Читать книгу Liebe ist die größte Macht - Anny von Panhuys - Страница 10
7.
ОглавлениеAls man sich mit verärgerten Gesichtern am nächsten Morgen am Frühstückstisch zusammenfand, fehlte Waltraut.
Eins der Mädchen meldete: „Das gnädige Fräulein ist schon sehr früh auf dem Rad fort. Ich soll bestellen, sie hätte Kopfweh und müsse ein paar Stunden an die frische Luft.“
Man aß und trank ziemlich schweigsam. Nur einmal sagte der Gutsherr: „Wenn Waltraut zurückkommt, Inge, ordnest du die Geschichte von gestern abend, ich verlange das von dir.“
Inge nickte nur. Ihr war heute ganz erbärmlich zumute, und sie war froh, daß man sie vorläufig in Ruhe ließ.
Ungefähr um die gleiche Zeit hatte Waltraut auf ihrem Rade die Maschinenfabrik nahe der Kreisstadt erreicht. In riesigen Buchstaben drängte sich ihr der Name auf dem Firmenschild über breitem Torweg entgegen. „Friedrich Ulrich“ stand da. So hatten der Großvater und der Vater des jetzigen Besitzers geheißen, und so hieß er selbst. Fred war eine Abkürzung seines Vornamens. So hatte ihn immer seine Mutter genannt, und so nannte er sich seitdem.
Waltraut wußte, daß Fred Ulrich allmorgendlich um acht Uhr hier sein Tagewerk begann. Sie hatte Glück; denn sie erfuhr, Herr Ulrich sei gerade vor wenigen Minuten gekommen. Sie ließ sich bei ihm melden, betrat gleich darauf sein Privatbüro.
Er sah ihr sehr erstaunt entgegen und stellte dabei fest, daß sie wunderschön aussah in dem einfachen grauen Jumperkleid mit dem schräggestellten grünen Seidenmützchen auf dem sehr hellen Haar.
Er war ihr entgegengekommen und reichte ihr die Hand.
„Was führt dich her, Waltraut? Willst du dich einmal umschauen in meinem Betrieb oder hast du etwas auf dem Herzen? Ich stehe dir gern zu Diensten. Aber, bitte, nimm Platz.“
Sie blieb stehen. „Ich weiß, du hast viel zu tun, Fred, und da möchte ich dich gar nicht besonders aufhalten. Ich bin nur gekommen, um eine einzige Frage an dich zu richten. Aber ehe ich es tue, bitte ich dich bei allem, was dir wert ist, beim Andenken an deine Eltern, beantworte mir meine Frage wahr und offen.“
Er schüttelte verwundert den Kopf.
„Das klingt ja unheimlich feierlich. Aber ich verspreche dir, wenn ich dazu imstande bin, deine Frage wahrheitsgemäß zu beantworten.“
Sie sah ihn groß an und fragte: „Liebst du mich?“
So einfach die Frage war, so schwer schien sie dem Mann zu beantworten. Die großen grauen Augen sahen ihn so forschend an, als wollten sie bis auf den Grund seiner Seele dringen.
Jede andere Frage hätte er eher erwartet als diese.
Eine Befangenheit bemächtigte sich seiner, die er abschütteln wollte und doch nicht abschütteln konnte. Diese großen Augen nahmen ihm die Freiheit, eine leichte Antwort zu geben.
Fred Ulrich wich aus: „Ich begreife dich nicht, Waltraut. Genügt dir nicht, daß du meinen Verlobungsring trägst, und genügt dir die Gewißheit nicht, daß wir im September heiraten werden? Nachdem ich dich an diese beiden Tatsachen erinnert, dürftest du dir deine Frage allein beantworten können.“
Er stand vor einem Rätsel. Was konnte Waltraut an der Beantwortung ihrer Frage liegen? Sie hatte doch so überschnell, so ohne jedes Überlegen eingewilligt, die Seine zu werden, daß auch bei ihr das Wort Liebe ausgeschaltet werden mußte. Sie hatte ihm zwar letzthin erklärt, sie liebe ihn sehr; aber das hatte er nicht höher bewertet, als vordem Inges seelenvollen Augenaufschlag, hinter dem sich doch auch nur Selbstsucht geborgen, nichts weiter. Kein Herz, keine Liebe waren mit dabeigewesen.
Um Waltrauts Lippen zuckte es wie in verhaltenem Schmerz.
„Einen Verlobungsring kann man auch einer Ungeliebten an den Finger stecken, und heiraten kann man eine Ungeliebte auch.“ Ihre Stimme war von Vorsicht gedämpft; dennoch schien sie Fred Ulrich laut, weil sie so heftig bebte, weil sie schwer und beladen war von Erregung, die sich losgelöst aus allertiefstem Herzen.
Und die leise, heftig bewegte Stimme sagte: „Ja, auch mit einer ungeliebten Frau kann man sich verloben und kann sie zum Altar führen, und es mag viele Frauen geben, die damit zufrieden sind, selbst wenn sie genau wissen, alles geschieht ohne Liebe.“ Sie richtete sich unwillkürlich auf. „Ich aber, Fred, ich gehöre nicht zu ihnen. Und deshalb bin ich heute gekommen, um die kurze, einfache Frage an dich zu richten. Daß du sie nicht ebenso kurz und einfach beantworten konntest, ist mir schon Antwort genug. Ich weiß Bescheid und könnte nun gehen. Aber ich glaube, ich bin dir doch noch ein paar Erklärungen schuldig, und du sollst sie haben.“
Fred Ulrichs Befangenheit wuchs. Er, der Lebenssichere, stand vor dem schmalen jungen Mädel wie ein auf einer Dummheit ertappter Schüler vor seinem Lehrer; aber all seine Sicherheit war klein geworden vor diesen klaren grauen Augen, vor dem seltsam traurigen, doch festentschlossenen Ausdruck des schönen Gesichts.
Waltraut sah sich um. „Sind nebenan Menschen? Könnte irgend jemand etwas von unserer Unterhaltung hören?“
„Die Türen sind schalldicht gepolstert. Liebes Kind, vergiß nicht, du befindest dich im Privatbüro des obersten Heerführers der Ulrichwerke.“
Er sagte es im scherzhaften Ton, zu dem er sich gezwungen, weil die seltsame Situation ihn zu sehr beengte. Er wollte ein Lächeln um den Mund Waltrauts erwecken.
Und das Lächeln zeigte sich wirklich; aber es tat ihm fast weh, es huschte fast flüchtig über ihr Gesicht und glich fast einer Schmerzempfindung.
Er bat: „Setze dich doch!“
Es war plötzlich Mitleid in ihm mit ihr, und er wußte noch nicht einmal, warum. Nur wie ein Ahnen empfand er, was hinter ihrer Frage gesteckt.
Sie setzte sich. „Wie du willst, Fred. Aber setzte dich auch.“
Und nun saßen sie sich gegenüber — er auf seinem Schreibtischsessel, sie in einem Klubsessel, der einen breitgewichtigen Rahmen um ihre schlanke Sportfigur bildete.
Sie sah ihn jetzt nicht an; ihr Blick haftete in einer entfernten Ecke des sehr großen Zimmers.
„Jetzt meine Erklärung, Fred. Sie ist sehr einfach. Als du um mich anhieltest, war mir, als hätte sich der Himmel geöffnet und mir sein höchstes Glück heruntergeworfen. Ich hatte geglaubt, du wolltest Inge zur Frau, so, wie Onkel und Tante es geglaubt hatten, und ich begriff nicht, daß ich die Glückliche sein sollte. Ich war erst fassungslos, fand mich aber schließlich doch in das Ueberraschende, Schöne. Ein Mann wie du stand für mich zu hoch, als daß er Dinge hätte tun können, die häßlich und verwerflich waren.“ Ihr Blick kehrte zu ihm zurück. „Ich ahnte nicht, daß ich nur ein Mittel für dich war, um dich an Inge zu rächen. Du liebtest mich nicht, du liebtest Inge. Ich aber glaubte nur zu gern an eine Liebe, für die du nie ein Wort fandest. Ich glaubte einfach daran, ohne daß du es mir jemals sagtest. Ganz selbstverständlich war das für mich, weil du mich ja sonst nicht begehrt hättest. So dachte ich! Aber Inge wußte es besser. Gestern abend verriet sie mir, in Gegenwart ihrer Eltern, die volle Wahrheit. Du liebst sie, du kamst, um ihre Hand zu erbitten, und dann hörtest du von der Bibliothek aus ein Gespräch mit an, das sie im Nebenzimmer mit ihrer Mutter führte. Ein Gespräch, dem du entnehmen mußtest, sie empfand nichts für dich; nur dein Reichtum lockte sie. Und der Zorn darüber gab die den Gedanken ein, dich an ihr zu rächen. Für diese Rache schien ich dir eben recht.“ Sie erhob sich. „Ich aber lasse mich nicht als Werkzeug deiner Rache benützen, Fred, weil ich dich liebte. Seit langem. Ich war traurig, als ich hörte, Inge wollte dein Werben aus selbstsüchtigen Gründen annehmen. Ich versuchte das sogar zu verhindern, weil du mir zu schade warst, nicht wiedergeliebt zu werden. Jeder hätte ich das Glück gegönnt, deine Frau zu werden, wenn ich gewußt, sie liebe dich. Ich habe dich geliebt, und ich glaubte an deine Liebe. Wie hättest du denn sonst an mich gedacht. Ich habe dich geliebt wie einen, der hoch über dem Alltag steht, und im Grunde warst du nur ein rachsüchtiger Verliebter, dem es in seiner Enttäuschung gar nicht darauf ankam, einen andern Menschen zu opfern, nur um die Befriedigung der erfüllten Rache zu kosten.“ Ihr Blick flammte. „Ich habe dich geliebt über alles, aber du bist klein, Fred Ulrich, sehr klein! Ich verlange für meine Liebe Gegenliebe, ich lasse mich nicht für Geld kaufen. Und da hast du deinen Ring wieder und die Perlen dazu, die Anzahlungen auf eine lieblose Ehe.“
Sie stellte das Etui mit der Perlenschnur auf den Schreibtisch und legte den Brillantring daneben.
Im Zimmer herrschte tiefe Stille. Fred Ulrich saß noch immer auf seinem Stuhl, aber er sah Waltraut längst nicht mehr an; er hatte den Blick senken müssen vor den flammenden grauen Augen.
Die Stille wurde schwer und lastend. Immer schwerer, immer lastender! Mit einem tiefen Atemzug erhob sich endlich Fred Ulrich, und langsam sagte er: „Ich wußte nicht, daß du mich liebst, Waltraut.“
Sie verbesserte: „Ich liebte dich, aber ich liebe dich nicht mehr. Meine Liebe zerbrach an der allzu großen Enttäuschung.“
Er dachte, warum traf ihn ihre Verbesserung seines Satzes fast wie ein Schmerz?
So sprach er ganz sanft — wie zu einem Kinde. „Waltraut, ich bedaure, was ich getan, ich bedaure, dir Schmerz zugefügt zu haben. Ich schätzte dich in meiner jähen Erbitterung genauso ein wie Inge. Verzeih mir, Waltraut.“
Jetzt erst sah er sie an. Die Erregung schien von ihr gewichen; eine matte Ruhe lag auf ihrem Gesicht, ihr Blick war ernst und traurig.
„Laß, Fred! Ich trage dir nichts nach. Wir wollen in Frieden auseinandergehen.“ Sie war schon an der Tür. „Ich will Onkel bitten, mich fortzulassen, vielleicht finde ich irgendwo Stellung als Kinderfräulein oder Gesellschafterin. Ich glaube nämlich, Onkel und Tante werden sich wenig über die Auflösung unserer Verlobung freuen. Es ist nun gut, ich gehe fort.“ Sie lächelte jetzt. „Aber das sind Dinge, die nur mich angehen.“
Er wußte nichts zu erwidern, und ehe er sich noch besinnen konnte, war sie fort.
Als er die Tür öffnete, um ihr nachzurufen, war sie schon die Treppe hinunter. Was hätte er ihr denn auch sagen können? In ihren Augen war er schuldig und war es auch in seinen eigenen.
Er sah das Etui an, das die Perlen enthielt, die er ihr erst gestern gebracht hatte, und er sah den Ring an, den funkelnden Ring, den er Inge hatte geben wollen, den er Waltraut an den Finger gesteckt, und der sich nun zu ihm zurückgefunden. Jetzt konnte er ihn wieder in den Schmuckkasten seiner Mutter legen, dem er ihn entnommen.
Am Fenster stehend, blickte er auf die Land-Straße hinaus, die schnurgerade in der Nähe vorüberzog und die auch nach Gut Arnsdorf führte. Da sah er Waltraut auf ihrem Fahrrad. Die schlanke, straffe Gestalt saß fast regungslos auf dem Rad. Wie schön sie war. Schöner vielleicht als Inge, fiel ihm ein. Er sah ihr nach, so weit er sie sehen konnte, dachte, nun war die Komödie also vorbei, die er Inges wegen in Szene gesetzt.
Fred Ulrich ließ sich wieder auf seinem Stuhl nieder und stützte den Kopf in die Hand. Er erinnerte sich jetzt mit großer Deutlichkeit, daß Waltraut ihm gestern gesagt, sie liebe ihn grenzenlos, und wie er das aufgefaßt. Heute wußte er, sie hatte wahr und tief empfunden, was ihr Mund gesprochen.
Ein Gefühl quälte ihn, das er nicht zu deuten wußte. War es Mitleid mit Waltraut, Aerger über Inge, die Waltraut so rauh aufgeklärt, oder war es Aerger über sich selbst? Vielleicht ein Gemisch von allem.
Weg jetzt mit all den Gedanken! Er mußte froh sein, daß das Schicksal ihn davor bewahrt hatte, die ungeliebte Frau heiraten zu müssen. Nun war er wieder frei. Die schönen Arnsdorfmädchen sollten keine Rolle mehr in seinem Leben spielen.
Mit diesem Entschluß klingelte er und bat seinen ersten Prokuristen zu einer geschäftlichen Besprechung. Er hatte noch anderes zu denken und zu tun, durfte sich den Kopf nicht verwirren mit Liebesdingen. Arbeit brauchte er, Arbeit, um seine Liebe zu Inge zu vergessen und sein Mitleid mit Waltraut.
So schob Fred Ulrich das Etui mit der Perlenkette in ein Schreibtischfach, dann streckte er seine Hand nach dem Ring aus und mußte unwillkürlich denken, der glitzernde weiße Stein hob sich von dem dunkelgrünen Tuch des Schreibtisches ab wie eine große Träne.