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Der Autor und seine Idee vom Liberalismus

„Im intellektuellen Bereich haben nur sehr wenige

mehr für die Sache der Freiheit getan als Anthony de Jasay.“

Gerhard Radnitzky1

Meist entstehen brillante Lösungen aus der Erkenntnis, dass das Problem falsch verstanden wurde. Liberalismus neu gefasst war für mich eine echte Offenbarung. Zum einen erkannte ich, dass Freiheiten und Rechte zwei gänzlich unterschiedliche Prototypen sind. Die andere Erkenntnis war, dass es nur zwei Wirkrichtungen gibt. Die eine beruht auf einer freiwilligen Gesellschaftsordnung und geht aus vom Menschen in Richtung immer größerer Entitäten. Die andere beruht auf einer Zwangsorganisation und wirkt in umgekehrter Richtung.

Anthony de Jasay wurde am 15. Oktober 1925 in Ungarn geboren und studierte in Budapest, Perth (Westaustralien) und Oxford. Er verließ seine ungarische Heimat zur Zeit der Machtübernahme durch die Sozialisten 1948. Von 1957 bis 1962 lehrte er als Research Fellow der Wirtschaftswissenschaften am Nuffield College in Oxford. Von 1962 bis 1979 arbeitete er im Finanzsektor in Paris. Im Jahr 1981 zog er sich als Privatgelehrter in die Normandie zurück. Anthony de Jasay verstarb am 23. Januar 2019 im hohen Alter von 93 Jahren.

Libertas ist das lateinische Wort für Freiheit. Das höchste Ziel im Liberalismus ist die Freiheit des Einzelnen. Jeder Mensch besitzt demnach die Freiheit, über sein Leben zu verfügen, d. h. die Freiheit, seine Ziele durch die Wahl von Mitteln zu verfolgen. Freiheit steht jedoch in Konkurrenz zu vielen anderen Werten eines Menschen, z. B. der Sicherheit. Anthony de Jasay unterscheidet zwischen losem und striktem Liberalismus. Im losen Liberalismus sind dessen Ziele uneindeutig und widersprüchlich. Diese Unbestimmtheit kaum vereinbarer Ziele verurteilt ihn zu andauernder Bedeutungslosigkeit.

Im losen Liberalismus wird dem Einzelnen die Freiheit zum Handeln in der Verfassung zugesichert, die die Macht der Regierung begrenzt. Anthony de Jasay vergleicht die Verfassung mit einem Keuschheitsgürtel, für den die Dame einen Schlüssel hat.2 Kollektive Wahlen verteilen Ressourcen durch Mehrheitsbeschluss um. Diese Kräfte interpretieren auch die Verfassungen um und verändern sie in wesentlichen Teilen, bis sie in Bezug auf die Kontrolle über so wichtige kollektive Entscheidungen wie Steuern, Produktion von öffentlichen Gütern und Einkommensverteilung irrelevant werden.

Anthony de Jasay versteht zwischen Freiheiten und Rechten zwei unterschiedliche Beziehungen zwischen Personen und Handlungen. Bei einer Freiheit kann eine Person eine bestimmte Handlung ausführen, weil sie realisierbar ist und sie gegen keine Konvention verstößt, z. B. kein Recht verletzt. Bei einem Recht kann eine Person von einer anderen Person eine bestimmte Handlung verlangen, woraufhin die andere Person verpflichtet ist, sie auszuführen. Ein Recht ist untrennbar mit einer korrespondierenden Verpflichtung verbunden, deren Erfüllung die notwendige Voraussetzung für die Ausübung des Rechts ist. Die Beweislast liegt beim Einsprechenden. Gemäß der Unschuldsvermutung muss der Einsprechende einen entsprechenden Beweis für das behauptete Recht vorzeigen: in dubio pro reo.

Gute Problemlösungen sind in ihrer Struktur minimal und einfach gestaltet. Der strikte Liberalismus formuliert eine auf die Zukunft gerichtete Leitidee und besteht aus zwei Grundthesen. Die logische Grundthese ist die Freiheitsvermutung: in dubio pro libertate! Die moralische Grundthese ist die Ablehnung der die Verpflichtung zum politischen Gehorsam beinhaltenden Unterwerfungsregel.

Die Freiheitsvermutung (in dubio pro libertate) funktioniert wie die Unschuldsvermutung (in dubio pro reo). Dies bedeutet, dass nicht der Handelnde beweisen muss, dass er die Freiheit zu einer Handlung besitzt, sondern der Einwender muss beweisen, dass der Handelnde die Freiheit zu einer Handlung nicht besitzt.

Nach der Methode des kritischen Rationalismus können Theorien nicht bewiesen (verifiziert), wohl aber widerlegt (falsifiziert) werden. Wenn eine Person A eine Handlung ausführen möchte, kann es eine unendliche Anzahl von Theorien, d. h. Gründe von Einsprechenden, geben, die gegen die Handlung sprechen. Die Freiheitsvermutung funktioniert nach der Regel Sollen-impliziert-Können. Egal wie viele Gründe A widerlegt, es könnten immer noch einige übrig bleiben. A könnte niemals beweisen, dass es keine weiteren Gründe gegen die Handlung mehr gibt. Es ist für A logisch unmöglich, eine unendliche Anzahl von Gründen zu widerlegen. Deswegen wäre es unsinnig, A die Beweislast für die Zulässigkeit der Handlung aufzuerlegen. Im Gegensatz dazu ist jeder konkrete Grund, den Einsprechende gegen die fragliche Handlung vorbringen können, verifizierbar. Wenn Einsprechende solche Gründe haben, tragen sie die Beweislast. Sie können verifizieren, ob einige oder alle dieser Gründe tatsächlich hinreichend sind, um einen Eingriff in die Handlung zu rechtfertigen.

Die Freiheitsvermutung ist eine reine Frage der Logik. Das Argument greift auf kein Werturteil als Begründung zurück. Es setzt keine Präferenz zugunsten der Freiheit voraus. Das Argument wird nicht aus Tatsachen abgeleitet, denn aus Sein lässt sich auf kein Sollen schließen. Von der Freiheitsvermutung als archimedischem Punkt ausgehend, bietet sich nicht nur die Möglichkeit, denjenigen die Beweislast aufzulegen, die die Freiheit einschränken wollen, sondern es offenbart auch den Scheinliberalen. Der Versuch, etwas Robustes auf schwachen Fundamenten aufzubauen, ist wenig erfolgsversprechend.

Der Mensch ist frei geboren. Der Mensch ist frei. Nur wenn der Mensch selbst die Mittel zur Erreichung seiner Ziele wählt, kann er moralisch handeln, denn nur dann kann er die Verantwortung für sein Handeln tragen. Moralisches Handeln erfordert Freiwilligkeit. Die Unterwerfungsregel zwingt alle in einer Gemeinschaft, sich dem Willen einiger zu unterwerfen. Darüber hinaus verlangt sie von jedem, sich im Voraus Entscheidungen zu unterwerfen, zu denen bestimmte Personen auf bestimmte Weise gelangen und die zum Unterwerfungszeitpunkt unbekannt sind. Die Unterwerfung kann moralisch akzeptabel sein, wenn sie freiwillig erfolgt. Erfolgt sie unfreiwillig, dann erweist sich die Legitimität der Regierung als moralisch unvertretbar. Das Gebot der gesetzgebenden Gewalt muss sich auf die Unterwerfungsregel stützen. Die Alternative ist die auf Freiwilligkeit beruhende Konvention. Eine Konvention ist ein spontan entstehendes Gleichgewicht, bei dem sich jede Person so verhält, dass ihr Verhalten für sie das beste Ergebnis bringt, wenn sie das zu erwartende Verhalten von allen anderen berücksichtigt. In dieser wechselseitigen Anpassung kann keiner von dem Gleichgewicht abweichen, weil jeder erwarten wird, für das Verlassen des Gleichgewichts durch andere bestraft zu werden und somit einen Verlust zu erleiden. Eine Konvention ist selbstdurchsetzend. Weil sie Freiwilligkeit voraussetzt, genießt sie moralische Anerkennungswürdigkeit.

Anthony de Jasay ist einer der bedeutendsten Sozialphilosophen der Gegenwart, ein konsequenter Verteidiger der Idee der individuellen Freiheit und einer der weltweit führenden Vertreter des klassischen Liberalismus. Er zeichnet sich durch seine Klarheit und sein Vertrauen auf logische Argumente aus. Auf Englisch erschienen bisher die Bücher The State (1985), Social Contract, Free Ride (1989), Market Socialism: A Scrutiny (1990), Before Resorting to Politics (1996), Against Politics: On Government, Anarchy, and Order (1997), Justice and Its Surroundings (2002), Political Philosophy, Clearly (2010), Political Economy, Concisely (2010), Economic Sense and Nonsense (2014) und Social Justice and the Indian Rope Trick (2015). Auf Deutsch erschienen bisher Liberalismus neu gefasst (1995), Liberale Vernunft, Soziale Verwirrung (2008), Der Staat (2018), Der Gesellschaftsvertrag und die Trittbrettfahrer (2020) sowie Gegen Politik (2020).

Choice, Contract, Consense: A Restatement of Liberalism wurde 1991 vom Institute of Economic Affairs veröffentlicht und erschien 1995 unter dem Titel Liberalismus neu gefasst. Die Veröffentlichung der Neuausgabe erfolgt mit Genehmigung des Institute of Economic Affairs sowie mit freundlicher Erlaubnis von Monika Streissler, die dieses Buch von Anthony de Jasay exzellent und einfühlsam aus dem Englischen übertragen hat. Die Neuausgabe wurde an die aktuellen Rechtschreibregeln angepasst. Das Vorwort sowie dieses Kapitel wurden neu formuliert. Bei Fritz Georgen bedanke ich mich für die Neufassung des Vorworts. Anthony de Jasay hat mit diesem Buch in mir das Verständnis für Liberalismus geweckt. Ihm gebührt großer Dank.

Burkhard Sievert

Soest, im Mai 2021

1 Anthony de Jasay, A Life in the Service of Liberty, The Independent Review, Vol. IX, Nr. 1, Sommer 2004, S. 99—103.

2 Anthony de Jasay, Der Staat, Berlin, 2018, S. 195.

Liberalismus neu gefasst

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