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Einleitung

Es ist inzwischen schwer zu sagen, wer kein Liberaler ist und was der Liberalismus nicht ist. Blickt man auf die Schottische Aufklärung eines Ferguson, Hume und Smith zurück, auf die Ursprünge des Liberalismus in Kontinentaleuropa bei Wilhelm von Humboldt, Constant und Guizot, auf die Whigs, auf Tocqueville und Bastiat, so lässt sich trotz aller Verschiedenheit der Schwerpunkte ein erhebliches Maß an weltanschaulicher Übereinstimmung feststellen. Es sind ziemlich gleiche Ziele, die sich darauf konzentrieren, dass der Einzelne autonom wählen kann, was er will, und frei ist, mit anderen zu wechselseitigem Vorteil Verträge zu schließen. Einfach ausgedrückt geht es bei diesem Liberalismus vor allem um „Freiheit“ und er kennt keine andere Freiheit als die des Individuums.

Mit ihrer Weiterentwicklung spaltete sich diese Lehre immer weiter auf. Um die Wende zum 20. Jahrhundert ging man vom „laissez faire“ als Richtlinie ab, die bislang respektiert wurde – außer wenn es besonders unbequem war, nicht doch ein bisschen zu schwindeln. Stattdessen begann der Liberalismus bewusst jeweils mehrere, meinungsgebundene und wechselnde Kriterien aufzunehmen, und zwar sowohl Vorstellungen allgemeiner Wohlfahrt, Verteilungsüberlegungen wie Gleichheit oder „Billigkeit“ und individuelle Rechte. Im letzten halben Jahrhundert1 verlor dann der Liberalismus, besonders im Rechtsdenken und in der Wirtschaftstheorie, seine Disziplin und Eindeutigkeit. Unter dem Etikett Liberalismus ist nunmehr eine Mischung kaum vereinbarer Ziele versammelt, was zu einer heillosen Verwirrung führt, unter der keine andere bedeutende Ideologie, nicht einmal der Sozialismus, auch nur annähernd in gleichem Maße litt.

Je nachdem, wer davon spricht, kann „liberale“ Politik heute ganz entgegengesetzte Dinge bedeuten. Wechselnder und uneindeutiger Sprachgebrauch in Bezug auf Freiheit und „Rechte“ unter klassischen, amerikanischen und Neoliberalen, die die Politik gleichzeitig in die verschiedensten Richtungen ziehen, veranschaulicht die Begriffsverwirrung.

So mancher würde ins Treffen führen, dass es sich hier um eine gesunde Entwicklung einer lebendigen Theorie handelt, die den unterschiedlichsten Ansichten Raum gibt und der Vielfalt von Interessen und Präferenzen in der modernen Gesellschaft Ausdruck verleiht. Wenn dabei die praktische, auf den Einzelfall abgestellte Vernunft den Sieg über die Ideologie erringt und Pragmatismus den Sieg über Grundsätze, so sei das eben in Kauf zu nehmen.

Nun ist aber der Sieg von Pragmatismus über Grundsätze nichts, worauf man stolz sein kann. Das würden auch andere zugeben, gleichzeitig jedoch einwenden, dass es letztlich unmöglich ist, in sich geschlossene liberale (oder irgendwelche andere) Grundsätze aus unzweifelhaften Wahrheiten und allgemein anerkannten Zielvorstellungen so abzuleiten, dass die resultierende politische Theorie die Abnützung durch Zeit und Umstände im Wesentlichen unbeschadet übersteht. Dieser Ansicht zufolge ändern sich die Grundsätze, während wir den Turm von Babel errichten, und unsere Theorie wird sich immer weiter unterteilen – der Liberalismus ist in dieser Hinsicht besonders anfällig –, so dass Liberale am Ende mit vielen Zungen sprechen. Die Gründer würden das möglicherweise für zusammenhangloses Gerede halten, aber da wären sie im Irrtum: Es ist einfach das, was geschieht, wenn der Liberalismus nach einigen seiner liberalen Vorstellungen handelt.

Wer sich dieser Auffassung anschließt, verurteilt den Liberalismus zu progressivem Identitätsverlust.

Die vorliegende Arbeit ist Ausdruck eines dreifachen Glaubens:

1. Eine zusammenhängende und stabile politische Theorie ist gut für die Ordnung der Beziehungen der Gesellschaft zum Staat. Sie ist keine Garantie für einen guten oder wenigstens begrenzten Staat – eine solche gibt es wahrscheinlich überhaupt nicht –, aber sie hilft, die Grenzen festzulegen, auf die wir sinnvollerweise hinarbeiten sollten.

2. Eine solche Theorie in die Form unzweifelhafter Grundsätze zu gießen, ist ein schwieriges Unterfangen, aber doch reizvoll genug, um es zu versuchen, auch wenn der Erfolg nicht sicher ist.

3. Die geistige Zersetzung des Liberalismus ist nicht auf den Lauf der Geschichte zurückzuführen, sondern auf die mangelnde Robustheit seiner Bauelemente und auf einen Bauplan, der zum Herumbasteln, Erweitern und Verändern geradezu herausforderte.

Teil I geht den Ursachen dieser Zersetzung nach und setzt sich mit einigen der Lehren auseinander, die im Rahmen dessen bleiben, was ich als den Losen Liberalismus bezeichnen werde.

Teil II ist der Versuch eines vereinfachten Bauplanes für einen Strikten Liberalismus auf einem Fundament von Grundprinzipien. Ich glaube, er lässt sich am besten in der Konfrontation mit seinem losen Gegenstück beurteilen.

1 Der Leser möge bei Zeitangaben wie dieser bitte beachten, dass das Buch im Jahr 1991 veröffentlicht wurde. [Anmerkung des Herausgebers].

Liberalismus neu gefasst

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