Читать книгу Ich konnte dich nie vergessen - Anny von Panhuys - Страница 6
3.
ОглавлениеDer nächste Morgen brachte soviel Sonnenschein, daß der Nachmittag des vergangenen Tages nur noch ein toller Spuk schien.
Nachdem Stefan, da seine kurzen Ferien zu Ende, ins Büro gefahren war, suchte Julie ihren geliebten Garten auf, und war angenehm enttäuscht von dem, was sie sah. Sie hatte schlimmste Verwüstungen erwartet, aber das Wetter hatte kaum nennenswerten Schaden angerichtet. Julie empfand das als großes Glück und wirtschaftete ein wenig in der Wohnlaube herum, dachte dabei unwillkürlich wieder an Christa Dörfel, die man gestern hier vergebens erwartet.
Wenn sie den Bruder auch ausgelacht hatte, fand sie das Verhalten Christa Dörfels doch ziemlich merkwürdig, weil Christa Dörfel sich ein paar Minuten vor dem Ziel anders besonnen haben und umgekehrt sein mußte.
Eine Idee zuckte in ihr auf. Sie fand, es war eine gute Idee.
Sie selbst war Christa Dörfel unbekannt, vielleicht konnte sie sich die junge Dame einmal ansehen, ohne daß diese im geringsten ahnte, wer sie war. Wenn man irgendwo einen Hut kauft, braucht man sich doch nicht gleich vorzustellen. Und Julie Pilger wollte sich einen Hut kaufen.
Sie pflegte Ideen, die sie für gut und richtig hielt, meist ziemlich rasch in die Tat umzusetzen, und so eilte sie denn heim und kleidete sich um, überzeugte sich im Telefonbuch davon, wo sich das Damenhutatelier Dörfel befand und fuhr mit der Elektrischen bis zum Opernplatz. Von hier aus bog sie in die Mainzer Landstraße ein, suchte nach der im Telefonbuch angegebenen Nummer.
Eine im Garten liegende Villa trug die betreffende Hausnummer, und sie dachte ein bißchen bedauernd: Der Hut, den sie hier kaufen wollte, würde bedeutend teurer sein, als einer von denen, die man in einem Ladengeschäft kaufen konnte. Aber eigentlich brauchte sie gar keinen Hut, sie wollte doch nur versuchen, Christa Dörfel kennenzulernen.
Als Stefan am Spätnachmittag vom Büro heimkehrte, empfing ihn seine Schwester mit jener Miene, die er nur zu genau kannte. Wenn sie diese Miene aufsetzte, brannte sie darauf, ihm irgendeine Neuigkeit mitzuteilen. Aber sie tat das immer erst dann, wenn er gegessen hatte.
Er ahnte, es könne sich um Christa handeln und fragte: „Ist ein Brief für mich gekommen?“
Sie schüttelte den Kopf. „Nein, Stefan, es ist gar nichts gekommen, aber wir wollen essen, ich verspüre einen Mordshunger.“
Er wußte, es wäre zwecklos, sie jetzt zum Sprechen bringen zu wollen, aber er aß heute ziemlich hastig, und wußte kaum, was er eigentlich aß, denn dessen glaubte er sicher zu sein, Julie hatte eine Mitteilung für ihn, die Christa Dörfel betraf.
Kaum hatte er seinen Nachtisch gegessen, erklärte er: „Ich möchte mich eigentlich gleich überzeugen, wie das Wetter unserem Garten bekommen ist.“
Sie nickte ihm zufrieden zu.
„Ausgezeichnet ist es ihm bekommen, ich habe mich schon heute früh davon überzeugt, und wegen einer Christa brauchst du auch nicht hinzugehen, die kommt heute nicht, die erhält heute Nachmittag zwischen vier und sechs Kundenbesuch, der bei ihr eine besonders gute Nummer zu haben scheint.“
Er blickte sie fragend an. Mit der Erklärung wußte er wirklich nichts anzufangen.
Julie klingelte der Aufwartefrau, die rasch und gewandt abräumte, und dann machte sie es sich in einem Sessel bequem, bat: „Setz dich nur auch wieder, Brüderchen, ich habe dir nämlich einiges über deine Christa zu erzählen, worüber du wohl ein bißchen staunen dürftest.“
Er bat: „Sprich ohne Vorrede und quäle mich mich nicht länger unnötig, ich sehe dirs ja an, daß du mir etwas ganz Besonderes vorsetzen willst.“
Sie lächelte beruhigend. „Es ist schließlich nichts Schlechtes, Stefan, was ich dir mitteilen will, aber ich sehe Christa Dörfel jetzt in einem völlig anderen Licht, und nicht mehr so, wie ich sie sehen mußte nach dem, was ich von dir über sie gehört und was du von ihr selbst hast. Also setze dich, eher fange ich nicht an.“
Er ließ sich mit lautem Seufzer in einen Stuhl fallen und verriet seine Ungeduld durch nervöse Handbewegungen. Er fuhr über sein Haar und zupfte an seinem Rock und Schlips herum.
Julie begann: „Mir hat die Geschichte von gestern keine rechte Ruhe gelassen, und heute früh im Garten entschloß ich mich, als Kundin getarnt, die Putzmacherin Dörfel aufzusuchen, ich hoffte, auf diese Weise sie selbst oder noch besser ihre Tochter Christa kennenzulernen. Ich halte nun einmal sehr viel von dem ersten Eindruck, den ein fremder Mensch auf mich macht.“
Er fragte ungeduldig: „Und hast du sie kennengelemt?“
Sie nickte: „Ja, die Tochter, also deine Christa, habe ich kennengelernt und ich will, damit du nicht zu lange zu zappeln brauchst, gleich vorweg erklären, sie scheint eine liebe und angenehme Person zu sein.“
Ein Seufzer der Erleichterung ward hörbar und Stefans Züge entspannten sich. Er hielt viel von der Menschenkenntnis seiner Schwester.
Er bekannte ihr offen: „Im ersten Augenblick sagte mir deine Idee, Christa auf solche Weise kennenzulernen, wenig zu, sie ähnelt dem Ausspionieren, aber wiederum kann ich dich verstehen, du wolltest dich überzeugen, was an dem Mädel dran ist.“
Er freute sich, daß Julie so anerkennend von Christa gesprochen.
Julie lächelte ein bischen hinterhältig und wiederholte: „Sie scheint eine liebe und angenehme Person zu sein. Ihr Äußeres gefällt mir sogar sehr, das Haar ist geradezu wundervoll, vom köstlichsten seltensten Goldblond, und die braunen Augen — na ja, damit kann sie leicht einen Mann tüchtig einheizen, aber im übrigen —“
Sie unterbrach sich: „Davon später, jetzt will ich lieber der Reihe nach erzählen. Das Haus, in dem sich das Geschäft befindet, ist ein feines Mietshaus, in dem aber nur drei Parteien wohnen, und das den Charakter einer Privatvilla trägt. Am Portal befindet sich ein Messingschild, auf dem nur der Name Christa Dörfel und darunter die Worte: ,Damenhüte und Modezeichnungenʻ stehen. Eine Pförtnersfrau säuberte gerade die Haustür, und ich ging zum ersten Stock hinauf, klingelte bei Christa Dörfel.“
Er wollte etwas fragen, doch Julie ließ ihn gar nicht erst dazu kommen und mahnte: „Unterbrich mich nicht, das bringt mich nur aus dem Text und hält uns unnütz auf.“ Sie wiederholte: „Ich klingelte bei Christa Dörfel, und eine niedliche Krabbe von vielleicht achtzehn Jahren öffnete mir. Sie geleitete mich nach höflicher Begrüßung in ein großes, geschmackvoll eingerichtetes Zimmer, in dem in breiten Scheibenschränken verschiedene sehr geschmackvolle Hüte standen. Ich setzte mich in einen breiten Ledersessel und harrte der Dinge, die da kommen sollten und war neugierig, ob nun die Mutter oder die Tochter erscheinen würde, um nach meinen Wünschen zu fragen.“
Sie verwies ihn: „Sitze doch still, großer Bengel, und damit du das besser kannst: Die Tochter kam! Ich wußte sofort, daß es sich nicht etwa um eine andere junge Dame handelte, denn solch Haar gibts so leicht nicht wieder, du hattest mir ja genügend davon vorgeschwärmt. Ich muß überhaupt zugeben, allerhand Achtung vor deinem Geschmack. Eine feine, schlanke, schicke Weiblichkeit ist’s, in die du dich so überstürzt verknallt hast. Als ich sie sah, begriff ich dich vollkommen. Und ich erzählte ihr nun einen vorher zurechtgelegten kleinen Schwindel, ich hätte sehr dringend einen hübschen einfachen Hut zu einem blauen Schneiderkleid nötig. Sie holte sofort allerlei aus den Scheibenschränken herbei, und ich mußte Hüte aufprobieren. Das heißt, Christa Dörfel drückte mir die Hüte mit sanfter Bewegung, je nachdem es ihr gefiel, gerade oder schief auf den Kopf, und ich muß zugeben, die Hüte hatten alle ein gewisses Etwas, das man wohl künstlerischen Schwung nennen darf. Ich entschied mich schließlich für ein Hütchen von dunkelblauer Seide mit hellblauem Federchen, ganz verwegen sehe ich darin aus — und hatte nur immer ein bißchen Angst, Fräulein Dörfel könne etwas an mir auffallen, denn du und ich sehen uns sehr ähnlich. Aber sie schien gar nicht darauf zu kommen, und das machte mich allmählich sicherer. In meiner Gegenwart kam ein telefonischer Anruf, und ich konnte mit anhören, was Christa sprach. Ich erfuhr auf die Weise, daß sie eine Dame, die sie Frau Gräfin ansprach, heute zwischen vier und sechs Uhr nachmittags erwartet, und anscheinend Kleidermodelle für sie entworfen hat. Ich folgerte daraus, daß sie dich heute um diese Zeit bestimmt nicht in unserem Garten suchen wird, um ihr gestriges Ausbleiben zu erklären.“
Sie holte aus dem Nebenzimmer einen kleinen blauen Seidenhut herbei, balanzierte ihn auf den Fingern ihrer hochgehaltenen Rechten.
„Fesch ist das Dingelchen, nicht wahr? Ja, Geschmack hat die schöne Christa, aber schwindeln kann sie auch. Leider! Wenigstens hat sie dich angeschwindelt, wenn sie auch sonst eine höchst achtungswerte junge Dame sein mag.“
Stefans Stirn zeigte eine tiefe Falte, aber er schluckte das heftige Wort, das über seine Lippen wollte, zurück, sagte ziemlich ruhig: „Verzeih, Julie, aber es gefällt mir nicht, wenn du meine zukünftige Frau als Schwindlerin bezeichnest, selbst als Scherz gefällt es mir nicht!“
„Wenn sie aber doch eine Schwindlerin ist, Stefan, weshalb soll ich denn das nicht sagen?“ widersprach sie. „Du kennst mich genügend und weißt, ich nenne die Dinge gleich gern beim rechten Namen. Scherzhaft war das eben nicht gemeint. Doch ich will dir das erklären. Nachdem ich nämlich das Hütchen für bare dreißig Mark erworben hatte — noch nie kam so was Teures auf meine dicke Mähne — mußte ich mich natürlich trollen. Die schöne Blonde begleitete mich bis zum Flur und sprach die Hoffnung aus, daß ich sie gelegentlich wieder beehren möchte. Ich stieg die Treppe hinunter und war innerlich nicht so recht zufrieden mit meinem Besuch, von dem ich mir mehr versprochen. Immerhin hatte ich deine Christa nun wenigstens gesehen. Übrigens hatte ich nebenbei bemerkt, den Eindruck von ihr, sie muß eine Frohnatur sein, eine, die gern lacht und vielleicht bei der Arbeit vergnügt singt, die aber jetzt irgend etwas bedrückt. Ich stieg also die Treppe hinunter, und unten in der kleinen Vorhalle sah ich wieder die Pförtnersfrau. Weißt du, so ein Frauchen von Dreißig, mit einem lieben, gutmütigen Gesicht, eine kleine Range spielte um sie herum. Ein Kerlchen von ungefähr vier Jahren. Ich sage dir, ein Bengelchen mit einem pausbäckigen richtigen Engelsgesicht. Es erinnert an die Engelsgesichter auf Rafaels berühmten Madonnenbild, das wir in Dresden gesehen haben. Ich konnte nicht anders, als der Frau ein paar freundliche Worte über das Kind zu sagen. Sie wurde ganz rot vor Freude, und wir kamen leicht ins Gespräch. Da hörte ich dann ein wahres Loblied auf deine Christa singen, aber bedauerlicherweise auch, daß sie dich angeschwindelt hat.“
„Wieso hat Christa geschwindelt?“ fragte er schroff, „komm doch, bitte, endlich zur Sache, das Kind interessiert mich gar nicht.“
Julie legte den Hut auf den Tisch und ging quer durch das Zimmer, blieb dann vor dem Bruder stehen.
„Ich erfuhr von der Pförtnersfrau, daß die Villa in der Mainzer Landstraße deiner Christa gehöre, und daß Frau Christa Dörfel, die Mutter deiner Christa, die denselben Vornamen geführt, darin eine Pension betrieben hat. Es sollen sehr vornehme Gäste bei ihr gewohnt haben, und niemals hätte ein Zimmer längere Zeit leer gestanden. Die Tochter Christa soll sehr verwöhnt worden sein, doch ihr Zeichentalent, das sie auf der Kunstgewerbeschule ausbildete und ihr Geschick für Modedinge, hätten ihr bald den richtigen Weg gewiesen. Mit zwanzig Jahren war sie schon Directrice in einem erstklassigen Mòdegeschäft und verdiente schönes Geld, aber alles geschah noch so ein bißchen von dem Standpunkt aus: Ich habs nicht nötig. Als sie heimkehrte, soll sie wie ausgewechselt gewesen sein. Da fing sie sofort an, auf ihre Meisterprüfung im Putzmachen hinzuarbeiten und entwarf Modebilder für eine tonangebende feine Modenzeitung. Sie bestand ihre Meisterprüfung und machte sich sofort selbständig, wurde sehr schnell bekannt. Die Damen mit großer Börse kommen zu ihr und lassen sich beraten, die Schauspielerinnen und Sängerinnnen der Oper holen sich Moderatschläge und Hüte von ihr, und ihre Mutter starb vor zwei Jahren nach längerer Krankheit, nachdem sie noch zuvor die Pension aufgegeben.“
„Die Mutter Christas ist tot?“ fragte er maßlos erstaunt. „Aber das kann doch nicht stimmen, weshalb sollte mir denn Christa das verschwiegen haben? Sie erklärte mir doch sogar, sie müsse ihre Mutter erst auf unsere Liebe vorbereiten, und sie wäre die erste Angestellte im Atelier ihrer Mutter.“
Julie blickte auf den vor ihr Sitzenden nieder.
„Ja, Brüderchen, darum handelt es sich doch gerade, das ist es doch, weshalb ich Christa Dörfel vorhin eine Schwindlerin nannte und mir dadurch deinen allerhöchsten Unwillen zuzog.“
Er wußte nichts zu antworten, sah nur zu ihr auf, als erwarte er eine Erklärung von ihr, warum Christa ihn belogen haben könnte.
Sie zog sich einen Stuhl heran, saß jetzt dicht bei ihm.
„Ich werde ebensowenig wie du daraus klug, warum Christa Dörfel log. Nach meinem Dafürhalten bestand dafür nicht der geringste Grund. Sie soll doch mordstüchtig sein und schrecklich viel Geld verdienen, da brauchte sie ihr Licht doch nicht unter den Scheffel zu stellen. Zwei Mietsparteien wohnen außer ihr noch im Hause. Oben eine Dame von der Oper und im Parterre ein Antiquar von Weltruf. Das verriet mir auch die Pförtnersfrau, der ich ein Geldstück schenkte, um dem Kind etwas dafür zu kaufen. Ich erzählte ihr, ich wäre Schriftstellerin und mich interessiere das vornehm wirkende Haus und seine Bewohner.“
In Stefans Augen las sie deutlich Mißbilligung, und er gab dieser Mißbilligung auch Worte.
„Ich weiß nicht, welcher von euch beiden ich die Palme zuerkennen soll, die größte Schwindlerin zu sein. Du hast die arme gutgläubige Pförtnersfrau durch Schwindel ausgeholt, und Christa hat mir sinnlose Lügen erzählt. Ich finde sowohl das eine wie das andere widerlich!“
Sie lachte: „Du findest das nur widerlich, weil dein Ideal dich angelogen hat, deshalb wirfst du mich, die ich dir helfen wollte, gleich mit ihr in denselben Topf.“
Sie erhob sich wieder. „Bringe die Neuigkeit zunächst erst mal ordentlich in deinem Kopf unter und denke dann darüber nach. Wenn ich dir raten darf, verurteile Christa aber nicht gleich in Bausch und Bogen, weil sie, das läßt sich nicht beschönigen, wirklich geschwindelt hat. Ich bin aber der Meinung, ein Mensch, der so offen und wahrhaft aussieht wie sie, hat das nicht aus gemeinen Motiven getan, sondern aus edlen, so schleierhaft wie mir das alles bis jetzt auch noch ist.
Und glaube mir, es ist gut, daß du Bescheid weißt. Nach meiner Ansicht besteht für dich, da gar keine Mutter vorhanden ist, jetzt kein Hindernis mehr, dich selbst mit Christa Dörfel in Verbindung zu setzen und sie offen zu befragen, warum sie dich belog. Ich meine, niemand kann dich hindern, einfach zu ihr zu gehen und alle die Fragen zu stellen, die nur sie allein imstande ist, dir zu beantworten.“
Er schwieg, erklärte aber nach einem Weilchen: „Das werde ich auch, Julie, darauf darfst du dich verlassen, und wahrscheinlich tue ich es schon morgen, denn das Recht dazu habe ich. Nicht nur nach deiner, sondern auch nach meiner Ansicht. Und wenn ich heute auch nicht wegen Christa unseren Garten aufsuche, möchte ich doch dorthin gehen, ich kann da draußen am besten nachdenken, und es so schönes Wetter.“
Julie bot ihm ihre Begleitung gar nicht erst an, sie wußte, der Bruder wollte heute lieber allein bleiben, in dem kleinen grünen Erholungsreich.