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Vorwort

Fritz Georgen

Nationalliberalismus, Sozialliberalismus, Wirtschaftsliberale und Bürgerrechtsliberale sind vertraute, wenn auch selten hinreichend genau definierte Liberalismus-Varianten oder auch nur Variablen in der deutschen Liberalismus-Diskussion. Der in Deutschland bisher weitgehend unbekannte politische Philosoph Anthony de Jasay stellt uns in diesem Buch zwei neue Kategorien von Liberalismus vor: den losen und den strikten.

Der durchaus gängigen Sichtweise, der Liberalismus habe sich durch die allgemeine Anerkennung (etlicher) seiner Prinzipien auch durch andere politische Richtungen sozusagen selbst überflüssig gemacht, „zu Tode gesiegt“, stellt er eine andere These gegenüber: Einige liberale Vorstellungen selbst machen ihn so interpretierbar, dass dem Sieg von Pragmatismus über Grundsätze keine Grenze gesetzt und der Liberalismus zu progressivem Identitätsverlust verurteilt ist – zu einer Evolution in Richtung des geringsten Widerstandes.

Wie der berühmte rote Faden zieht sich durch das Buch die ewige Frage, was durch das Kollektiv der Mehrheit den Individuen als Personen oder „individuellen“ Kleinstgruppen aufgezwungen werden darf, wenn das Ziel einer liberalen Ordnung tatsächlich und nicht nur rhetorisch die Freiheit ist, ganz nach Tocqueville: „Wer in der Freiheit etwas anderes als sie selbst sucht, ist zur Knechtschaft geboren.“ Die Frage nach dem legitimen und dem nichtlegitimen Zwang stellt und beantwortet der Autor aus unterschiedlichen Blickrichtungen und in unterschiedlichen Zusammenhängen. Schon allein die Klarheit, die er damit in vernebelte Argumentationen bringt, macht ihn für Liberale wie auch für Nichtliberale lesenswert. Den Liberalen macht er es allerdings ganz schwer, wenn nicht intellektuell unmöglich, danach noch ungenau zu argumentieren. Das – so verstehe ich ihn – ist exakt die Absicht seiner Arbeit. Er „verordnet“ keinen neuen „Bauplan“ von Liberalismus, auch wenn er ihn für sich selbst auf wenige – sechs – „Grundsteine“ beschränkt. Aber er erschwert es hoffentlich vielen, mit Moral zu begründen, was schlichte Interessen wünschen, (Gruppen-)Interessen in „Rechte“ umzudeuten oder das alles gar noch mit „mehr“ oder „echter“ Freiheit zu camouflieren: „Auf demokratischem Wege erzielte Entscheidungen tendieren nicht weniger dazu, im Ergebnis individuelle Optionen zu dominieren und die Macht der Kollektiventscheidungen auszudehnen, als die ‚Willkür‘ des Diktators.“

Kollektiventscheidungen sind Werte-Verordnungen und insofern mit dem liberalen Postulat nach Werteneutralität des Staates nicht vereinbar – jedem seine eigenen Werte: „Da Fragen des Urteils, der Meinung, des Geschmacks, der relativen Bewertung nicht schlüssig zu beantworten sind, ist es moralisch eine außerordentliche Anmaßung, sie mit Hilfe einer Kollektiventscheidung zu klären, und zwar zugunsten desjenigen, der die größere Zahl (oder was auch immer) auf seiner Seite hat.“

Jasay seziert die sich liberal nennende Richtung der Zuerkennung von immer mehr „Rechten“ an eine immer größere Zahl als – allerdings sehr wirksamen – öffentlichen (Selbst-)Betrug. Die Zuerkennung jedes neuen „Rechts“ an die einen ist unausweichlich für andere mit einer (Zwangs-)Verpflichtung verbunden. Bei jedem neuen „Recht“ merken aber weder die durch Zwang Verpflichteten noch die Begünstigten, dass das Ganze auf die Rechnung hinausläuft: Je mehr Rechte versprochen, desto weniger können eingelöst werden. Ein solcher „(An-)Rechte-Liberalismus“ wird zu einem regellosen Liberalismus. Solche „Rechte“ werden sowohl in ihrer Einräumung als auch in ihrer Erfüllung in das Ermessen der Politik gestellt: Das bedeutet das Ende von Rechtssicherheit.

(Die so adressierten „Rechte“-Liberalen werden besonders ungern von Anthony de Jasay hören, dass sie damit ganz eng in Verwandtschaft mit den Utilitaristen geraten sind, auch wenn sie dies noch so sehr von sich weisen wollen.)

In einem Staat und der von ihm veranstalteten Gesellschaft von immer mehr subjektiven „Rechten“ ist nun nicht mehr jedermann seines Bruders Hüter, sondern der Bruder hat einen Rechtsanspruch darauf, behütet zu werden. Wenn aber jeder Bruder und jede Schwester einen solchen Rechtsanspruch haben, bleibt kein Bruder und keine Schwester als Hüter übrig: Der Staat als einziger Bruder und einzige Schwester?

Der Autor plädiert dafür, den mehrdeutigen Liberalismus (wieder) eindeutiger zu machen. Er tritt dafür ein, die Definitionen der Freiheit als Abwesenheit von Zwang und die Beschränkung des legitimen Zwangs auf das Schadensprinzip wieder und neu aufzugreifen. Mit Hilfe des letzteren soll jeder mögliche Eingriff des Staates in zwei Klassen eingeteilt werden: In solche, die er vornehmen muss, und solche, die er nicht vornehmen darf; eine Mischkategorie soll nicht zulässig sein. Da jeder Staatseingriff auf Umverteilung hinausläuft, wirft Jasay den heutigen Liberalen vor, sie würden im feindlichen Umgang mit dem Eigentum im Unterschied zu den Sozialisten noch nicht einmal eine plausible Erklärung dafür anbieten. Auf der anderen Seite warnt er Libertäre vor der Illusion, es ginge ohne Politik. Und er weiß: Umverteilung „ist wahrscheinlich die wichtigste Triebkraft der Politik“.

Anthony de Jasay argumentiert beeindruckend sachlich und bestechend logisch. Er ist ein besonders eigenständiger Denker der Freiheit, der sich bei keinem Vordenker anlehnt, ohne seine Nähe und Ferne zu ihm zu verschweigen. Sein Buch ist keine leichte Lektüre, aber ein großer Gewinn. Danach kann, wer will, über viele zentrale Fragen genauer und insoweit leichter diskutieren.

Dass die politische Theorie seit Plato der Politik mehr mit Hoffnung als mit Misstrauen gegenübersteht, kennzeichnet Anthony de Jasay als Sieg von Wunschdenken über Erfahrung. Was wir ihr realistischerweise zutrauen sollten, muss jeder selbst entscheiden. Möge das nun vorliegende Buch eine gute Entscheidungshilfe sein.

Zur Person

Dr. Fritz Georgen war Bundesgeschäftsführer der FDP, CEO der Friedrich-Naumann-Stiftung und leitete das Liberale Institut. Ende 2002 trat er aus der FDP aus. Aktuell publiziert er in der Kolumne Goergens Feder im liberal-konservativen Meinungsmagazin Tichys Einblick.

Liberalismus neu gefasst

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