissen wollte ich ihr jedes Mal gerne klauen.

„Dann gibt es doch kein Frühstück.“ Paula grinste mich frech an. Dabei wusste ich genau, dass sie gerne mit mir zusammen wohnen würde. Aber die Wohnung war leider viel zu klein für drei Personen.

„Das sieht richtig gut aus.“ Neben den Croissants stand eine Schale mit frischen Blaubeeren. Frühstück war für mich die wichtigste Mahlzeit des Tages. Paula sah das zum Glück ähnlich und wir genossen es beide an den Wochenenden ausgiebig zu frühstücken. Jetzt knabberte ich allerdings ohne großen Appetit an meinem Croissant herum. Ich war irgendwie nervös. Warum wusste ich allerdings selbst nicht. Es war ja schließlich kein Date.

„Was sagt Elias eigentlich dazu?“, fragte Paula zwischen zwei Bissen.

„Wozu?“

Meine beste Freundin schaute mich vorwurfsvoll an. „Du weißt genau, was ich meine.“

Okay zugegeben: ich wusste genau worauf sie anspielte. „Es ist kein Date“, wiederholte ich den Gedanken, der gerade durch meinen Kopf gegangen war. „Die anderen Jungs kommen auch mit.“

„Als Tarnung.“

„Nenn es wie du willst. Nick möchte mir einfach nur den Flohmarkt zeigen. Du weißt doch, dass ich alte Sachen liebe.“

„Und Musiker.“ Trotz Augenzwinkern nervte mich dieser Kommentar.

Ich ließ die Hälfte des Croissants liegen und ging ins Bad, um noch ein bisschen Wimperntusche und Lidschatten aufzulegen. Alles andere würde bei diesen Temperaturen sowieso sofort wegfließen. Dann machte ich mich auf den Weg zur U-Bahn.

Die Jungs warteten schon auf mich. Allerdings fehlte ein Bandmitglied. Jacob und Tom begrüßten mich beide mit einer Umarmung, so als ob wir uns schon ewig kannten. Nick nahm mich als letztes in den Arm. Ich wusste nicht, ob ich es mir einbildete, aber ich hatte das Gefühl, dass seine Umarmung länger andauerte, als die der anderen beiden. Bei ihnen war es nur ein loses Begrüßungsumarmen, bei Nick fühlte es sich nach etwas mehr an.

„Gut geschlafen?“, fragte er mich.

„Ja, habe ich. Und du? Habt ihr nach dem Konzert noch lange gefeiert?“

„Nein, wir haben nur noch ein paar Bierchen getrunken.“

„Kommt Jan nicht mit?“ Nicht dass es mich störte, dass er nicht dabei war.

„Jan muss noch für eine Klausur lernen. Zumindest meinte er das gestern. Aber er pennt bestimmt noch.“

Wir mischten uns unter die anderen Trödler. Wahnsinn, was hier so alles angeboten wurde. Es gab Stände mit neuen Sachen, wie Jutebeuteln und Leinwänden mit beeindruckenden Fotos, aber auch welche mit richtig antiken Gegenständen, wie Kaffeemühlen und Schreibmaschinen, die mir Geschichten aus längst vergangenen Zeiten erzählten, wenn ich sie nur ansah. Ich stellte mir vor, wie eine junge Frau an der Schreibmaschine gesessen und davon geträumt hatte, Schriftstellerin zu werden, noch lange bevor das Wort Computer überhaupt in den Köpfen der Menschen existierte. Oder wie eine Großmutter jeden Morgen für die ganze Familie die Kaffeebohnen zu köstlich duftendem Pulver zermahlte. Mit einer geblümten, verwaschenen Schürze auf einem alten Hocker sitzend. Genauso einen, wie der an dem wir gerade vorbei liefen.

„Wie fandest du das Konzert gestern?“ Nick schaute mich fragend an. Jacob und Tom hatte ich gerade aus den Augen verloren.

„Richtig cool. Langsam gewöhne ich mich daran, dass ihr auf Deutsch singt.“

„Du kanntest uns schon vorher, als wir noch auf Englisch gesungen haben?“

„Nein, nicht richtig. Ich hatte nur mal ein Lied von euch auf Youtube gehört. Deswegen war es erstmal etwas seltsam euch plötzlich auf Deutsch zu hören.“

„Gefallen dir denn die neuen Songs?“

„Auf jeden Fall. Ist halt nur ungewohnt. Deine Stimme klingt ganz anders. Aber es gefällt mir.“

Nick lächelte mich zufrieden an. „Cool, dass du es magst.“

„Wow, guck mal!“ Ich deutete auf eine große Weinkiste mit unzähligen Kameras. Die mussten alle schon richtig alt sein. Ich nahm eine Leica aus der Kiste und betrachtete sie fasziniert. „So eine ähnliche hatte mein Opa früher.“

„Ich hätte gerne so eine Schreibmaschine.“ Nick deutete auf ein dunkelgrünes Modell, das so aussah als wäre es sehr oft in Gebrauch gewesen. Einige Tasten waren so abgegriffen, dass man die Buchstaben darauf nicht mehr lesen konnte. „Damit könnte ich sicher gut texten.“

„Schreibst du die Songs alleine?“

„Ja, ich bin für die Texte zuständig.“ Nick klimperte mit den Fingern auf den Tasten herum. „Da würden die Ideen sicher nur so fließen.“

„Ich stelle es mir super kompliziert vor Songs zu schreiben. Ist es nicht voll schwer immer wieder Ideen zu haben?“ Ungern legte ich die Spiegelreflexkamera zurück zu den anderen Fotoapparaten. Ich hätte sie gerne mitgenommen, aber sie war sicher viel zu teuer. Ich warf noch einen letzten Blick auf das schöne Sammlerstück und ging dann schweren Herzens weiter.

„Manchmal schon. Ich schreibe oft phasenweise, immer dann wenn mir etwas Gutes einfällt oder mich gerade ein Thema besonders beschäftigt. Dann ist es wirklich perfekt, um sich das Angestaute oder Erlebte von der Seele zu schreiben. Das mache ich oft ohne klare Melodie im Kopf. Ich möchte meine Geschichte erzählen, und zwar so ehrlich wie möglich und nicht in erster Linie musikalisch so schön es geht.“

„Ich würde auch gerne Songs schreiben können.“ Wir gingen weiter. Nick schaute sich nach den anderen beiden um, aber schien sie ebenso wenig zu entdecken wie ich.

„Das kann man lernen.“ Das bezweifelte ich. Es war sicher richtig schwierig, vor allem wenn man, so wie ich, kein Instrument spielen konnte. Aber vielleicht sollte ich es trotzdem einfach mal ausprobieren.

„Hier riecht es aber gut.“ Himmlischer Waffelduft stieg mir in die Nase und ich atmete ihn tief ein. Plötzlich merkte ich, dass ich ziemlich hungrig war. Kein Wunder – beim Frühstück hatte ich schließlich kaum etwas runter gekriegt.

„Möchtest du eine Waffel? Ich lade dich ein.“

„Sehr gerne.“

Ich las mir die Auswahl auf der Tafel durch. Hier gab es Waffelvariationen, von denen ich bisher noch nie etwas gehört hatte: Mit Apfelmus, mit Spekulatiuscreme oder mit Zimt. Spontan entschied ich mich für die Zimtwaffel. Die wollte ich unbedingt probieren. Denn alles mit Zimt liebte ich. Dazu bestellte ich eine Extraportion Sahne. Ich brauchte überall zu Sahne. Selbst ein Stück Sahnetorte wurde mit einer Extraportion Sahne noch besser.

„Riecht nach Weihnachten“, kommentierte Nick meine Auswahl, als er mir die Waffel reichte. Auf seiner türmte sich ein großer Berg Sahne mit Schokostreuseln.

„Was machst du, wenn du nicht gerade auf Konzerte gehst, oder mit Musikern über den Trödelmarkt schlenderst?“, fragte Nick mich, als die Hälfte seiner Waffel schon in seinem Bauch verschwunden war. Etwas Sahne klebte an seinem Mundwinkel und ich kämpfte gegen den Impuls an, sie wegzuwischen. Warum wollte ich seine Lippen so gerne berühren?

„Ich studiere Französisch und Englisch.“ Als ich es gerade ausgesprochen hatte, ärgerte ich mich schon über mich selbst. Etwas Langweiligeres hätte mir wohl nicht einfallen können. Sicherlich hatte er sich ein spannenderes Detail aus meinem Leben gewünscht. Aber was sollte ich sagen, damit sich mein Leben etwas interessanter anhörte? Ich hatte noch keinen Roadtrip gemacht, kein Buch veröffentlicht und in keinem Film mitgespielt. Ich hatte auch nie auf einer Bühne gestanden oder einen Preis gewonnen. Ich war noch nicht besonders oft aus Berlin herausgekommen und wohnte noch zu Hause bei meinen Eltern. Für mich war das Aufregendste in meinem Leben Musik und Streetart. Vor allem die Straßenkreidezeichnungen, die ich so oft wie es die Zeit zuließ auf den grauen Asphalt zauberte.

„Was möchtest du nach der Uni machen?“ Nick hatte seine Waffel schon fast aufgegessen, während ich noch an meinem ersten Herz herum knabberte. Ich hatte wohl noch nie zuvor eine so leckere Waffel gegessen, aber irgendwie machte Nick mich zu nervös, um mich darauf zu konzentrieren.

„Ich möchte mal raus aus Berlin. Vielleicht ein paar Monate nach Frankreich oder eine andere Stadt in Deutschland kennenlernen. München oder vielleicht Hamburg. Dort eine Weile arbeiten.“

„Was hast du gegen Berlin?“

„Eigentlich nichts.“

Ich konnte in seinen Augen sehen, dass er mir das nicht abnahm.

„Möchtest du nicht auch mal hier raus?“, fügte ich sicherheitshalber hinzu.

„Ich reise sehr gerne. Mit meiner Band bin ich natürlich öfter mal unterwegs. Aber ich könnte mir nicht vorstellen Berlin länger als ein paar Wochen zu verlassen.“ Mit dem letzten Herzchen kratzte er die Sahne auf dem Pappteller zusammen und schob diese dann mit dem Finger auf die Waffel. Ich konnte nicht anders als ihn genau anzusehen, als er seinen Finger ableckte und das letzte Stückchen Waffel in seinem Mund verschwinden ließ.

„Warum nicht?“ Ich wollte unbedingt mal etwas anderes sehen als meine Heimatstadt. Mein ganzes Studium träumte ich schon davon ein Auslandssemester einzulegen, aber das kostete eine Menge Geld und ich wollte meinen Eltern nicht noch mehr auf der Tasche liegen.

„Weil ich das Glück habe in der fantastischsten Stadt zu leben“, erklärte Nick mit einer ausladenden Handbewegung. Es war ihm deutlich anzusehen, dass er das wirklich ernst meinte. Für Touristen mochte Berlin ein reiner Abenteuerspielplatz sein, für sie war unsere Hauptstadt unendlich spannend und an jeder Ecke so unerwartet anders. Meine Tante nannte Berlin immer die Stadt der unendlichen Möglichkeiten, wenn sie bei uns zu Besuch war. Sie war sich sicher, dass es hier niemals langweilig werden würde. Doch sie war höchstens einmal im Jahr hier. Für mich aber war Berlin mein Alltag. Ich hatte hier ewig lange die Schulbank gedrückt, ging jetzt hier zur Uni und hatte wohl in dieser Zeit alles kennengelernt, was unsere Hauptstadt zu bieten hatte. Für mich lag diese Stadt jeden Tag vor meiner Haustür, jeder Tag war gleich. Berlin bot mir nicht mehr das Aufregende, das Einzigartige und die ständige Veränderung, wovon jeder sprach, der nicht hier lebte. Während ich darüber nachdachte, aß ich langsam meine Waffel weiter. Wie köstlich sie nach Zimt schmeckte. Ein Vorgeschmack auf den Winter bei hochsommerlichen Temperaturen. Es war verrückt: So lange wir Sommer hatten, freute ich mich immer riesig auf Weihnachten. Es kam manchmal vor, dass ich plötzlich Lust hatte Ausstechplätzchen zu backen oder Weihnachtslieder zu hören, obwohl die Temperaturen alles andere als weihnachtlich waren. Wenn es kälter wurde und Weihnachten näher rückte, nervte mich das ganze Trara um dieses Fest zunehmend.

„Findest du nicht, dass du in keiner besseren Stadt wohnen könntest?“

„Ich weiß nicht. Ich hätte gerne mal was Neues. Hier kenne ich ja schon alles.“ Dafür erntete ich einen ungläubigen Blick.

„Ich glaube nicht, dass du alles kennst. Das ist ja gerade so toll an Berlin. Du kannst nie alles kennen. Dafür verändert es sich viel zu schnell. Und was ist mit dem Mauerpark? Den hast du bisher auch immer verpasst.“

Da musste ich ihm Recht geben. Natürlich hatte ich schon oft von dem Park und vor allem von dem berühmten Flohmarkt gehört, aber irgendwie war ich bisher noch nie hier gelandet. Dafür musste ich wohl erst einen Musiker kennenlernen.

„Warst du schon mal auf dem Raw Gelände oder hast du dir mal einen Sonnenuntergang von der Modersohnbrücke angesehen?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Wetten, dass ich dir noch viel mehr zeigen kann?“

„Was zum Beispiel?“

„Lass dich überraschen.“ Er grinste mich frech an. Wollte Nick mir wirklich seine Berliner Lieblingsorte zeigen? Diese Vorstellung ließ mein Herz etwas schneller hüpfen.

„Was genau magst du so an Berlin?“, fragte ich ihn neugierig.

„Ich bin ja hier geboren und deshalb erst überraschend spät von diesem Berlin-Hype erfasst worden, der ja bereits zu Beginn der 2000er Jahre Fahrt aufnahm. Warum mich diese Stadt während des Erwachsenwerdens so in seinen Bann schlug, ist sicherlich Berlins unfertige Rauheit. Die Rastlosigkeit von Hunderttausenden, die im letzten Jahrzehnt aus aller Welt hierher gezogen sind, um sich zu verwirklichen, aufzublühen, zu scheitern, sesshaft zu werden oder weiterzuziehen. Berlin ist ein Melting Pot für viele Kulturen, in dem Grenzen verschwimmen. Ein riesiger, kultureller Durchlauferhitzer, in dem eher ein trunken machendes Klima aus Freiheit und Unbedarftheit herrscht, als ein klares Wertegerüst. Strukturierte Lebensentwürfe findet man in unserer Generation hier selten. Jeder möchte frei sein. In Berlin sind wilde Lebensgeschichten normal. Diese Mentalität lässt Kulturen, Architektur und das alltägliche Miteinander teilweise krass in einander schlagen. Jeder, der davon hört und raus möchte aus seiner eigenen Komfortzone, will dieses Gefühl inhalieren. Ich denke, niemand wird in dieser Stadt alt.“ Staunend blieb mir kurz der Mund offen stehen. Erstens über die Länge seiner Erklärung. Er redete eindeutig mehr als alle Männer, die ich bisher getroffen hatte. Und zweitens – und vor allem das – über den Inhalt des Gesagten. Ich hatte das Gefühl, dass Nick unsere Stadt völlig anders wahrnahm als ich. Lag es daran, dass wir sie beide total unterschiedlich kennen gelernt hatten? Oder daran, dass er einfach an anderen Orten groß geworden war?

„Sollen wir weiter?“, fragte er, woraufhin ich nickte, immer noch damit beschäftigt seine Antwort sacken zu lassen. Ich glaubte noch nie so eine treffende Beschreibung von Berlin gehört zu haben. Ein kultureller Durchlauferhitzer wiederholte ich in meinem Kopf. Wir standen von dem Biertisch auf, um den riesigen Flohmarkt noch etwas zu erkunden.

„Guck mal.“ Nick blieb an einem Postkartenständer stehen, der mit verschiedenen Berlinmotiven bestückt war. Zwei Frauen standen davor. Beide trugen eine Kamera um den Hals und einen großen Rucksack auf dem Rücken, womit sie sich selbst zweifellos als Touristen enttarnten. Verwundert blieb ich neben Nick stehen. Was wollte er mir zeigen?

„Siehst du? Hier der Gendarmmarkt und im Gegensatz dazu dieses zerbrochene Fenster in der schmutzigen Tür. Die Stadt ist so voller Kontraste. Oder hier das alte Fahrrad an der mit Graffiti besprühten Wand. Hässlich, aber gleichzeitig Kunst. Berlin ist so abwechslungsreich. Hier wird es einem nie langweilig, wenn man nur neugierig bleibt und die Augen offen hält.“ Auch diese Antwort erstaunte mich. So hatte ich es noch nie gesehen.

Mit späterer Stunde wurden die Gänge zwischen den Ständen immer voller. Langsam hatten sich scheinbar alle Berliner aus dem Bett gequält und einige von ihnen starteten ebenfalls hier in den sonnigen Tag. An einem Stand mit witzig bedruckten Leinenbeuteln, blieb ich stehen. Nick stellte sich neben mich und kommentierte einige der Sprüche. Es war so voll, dass er ganz dicht neben mir stand. Unsere Arme berührten sich sogar und ich hatte das Gefühl, trotz der Hitze auf einmal zu frieren. Was für ein Quatsch, versuchte ich mich selbst zur Vernunft zu bringen. Die wochenlange Hitze bekam mir offensichtlich nicht.

„Na, macht ihr Großeinkauf?“ Ich blickte auf. Tom und Jacob standen plötzlich neben uns. Tom blickte auf die beiden Leinenbeutel in meiner Hand und zeigte dann auf den linken, auf dem ein altes Radio zu sehen war. „Ich würde den nehmen!“

„Wo wart ihr?“, wollte Nick wissen.

„Wir wollten euch nicht stören“, antwortete der Bassist mit einem vielsagenden Grinsen. „Seid ihr fertig? Wir wollten mal langsam los?“, fügte er noch hinzu.

Nick schaute mich fragend an. „Ich nehm den hier“, entschied ich mich für einen Beutel mit einigen aufgedruckten Pinseln. Auch wenn ich meistens mit Kreide und nicht mit Pinseln zeichnete, fand ich, dass er zu mir passte. Schnell suchte ich den passenden Betrag in Münzen aus meinem Portemonnaie. „Jetzt können wir los.“

Auf dem Weg zur Haltestelle, sog ich die Stimmung in dem Park noch einmal auf. Überall saßen Leute auf der Wiese umzingelt von leeren Dosen und Tüten. Hin und wieder klimperte jemand auf einer Gitarre. Sogar an einem Klavier auf Rollbrettern kamen wir vorbei. Überall lag Müll. Es war grau und dreckig und trotzdem auf irgendeine Art und Weise schön.

„Puuh, ist das heiß.“ Nick wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Ich brauche dringend ein Eis.“ Ich konnte ihm nur zustimmen, es war unfassbar was dieser Sommer für kochend heiße Tage für uns bereithielt. Der Kies staubte unter unseren Füßen und ich fühlte mich fast wie in der Wüste.

„Wollen wir zurück Richtung Eberswalder Straße gehen? In der Nähe der Haltestelle ist doch eine Eisdiele“, schlug Tom vor.

„Was könnt ihr empfehlen?“ Es war mittlerweile Mittag und von dem kurzen Fußweg schwitzte ich so sehr, dass ich einen ganzen Eimer Eis hätte vertragen können.

„Wir machen das heute mal ganz anders.“ Alle, mich eingeschlossen, sahen Nick neugierig an.

„Wir suchen die Eissorte nach unserer Kleidung aus.“

„Steigt dir die Sonne schon zu Kopf?“ Tom schlug seinem Bandkollegen kräftig auf die Schulter.

„Nein, das ist doch witzig. Jeder darf zwei Kugeln wählen. Eine in der Farbe der Hose und eine in der Farbe des T-Shirts.“

Ich guckte an mir herunter. Ich trug ein grünes Oberteil und eine schwarze Jeansshorts. Das konnte ja lustig werden.

„Gibt es lila Eis?“ Jacob klang wenig begeistert.

„Klar! Blaubeere“, antwortete Nick.

Kritisch musterten wir das Angebot. Die Idee war verdammt witzig. Aber in der Hinsicht war Paulas Kleiderwahl leider nicht so gelungen. Ich hatte einmal die Wahl zwischen Pistazie und Waldmeister. Schwarz war da schon schwieriger. Ich hatte keine Alternative, sondern musste Lakritz nehmen. Ihgitt! Lakritz konnte ich noch nie ausstehen. Dafür liebte ich Waldmeister. Die Kombination aus beidem klang allerdings nicht wirklich appetitlich.

„Ich glaub ich nehme Schlumpfeis und Schoko“, entschied Nick zufrieden. Er trug eindeutig die besseren Klamotten.

„Tauschen wir die Hosen?“ Ich stieß ihm in die Seite.

„Nix da.“

„Oder gibst du mir dein Schokoladeneis?“

„Keine Chance! Hier wird nicht geschummelt.“ Nick warf mir ein freches Grinsen zu.

„Ey, ich habe auch nicht mehr Glück! Erdbeere und Zitrone. Viel zu gesund.“ Tom verzog das Gesicht, so als würde sein Eis einen Vitaminschock auslösen.

„Ein bisschen Obst tut dir mal ganz gut“, zog Nick ihn auf. Tom schaute ihn nur gequält an. Was hatte er nur gegen den fruchtigen Geschmack? Ich hätte nur zu gerne mit ihm getauscht.

Mit unserer Eroberung verzogen wir uns in einen Häusereingang, um aus der brennenden Sonne zu entfliehen. Nick fotografierte unser Eis mit dem Handy, bevor er sich neben mir niederließ. Er tippte noch kurz auf seinem Display herum. Wahrscheinlich lud er das Bild gleich irgendwo hoch. Vorsichtig probierte ich mein Lakritzeis. Angeekelt verzog ich das Gesicht. Es schmeckte genauso widerlich wie ich es mir vorgestellt hatte. Ich nahm einen großen Löffel und füllte die Eiscreme einfach in Nicks Becher um.

„Heute ist wohl mein Glückstag! Ich nehme gerne alles.“

„Kannst du gerne haben.“ Mit jedem Löffel, den er von mir bekam, wurde sein Grinsen breiter.

„So sollten wir öfter Eis kaufen.“

„Dann ziehe ich aber etwas anderes an“, protestierte Tom, der offensichtlich ziemlich mit seinem Fruchtbecher zu kämpfen hatte.

Nick hielt mir einen Löffel mit Schokoladeneis entgegen und ich probierte. Es schmeckte richtig stark nach Schokolade und war wunderbar cremig. Mir entging nicht, dass er auf meine Lippen schaute, als ich mir ein bisschen Eis mit dem Finger wegwischte.

„Der Trödelmarkt war echt toll“, stellte ich fest. Irgendwie auch ein bisschen, um ihn abzulenken.

„Freut mich, dass es dir gefallen hat.“

Ich probierte das Waldmeistereis. Es war richtig lecker. Nur an einigen kleinen Stellen kam der Lakritzgeschmack leider noch etwas durch.

„Was mochtest du besonders?“, wollte Nick wissen.

„Das alle so freundlich waren, die Vielfalt an Angeboten und die Zimtwaffeln. Dazu war es auf eine Art ruhig dort, obwohl so viel los war.“ Das klang vielleicht etwas seltsam, aber obwohl es richtig voll gewesen war, war es mir dort überhaupt nicht hektisch oder laut vorgekommen, sondern einfach total entspannt. Ich hatte überhaupt nicht das Gefühl mich zwischen so vielen Menschen zu befinden.

„Ich weiß was du meinst.“

„Am liebsten hätte ich echt einen Großeinkauf gemacht. Wenn ich eine eigene Wohnung habe, dann werde ich dort ganz viel kaufen.“ Schon seit Jahren hatte ich einen ganz genauen Plan für meine erste eigene Wohnung. Eine Mischung aus skandinavisch modern und den 70er Jahren. Auf dem Mauerparkflohmarkt würde ich auf jeden Fall fündig werden. Dann müsste ich aber mit jemandem dort hin fahren, der ein Auto besaß, damit ich auch Möbel oder andere sperrige Dinge transportieren konnte.

„Wohnst du noch zu Hause?“

Ich nickte. Aber hoffentlich nicht mehr lange. „Du wohnst in einer WG, oder?“

„Ich wohne mit Jacob zusammen. Ich bin ausgezogen, als ich siebzehn war. Meine Eltern haben mich quasi rausgeschmissen.“

„Warum das denn?“ Das hätten meine Eltern niemals getan. Im Gegenteil: Sie wollten, dass ich bei ihnen wohnen blieb, bis ich mein Studium abgeschlossen hatte. Oder am liebsten noch länger.

„Sie halten überhaupt nichts von meiner Musikerkarriere.“

„Dann wissen sie einfach nicht, was du drauf hast!“ Flirtete ich da gerade? „Ich würde auch gerne bald ausziehen.“ Schnell wieder zurück auf sicheres Terrain.

„Es hat viele Vorteile“, stimmte Nick zu. Genau! Endlich machen, was ich möchte. Nicht ständig unter Beobachtung stehen. Eis zum Frühstück, wenn ich Lust darauf habe und schlafen bis zum Nachmittag.

„Seid ihr fertig?“, unterbrach Tom unser Gespräch. Er klang ziemlich ungeduldig.

„Gleich.“ Sah er nicht, dass ich mein Eis noch nicht ganz aufgegessen hatte? Wahrscheinlich waren sie schon ewig fertig. Aber wenn man so viel redete, ging es eben nicht so schnell. Tom stellte seinen Becher auf die Stufe unter meinen Füßen. Eine orangene, zähflüssige Masse schwamm darin herum. Er hatte sein Eis nicht aufgegessen. Schade um das Zitroneneis.

„Wir wollten doch noch an den neuen Songs arbeiten“, drängelte Tom weiter.

„Sofort! Lass Mia doch noch eben aufessen.“

„Es gibt bald neue Songs?“, fragte ich, während ich den Eisbecher auskratzte.

„Ja, es wird hoffentlich nicht mehr lange dauern. Wir beeilen uns.“

„Wie entstehen eure Songs?“ Ich hatte mich schon oft gefragt, wie ein Song geschrieben wurde, wenn ich Musik hörte. Wie die Texte geschrieben wurden wusste ich ja schon, aber nicht wie die Melodie dazu entstand.

„Songs entstehen bei uns so vielfältig, dass ich keine klare Methode beschreiben kann. Grundsätzlich wissen wir aber, welche Stimmung uns, unserer Musik und unserem Treiben zugrunde liegt. Auf dieser Basis schaffen Tom an der Gitarre oder Jan am Schlagzeug sogenannte Pattern, die sie mir zum Texten als Mp3 zur Verfügung stellen. Darauf schreibe ich auf, was mir gerade auf der Seele brennt.“ Ich hörte Nick so gerne zu, wenn er mir etwas über seine Musik erzählte. Meinetwegen müsste er nicht damit aufhören. Zu meinem Glück setzte er seine Antwort noch fort: „Häufig begleite ich das dann mit meiner Akustikgitarre. Diesen Input bespreche ich dann mit Jan, wir sortieren Idee und roten Faden der Geschichte, schmeißen locker fünfzig Prozent des Inhalts weg und stimmen uns gesanglich auf den textlichen Kern ein. Dann nehmen wir auf. An der Stelle entscheidet sich ganz oft erst, wie ich es schlussendlich singe. Du spürst, ob das Gefühl zum Text passt, wenn du es live einsingst. Später entwickeln sich entlang solcher Demos dann auch noch weitere Gitarrenarrangements, die vorher anders waren. Alles in allem nennen wir das deswegen einen sehr dynamischen Prozess. Nichts ist in Stein gemeißelt, alles wird mindestens dreimal durchdacht. Think out of the box.“

„Du redest zu viel“, unterbrach Tom ihn. Da konnte ich ihm absolut nicht zustimmen. Ich hätte Nick gerne noch weiter zugehört. Als wir unser schattiges Plätzchen verließen, empfing uns die Hitze wie eine Wand.

„Also spielst du immer Gitarre während du textest?“

„Ich schreibe Songs meistens mit Gitarre da ich so schneller einen Song fertigstellen kann, die Stimmung des Songs immer direkt bei mir habe und Verslängen besser einhalten kann.“

Langsam liefen wir zur Eberswalderstraße und ich quetschte Nick noch weiter aus. Es war so interessant etwas über Musik zu erfahren, was einem nur Musiker erklären konnten. Zu schnell kamen wir an der Haltestelle an, wo ich in die U-Bahn Richtung Ruhleben einstieg, während die Jungs auf der Gegenseite auf ihre Bahn warteten.

*

„Ihr habt was?“ Paula prustete laut los, als ich den Bericht vom Eis essen abgeschlossen hatte. „Dieser Nick hat sie ja nicht mehr alle!“

„Ich musste Lakritzeis bestellen. Weißt du wie ekelhaft das ist?“ Bei der Erinnerung daran, verzog ich das Gesicht. Paula lachte jetzt noch lauter. Sie kriegte sich gar nicht wieder ein. Sogar ein paar Tränen kullerten über ihre Wangen. Sie schlug sich die Hände vors Gesicht und gluckste vor sich hin. „So was habe ich ja noch nie gehört.“ Ihr Lachen steckte mich an. „Dieser Nick scheint wirklich ganz schön verrückt zu sein.“

„Ein wenig.“ Ich musste in mich hinein lächeln. Gerade das mochte ich ja an ihm.

„Läuft da vielleicht doch was zwischen euch?“, fragte Paula völlig unverblümt.

Ich schüttelte den Kopf. „Wir verstehen uns einfach gut.“

„Und da ist wirklich nicht mehr?“

„Nein, ich kenne ihn doch gar nicht. Hier schneide lieber die Paprika.“ Ich schob eine orangefarbene Paprika zu ihr herüber. Paula hatte schon längst mehrere Tomaten und eine Aubergine gewürfelt, während ich immer noch mit meinem Gemüse kämpfte. Ich mochte Nick, aber ich wollte einfach nur mit ihm befreundet sein.

„Hast du schon gelernt?“ Meine Paprika war endlich in unförmige Würfel geteilt.

„Für Sprachwissenschaft?“ Paula stöhnte. „Ich kann mir das einfach nicht merken.“

„Wir können ja gleich noch ein paar Aufgaben durchgehen.“ Ein Fragenkatalog von über siebzig Fragen wartete auf uns.

„Bei dem Wetter?“

„Nächste Woche schreiben wir die Prüfung. Leider bekommen wir wohl kaum Hitzefrei.“

„Was kriege ich zur Belohnung?“

Ich überlegte einen Moment. Paula und ich hatten es uns angewöhnt uns Belohnungen auszudenken, um uns gegenseitig für unangenehme Aufgaben zu motivieren. „Wenn wir zwei Stunden lernen, holen wir uns danach einen Kaffee im Impala und trinken ihn im Park. Ich gebe dir einen aus!“

„Klingt gut.“

Dank Paula nahm das Risotto langsam Form an. Nach dem Essen setzten wir uns auf den Balkon und versuchten Morphologie und Phonetik in unsere Köpfe zu hämmern.

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