Читать книгу Ich konnte dich nie vergessen - Anny von Panhuys - Страница 4
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ОглавлениеDer ungefähr drei Meter breite Weg hat eine Länge von einem Kilometer und teilte die Kleingärten am Rande der großen Stadt mitten durch. Diesseits lag die Landstraße, die nach einem Dorf führte, das die Frankfurter im Sommer als Ausflugsort sehr bevorzugten, jenseits zog sich eine breite Straße an einem alten Turm vorbei zum Friedhof. Und in den vielen kleinen Gärten, die zusammen von weitem zu einem einzigen großen Ganzen zusammenschmolzen, arbeiteten zu jeder Tageszeit, vom frühen Frühjahr bis zum Beginn des Winters, die fleißigen Hände vieler Menschen, deren höchstes Glück es war, ein Stück der heiligen Mutter Erde ihr Eigen zu nennen, um es zu bebauen.
Aus den verschiedensten Berufen und Ständen kamen sie in ihrer Freizeit hierher, um zu arbeiten und sich des Segens ihrer Arbeit zu freuen. Da gab es ältere pensionierte Beamte, die fast den ganzen Tag in ihrem Garten schafften, und dann in ihrer Laube ausruhten, da gab es junge Eheleute, deren Kinder schon gelernt hatten, die Erde umzugraben, ehe sie noch schulpflichtig waren, und da fanden sich die Männer nach Feierabend aus den Büros und den Fabriken ein, schon ungeduldig von ihren Frauen erwartet, um ihr Abendbrot mit der Familie in der selbstgezimmerten Laube zu essen, und danach noch ein Weilchen zünftig gärtnerisch zu arbeiten.
Das letzte Gartengrundstück auf der Seite, wo eine der letzten Straßen Frankfurts, in die dem Dorf entgegenstrebende Landstraße übergeht, gehörte dem Buchhalter Stefan Pilger. Er liebte sein Gärtchen ebenso wie es seine Schwester liebte, und beide verbrachten darin bei gutem, oft auch bei schlechtem Wetter, viele ihrer freien Stunden.
Es war ein sehr warmer Tag Ende des Monats Mai, und die Sonne stand in ihrem vollen Glanz, in ihren köstlichen, goldenen Krönungsmantel gehüllt, am blauen wolkenlos scheinenden Himmel. Fern am Horizont aber schwammen doch Wölkchen wie kleine Barken mit geblähten weißen Segeln, sie trieben langsam aufeinander zu, hier und dort hatten sich schon zwei vereint.
Stefan Pilger stand vor seiner Laube und blickte aufmerksam zum Himmel auf. Er sagte zu seiner Schwester, die einige Jahre älter als er war: „Ich fürchte, Julie, wir bekommen heute noch ein Wetter. Die paar Wölkchen allein bringen mich nicht darauf, ich spüre es eigentlich mehr körperlich. Weißt du, Julie, es ist so ein Ahnungsgefühl. Überhaupt, mir ist heute so bedrückt zumute, und ich habe doch keinen rechten Grund dazu.“
Julie trat aus der Laube, die einem winzigen Wohnhaus glich und antwortete gutmütig lächelnd: „Du bist und bleibst ein Phantast mit deinen zeitweiligen Ahnungen und Gefühlen.“ Sie fuhr ihm über das dichte braune Haar. „Menschen wie du, brauchen sich nicht mit Ahnungen abzugeben, stehst doch beruflich sicher und mit beiden Beinen auf der Erde. Mensch, Stefan, kannst lange suchen, bis du einen in deinem Alter findest, der es, wie du, schon zum ersten Buchhalter und beinah zum Prokuristen einer angesehenen Maschinenfabrik gebracht hat. Du bist jedenfalls schon für den Posten vorgesehen und beziehst mit deinen fünfundzwanzig Jahren ein gutes Gehalt. Wir bewohnen eine bequeme Wohnung mit modernster Einrichtung, und heute will ich dir sogar den Gefallen tun, deine Zukünftige kennenzulernen.“
Sie faßte ihn unter und stand nun neben ihm, ebenso groß wie er, ebenso sehnig straff. Die Geschwister ähnelten sich. Sie hatten beide das fast zu dichte braune Haar und den gleichen, etwas großzügig ebenmäßigen Gesichtsschnitt, die schmalen grauen Augen, überdacht von sehr breiten, fast schwarzen Brauen. Und ihre Zähne waren groß, doch von blendender Weiße. Das Kinn Julies war kräftiger herausgearbeitet, es stand ein klein wenig vor.
Man konnte beide auf den ersten Blick als angenehme, liebenswürdige Menschen beurteilen, und das waren sie auch.
Nach dem Tod der Eltern begann Julie den Bruder zu bemuttern, und so war das geblieben seit Jahren. An eine Heirat schien Stefan nie gedacht zu haben bis jetzt, da er vor kurzem ein junges Mädchen kennengelernt, in das er sich auf den ersten Blick verliebte.
Julie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr und stellte fest: „Vier Uhr zehn Minuten.“ Sie fragte: „Wenn ich nicht irre, wollte deine Christa doch schon um vier Uhr hier sein. Ich habe den Kaffee fertig und alles in der Laube zurechtgestellt. Also kann die Beschnupperung mit meiner zukünftigen Schwägerin beginnen, von mir aus steht dem nichts mehr im Wege. Aber die Dame scheint unpünktlich zu sein.“
Stefan Pilger lächelte: „Na, so auf die Minute genau darf man es nicht mit einer Großstädterin nehmen. Die Elektrische mag ihr vielleicht gerade vor der Nase weggefahren sein. Sie wohnt in der Mainzer Landstraße, also beinahe entgegengesetzt von unserm Garten.“
Julie schüttelte den Kopf. „Deine Liebe benimmt sich ziemlich romantisch, Jungchen, ich finde, meine Bekanntschaft mit deiner Christa hätte sich viel besser irgendwo unter Dach und Fach abgespielt.“
Er dachte darüber anders.
„Nein, meine kluge Julie, so wie ich es dir vorschlug, ist alles am einfachsten und harmlosesten. Seit zehn Tagen, seit ich kurzen Urlaub habe, du aber wegen Erkältung zu Hause bleiben mußtest, besuchte mich Christa hier täglich zur gleichen Zeit. Ich lernte sie zufällig kennen, als sie eines Nachmittags hier vorbeiging, und wir in ein Gespräch über Rosen kamen, die sie sehr liebt. Auf meine Bitte trat sie in den Garten ein, und weil sie täglich hier vorbei muß, kam das eben so, wie es wohl kommen sollte, wie es Vorausbestimmung ist, denn einmal muß die Liebe schließlich auch an mich denken. Ich möchte doch auch heiraten.“
Julie nickte. „Natürlich, Stefan, und das sollst du ja auch, wenn ich dich dann auch nicht mehr betreuen darf, was mir bestimmt sehr fehlen wird, aber die Hauptsache ist dein Glück. Sonderbar berührt mich nur, daß du so wenig von dieser Christa weißt, aber schon tust, als möchtest du morgen aufs Standesamt laufen. Du mußt möglicherweise damit rechnen, daß euch von ihren Verwandten Schwierigkeiten gemacht werden können.“
Er gab ihr einen schmerzhaften Nasenstüber.
„Jetzt fängst du an zu unken, Julchen! Wer sollte mir bloß Schwierigkeiten machen? Christel ist frei, sie hat nur noch eine Mutter, also ein gestrenger Vater tritt überhaupt nicht auf, und mit der guten Dame, die ein Putzmacheratelier hat, dürfte sich reden lassen. Die Tochter arbeitet bei ihr, und was sollte die Mutter dagegen haben, wenn sie einen Schwiegersohn wie mich bekommen kann?“
Er lachte vergnügt, ein wenig selbstbewußt, und seine Zähne blitzten.
Er hob Julies linke Hand, sah auf ihre Armbanduhr.
„Schon halb fünf!“ sagte er etwas verstimmt. Sein Gesicht war sehr ernst. „Jeden Tag stellte sich Christel pünklich ein, und ausgerechnet heute verspätet sie sich.“ Er blickte zum Himmel auf. „Die Sonne zieht auch schon dem Westen zu und guck nur, Julie, was aus den weißen Wolken geworden ist, wie kleine graue Ballonsperren schweben sie rund um den Himmel.“ Er atmete tief auf. „Du, Julie, ich war so unbeschreiblich glücklich seit mir Christel gestanden, sie hätte mich, genau so wie ich sie, gleich auf den ersten Blick lieb haben müssen. Jetzt ist mir bange. Ich glaube, mein Glück war zu groß.“
Julie Pilger verwies ihn kopfschüttelnd: „Du bist im Grunde noch immer ein dummer und zaghafter kleiner Junge. Schäme dich, Stefan, und jetzt laufe deinem Mädel ein Stück entgegen, jeder Mensch kann sich mal verspäten.“
Er sah sie dankbar an. „Hast recht, Julchen, also, ich werde ihr entgegen gehen. Ich muß sie ja unterwegs auf dem Weg treffen. Wenn nicht, dann warte ich ein Weilchen in der Nähe des Turmes, nicht weit davon hält die Elektrische, mit der sie, wenn ich nicht irre, zu kommen pflegt.“
Julie fuhr ihm mit dem Taschenkamm ein paarmal durch das volle Haar und er verließ, ihr freundlich zunickend, den kleinen Garten. Sie sah ihm noch einen Augenblick nach und betrat dann die Wohnlaube, in der sie schon den Kaffeetisch zurecht gemacht hatte.
Eine bunte geblümte Decke, weißes mit rotem Mohn bemaltes Geschirr, und in hoher Kristallvase ein paar Frühlingsblumen, gaben dem freundlich ausgestatteten, ziemlich großen Raum ein hübsches, behagliches Gepräge.
Julie Pilger nahm auf einem Hocker Platz. Ihr gefiel das Liebesidyll ihres Bruders nicht so recht. Sie fand es zu romantisch und unklar, und sie war immer für klare Verhältnisse.
Da hatte er vor ungefähr zehn Tagen eine junge Dame kennengelernt, die an seinem Garten vorübergegangen, und schon am nächsten Tage zur gleichen Zeit wiedergekommen war. Nach drei Tagen hatten sie bereits Liebesworte gewechselt und sich geküßt, und nach acht Tagen hatte Stefan ihr, seiner Schwester, die Mitteilung gemacht, er wäre dem Mädchen begegnet, das er um jeden Preis heiraten wolle, und sie müsse es kennenlernen. Es war sehr wenig, was er ihr über Christa sagen konnte, vor allem aber waren die beiden viel zu schnell einig geworden. Täglich suchte diese Christa Dörfel irgendwo hier draußen ihre alte Großmutter auf, um sich täglich nach ihrem Befinden zu erkundigen und benützte stets den breiten Weg, der das Gelände der Kleingärtnereien in zwei Hälften teilte. Jenseits befand sich die Endstation der Straßenbahn, diesseits wohnte die alte Dame, zu der Christa ging. Und wenn sie bei Stefan vorbeikam, machte sie seit zehn Tagen bei ihm ein wenig Rast, der jedesmal schon lange wie ein verliebter Junge auf sie wartete.
Julie gestand sich ehrlich ein: Ich bin wirklich neugierig, sie kennenzulernen! Aber sie spürte zugleich einen bösen, scharfen Schmerz an der Stelle, wo das Herz saß. Es würde ihr nicht leicht werden, sich von dem geliebten Bruder zu trennen, mit dem sie friedlich und besorgt um sein Wohl, zusammen gelebt hatte. Alles hatte sie darüber vergessen, auch, daß sie selbst sich ein paarmal gut hätte verheiraten können. Ihr Bruder nahm den ersten Platz in ihrem Herzen ein.
Und jetzt war ein Mädel aufgetaucht, war nur flüchtig mit ihm bekannt geworden, und schon war die treue Schwester entthront, die andere Liebe war stärker als Geschwisterliebe!
Julie Pilger irrte, nicht stärker war sie, nur anders.
Julie dachte: Ich will sie prüfen auf Herz und Nieren, diese Fremde, die mir den Bruder nehmen will, ich werde ihr nichts durchgehen lassen, nur die Beste ist gerade gut genug dazu, seine Frau zu werden.
Sie lauschte hinaus, ihr war es, als ob sie die Gartentür hätte gehen hören, die immer ein wenig quietschte. Sie trat hinaus in den Garten. Niemand war zu sehen außer dem Gerichtsvollzieher Körner, dem Nachbar, der sie grüßte und die Gartentür nebenan aufschloß.
Er rief ihr zu: „Ich glaube, wir müssen uns heute noch auf ein Wetterchen gefaßt machen, Fräulein Pilger, es ist zwar erst Mai, aber es ist so schwül, und es liegt einem so schwer in den Gliedern.“ Er fuhr sich mit dem Taschentuch über das erhitzte rote Gesicht. „Maiengewitter kann tückisch sein, ich habe das schon ein paarmal erlebt.“
Julie Pilger lächelte und machte eine abwehrende Bewegung.
„Ach was, heute gibts kein Gewitter, die paar grauen Wolken frißt die Sonne noch ratzekahl auf, ehe sie untergeht!“
Julie betrat wieder die Wohnlaube und ging weiter ihren Gedanken nach, die sich mit dem geliebten Bruder und seiner Zukunft beschäftigten.
Schwer würde es ihr werden, beiseitetreten zu müssen vor seiner zukünftigen Frau.
Der Gedanke tat ihr weh.
Ihr Bruder! All ihre Liebe gehörte ihm, und dabei fiel ihr ein, oft hatte sie ihm wie einem ungebärdigen Jungen den Kopf zurecht rücken müssen, wenn er sich in seiner Stellung unglücklich gefühlt, wenn er ihr geklagt, er wäre lieber ein Gärtnergehilfe, als erster Buchhalter einer guten Firma, mit der Aussicht auf den Prokuristentitel.
Wie viele könnten ihn beneiden.
Eine Frau würde es sehr gut bei ihm haben, sie aber müßte zurücktreten vor dieser Frau, gegen die sie sich heimlich wehrte, nur heimlich, und ganz tief drinnen im Herzen.
Ihr Urteil über sie, der Stefans Liebe nur allzu leicht und schnell zugefallen war, durfte sich nicht durch eigene Voreingenommenheit beeinflussen lassen. Sie rief ihr Gerechtigkeitsgefühl an.
Ob sie in diesem Fall aber noch vollkommen gerecht sein könnte?
Sie bezweifelte es fast, doch sie hatte den besten Willen dazu.