Читать книгу Wir mussten einander finden - Anny von Panhuys - Страница 7

4.

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Ulli Gregorius und ihre Mutter waren Tag und Nacht durchgefahren, hatten unterwegs nirgends haltgemacht, nicht einmal in Berlin, von dem ihr Wohnort nur noch ein knappes Stündchen entfernt war. So kamen sie am nächsten Abend in der kleinen märkischen Stadt an. Am Bahnhof stand Werner Gregorius und winkte Frau und Tochter, die am Abteilfenster standen, froh entgegen. Es war ein wundervoller Frühlingsabend voll herber Frische. Noch lag über dem Himmel ein mattrosiges Leuchten, ein letzter Gruß der Sonne, die zur Ruhe gegangen, und harziger Tannenduft kam vom nahen Wäldchen. Ulli Gregorius sog den Duft tief ein, dachte glücklich: Kleine Heimat, wie froh bin ich, wieder ein Weilchen hier leben zu dürfen!

Der Zug hielt, und Ulli reichte dem Vater zuerst ihren Geigenkasten, den er mit derselben Sorgfalt entgegennahm, mit der sie ihn hinausreichte. Dann kam Handgepäck, und nun erst begrüßte man sich durch Händedruck und Kuß.

Werner Gregorius blickte die Tochter voll Stolz an.

„Mädelchen, die Kritiken, die du mir von unterwegs geschickt, haben mich ganz hochmütig gemacht. Alle, die dich kennen, sind stolz auf dich. Unsere Freunde wollten dich zusammen abholen, sogar mit Gesang solltest du empfangen werden, aber ich habe energisch protestiert und es dann auch fertig gebracht, daß man dich wenigstens zunächst in Ruhe läßt.“

Man ging langsam dem Ausgang zu, und ihren Geigenkasten trug Ulli wieder selbst. Viele Einheimische grüßten. Ulli war sehr beliebt im Städtchen, weil sie trotz des Ruhmes, den ihre jungen zwanzig Jahre schon erworben hatten, ein einfaches und liebes Menschenkind geblieben war. Draußen bestieg man ein Auto, und während der Heimfahrt hielt der Vater die Hände der ihm gegenübersitzenden Ulli fest in seinen Händen. Sie erzählte ihm von Willem van Xanten und seinem Angebot, lachte silberhell. „Denk nur, Vater, was für eine ungebildete Person dein Mädel ist. Schlägt nicht nur eine Viertelmillion holländische Gulden aus, sondern auch einen Mann, so schwerreich ist, daß wir soviel Reichtum gar nicht ganz begreifen.“

Werner Gregorius, ein schmaler, schon grauhaariger Mann mit klugen, freundlichen Zügen, stimmte in das Lachen ein.

„Gottlob, Mädel, daß dich der Mammon nicht zu reizen braucht. Verdienst ja schon selbst schrecklich viel Geld und hast es wirklich nicht nötig, deine geliebte Frohnstainer zu verschachern. Aber es imponiert mir doch, wie hoch dieser Holländer die Frohnstainer einschätzt.“

Das Auto fuhr langsamer eine etwas ansteigende Straße hinauf und hielt bald. Ganz nahe dem Walde lag das Häuschen, in dem man allein wohnte. Suse stand vor der Tür, die alte, weißhaarige Suse, die eigentlich zum Haus gehörte. Sie war schon bei den Eltern von Werner Gregorius unentbehrliches Faktotum gewesen. Ulli umarmte die Alte, die kürzlich siebzig geworden, und ging an ihrem Arm ins Haus.

Die Alte schüttelte den Kopf.

„Bist ja eine Weltreisende und so was wie ein Wundertier geworden, Ulli; ich weiß gar nicht recht, ob ich überhaupt noch du zu dir sagen darf. Eigentlich gehört es sich wohl nicht mehr?“

Ulli lächelte jungmädchenhaft froh.

„Wir beide behalten uns lieb, Suse, und wir beide sagen du zueinander, und wenn ich Kaiserin von Abessinien werden sollte.“

In ihrem hübschen Zimmer stand Ulli und atmete tief auf. Oh, wie froh war sie, wie zufrieden. Schön und berauschend waren ihre Erfolge gewesen draußen in der großen Welt; aber herrlich war es auch, nach langen Wochen wieder daheim ausruhen zu können. Ausruhen! Sie hob die Arme und streckte sie aus, als wollte sie etwas umarmen. „Heimat, liebe Heimat!“ sagte sie leise. Wie eine Liebkosung klang es.

Sie ging an den Waschtisch, machte sich schnell etwas zurecht. Sie war müde von der ununterbrochenen Fahrt von Amsterdam bis hierher; gleich nach dem Abendessen wollte sie sich schlafen legen. Sie hatte ihr Gesicht gewaschen, nun bürstete sie über das kurzgeschnittene, von Natur lockige Haar, und dann ging sie zur Tür. Sie mochte den Vater nicht zu lange warten lassen, er war ja so lange, so lange allein gewesen.

Und unten im Wohnzimmer, in dem man auch die Mahlzeiten einzunehmen pflegte, saß Werner Gregorius, der Zeichen- und Musiklehrer an der Ersten Städtischen Bürgerschule, und wartete auf das Erscheinen seiner Tochter wie ein verliebter Gymnasiast auf das Erscheinen der Geliebten zum ersten Stelldichein. Er vergötterte sein talentiertes Kind und war unsagbar stolz auf sie, die den Ruhm unter das Dach seines einfachen kleinen Häuschens getragen. Er dachte, wenn Ulli gewollt, hätte sie die Frau eines steinreichen Amsterdamer Handelsherrn werden können. Er lächelte vor sich hin. Wie einfach und bescheiden war sein Leben verlaufen. Er war, wie selbstverständlich, in die Fußtapfen seines Vaters getreten, der vor ihm Zeichen- und Musiklehrer an der Ersten Städtischen Bürgerschule gewesen. Ein Mann ohne Ehrgeiz. Oder doch nicht? Hatte im Vater vielleicht in jungen Jahren heimlich derselbe Ehrgeiz gebrannt, den auch er kannte. Ein Ehrgeiz, der viel begehrt und träumt und dann plötzlich schmerzhaft klar und wehetuend einsieht, daß er gar keine Berechtigung dazu hat. Gar keine. Ein bißchen Klavierspiel, ein korrektes, braves Geigenstreichen, ein paar Kompositionen, die jeder Musikverleger zurückschickt, berechtigen zu keinem Ehrgeiz. Er hatte das durchgemacht und vielleicht auch der Vater, an dem er sich als einen stillen, etwas menschenscheuen Mann erinnerte.

Werner Gregorius nickte vor sich hin. Auch seine Frau, die als Gouvernante und Musiklehrerin im Hause der Gräfin Langer in die kleine Stadt gekommen, hatte früher Ehrgeiz gehabt. Sie spielte nett Geige, aber nur nett, und das hatte natürlich längst nicht gereicht, die Hand nach dem Ruhmespreis auszustrecken. Er murmelte: „Kleinzeug waren wir alle, nur Ulli ist groß, nur Ulli wird eine ganz Große!“

Die Tür öffnete sich, und Ulli, an die er so sehnsüchtig wie ein verliebter Gymnasiast dachte, trat ein, war schon bei ihm, setzte sich neben ihn auf das kleine, schon ein wenig niedergesessene Sofa, das sie sehr liebte und sich dagegen verwahrte, daß es durch ein anderes ersetzt würde.

Sie legte die Arme um den Hals des Vaters.

„Hör mal gut zu, was ich herausgefunden habe, Vater. Nämlich das: Die Welt ist überall interessant und schön, und ich kam mir unglaublich wichtig vor, weil ich in Mailand und Rom, in Paris und Gott weiß wo noch herumspazieren und mich feiern lassen durfte, aber hier ist’s doch am schönsten, hier in unserem kleinen Erdenwinkel, von dem die da draußen, mitten in der lautesten Welt, gar keine Ahnung haben.“

Er drückte sie zärtlich an sich.

„Mädelchen, magst recht haben, aber begehrenswert ist es doch, die Welt sehen zu dürfen, wo sie am lautesten ist. Die Lose fallen verschieden, du hast das Glück, Kind, daß dir beides gehört, die laute Welt, die Fremde und die kleine Heimat, der Hafen.“

Frau Gregorius kam, und dann erschien Suse, sagte wichtig: „Ich schicke jetzt das Essen herein, es ist alles fertig!“

In dieser Nacht schlief Ulli wundervoll, wie eingewiegt von sanften Händen. Sie hatte die Fenster ein wenig offen gelassen, und die Luft vom nahen Eichenwald zog in das Zimmer und erquickte die müde Schläferin. Aber gegen Morgen flog wie ein düsterer großer Falter ein Traum durch das geöffnete Fenster. Vielleicht kam es vom höher gelegenen Wald, der nachts so finster war, und in dem wohl die bedrängenden bösen Träume hausen.

Ulli Gregorius träumte, sie befände sich in ihrem Zimmer, und auf dem großen Tisch mit der buntgeblümten hübschen Kretonnedecke stände ihr Geigenkasten aus gelbbraunem Leder, der ihren kostbaren Schatz enthielt. Sie blickte darauf hin, und da erschien plötzlich eine Hand, die sich wie gierig durch die Luft vorwärts bewegte, wie ein kleines gefährliches Raubtier. Die Hand näherte sich dem Kasten, glitt mit krallig gebogenen Fingern dicht an den Kasten heran.

Sie wollte schreien: Fort, fort! Sie wollte nach der Hand schlagen und fühlte verzweifelt, sie besaß nicht die Kraft dazu. Sie vermochte kein Glied zu rühren, und ihr Mund blieb stumm, so sehr sie sich auch abmühte, wenigstens einen einzigen Hilfeschrei auszustoßen. Und nun muß sie stumm, wie gefesselt, zusehen, wie die gierige Hand den Kasten öffnete und unter der golddurchwirkten rotsamtenen Geigendecke ihren kostbaren Schatz herausnahm und sich damit durch die Luft zurückbewegte wie ein widerlicher Skorpion. Deutlich sah sie die Finger der Hand, die einem Manne gehören mußte, deutlich sah sie an dem Goldfinger einen sehr breiten Ring mit zwei Brillanten, die einen etwas größeren Rubin flankierten. Plötzlich war die Hand, die einem vielbeinigen eklen Tier glich, verschwunden und mit ihr die Frohnstainer Geige, eines der hervorragendsten Meisterwerke Urgroßvater Frohnstainers, die ihre Mutter mit in die Ehe gebracht.

Ulli erwachte mit starkem Herzklopfen und atmete tief und froh, weil alles nur ein Traum gewesen, ein Alpdruck. Man hatte gestern zu spät und schwer gegessen. Sie dachte: Träume kommen aus dem Magen.

Sie lächelte. Da drüben auf dem großen Tisch stand der mit gelblichbraunen Leder überzogene Geigenkasten, und ihre Frohnstainer schlief sanft und behütet unter der golddurchwirkten rotsamtenen Geigendecke. Ihr Zimmer war verschlossen, und der Traum war sehr dumm.

Sie streckte sich wohlig. Wie herrlich, endlich wieder einmal daheim zu erwachen! Eine Kirchenuhr schlug siebenmal. Ulli zählte mit. Sie überlegte, sie wollte bald aufstehen und später einen Spaziergang durch den geliebten heimatlichen Wald machen. Darauf hatte sie sich unterwegs in letzter Zeit schon oft gefreut. Sie döste noch ein wenig zur Decke empor, dann erhob sie sich. Sie war keine Freundin vom langen Herumliegen im Bett nach dem Erwachen.

Belustigt dachte sie jetzt an ihren Traum, und sie meinte, die Hand, die sie im Traum erschreckt, deutlich vor sich zu sehen.

Sie begab sich nebenan in das kleine Badezimmer, das sie sich nach den ersten erfolgreichen Konzerten in dem alten Häuschen hatte anlegen lassen, und duschte sich energisch ab. So, nun war sie vollkommen frisch. Schnell in das einfache graue Jackenkleid geschlüpft und hinunter zum Frühstück. Um halb acht wurde gefrühstüdckt, eine Viertelstunde später mußte der Vater in die Schule gehen, um zum Unterricht zurechzukommen.

Wir mussten einander finden

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