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Anselm von Canterbury

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Trotz dieser Konflikte zwischen Dialektikern und Konservativen brachte das elfte Jahrhundert einen Denker hervor, der sowohl ein eigenständiger Philosoph als auch ein so rechtgläubiger Theologe war, dass er heiliggesprochen werden konnte: Anselm von Canterbury (1033–1109). Er wurde in Aosta geboren und trat im Alter von 27 Jahren als Mönch in die Abtei von Bec ein. Dort studierte er unter seinem Abt Lanfranc, der selbst ein höchst kompetenter Gelehrter war und später, nach der normannischen Eroberung Englands, der erste Erzbischof von Canterbury wurde, die Werke des Augustinus. Als Mönch, Prior und schließlich Abt von Bec verfasste Anselm eine Reihe kurzer philosophischer und meditativer Abhandlungen.

Das Lanfranc gewidmete Monologion war dazu bestimmt, Studenten in der rechten Meditation über das Wesen Gottes zu unterweisen. Sein Hauptteil (die Abschnitte 29–80) ist der christlichen Trinitätslehre gewidmet, doch die frühen Abschnitte legen Argumente für die Existenz Gottes vor. Sie basieren auf Überlegungen zu den Graden der Vollkommenheit der Geschöpfe und über abhängiges im Gegensatz zu unabhängigem Sein. Sein berühmtes Argument für die Existenz Gottes als desjenigen, über das hinaus nichts Größeres gedacht werden kann, findet sich im Proslogion, einer etwas später verfassten Schrift. Seine Berühmtheit als Philosoph basiert in der Hauptsache auf diesem Argument, das traditionell als das ontologische Argument für die Existenz Gottes bezeichnet wird.26 Das Proslogion, eine kurze Anrede Gottes im Stil von Augustinus’ Bekenntnissen, zeichnet sich wie dieses Buch durch einen sympathischen literarischen Charme aus, dem es verdankt, dass es zu einem der Klassiker der Philosophie geworden ist.

Wie bereits erwähnt, war Anselm nicht nur ein hervorragender Philosoph, sondern auch ein bedeutender Theologe, und in seinen Schriften unterscheidet er nicht deutlich zwischen beiden Disziplinen. Wenn er das Thema Gott behandelt, macht er, wie es spätere Scholastiker tun sollten, noch keinen systematischen Unterschied zwischen natürlicher Theologie (demjenigen, was über Gott mit der Vernunft allein erkannt werden kann) und dogmatischer Theologie (demjenigen, was allein durch Offenbarung erkennbar ist). Er fasst seine eigene Haltung in einer Passage zu Beginn des Proslogion (c. 1) zusammen:

„Ich versuche nicht, Herr, Deine Tiefe zu durchdringen, denn auf keine Weise stelle ich ihr meinen Verstand gleich; aber mich verlangt, Deine Wahrheit einigermaßen einzusehen, die mein Herz glaubt und liebt. Ich suche ja auch nicht einzusehen, um zu glauben, sondern ich glaube, um einzusehen. Denn auch das glaube ich: ‚wenn ich nicht glaube, werde ich nicht einsehen‘ (Jes 7:9).“27

Er behandelt also die Existenz Gottes und das Mysterium der Trinität auf gleiche Weise, als Wahrheiten, die er bereits glaubt, jedoch umfassender verstehen möchte. Wenn er bei der Durchführung dieses Projekts auf philosophische Argumente stößt, die dazu verwendet werden können, den Ungläubigen zu beeinflussen, so ist dies eher ein zusätzlicher Gewinn als der Zweck seiner Untersuchung.

Mehrere seiner Abhandlungen übergreifen daher die Philosophie und Theologie. Über die Wahrheit analysiert die verschiedenen Verwendungen des Wortes „wahr“ – zur Beschreibung von Sätzen, Gedanken, sinnlichen Wahrnehmungen, Handlungen und Gegenständen. Die Schrift gelangt zu dem Ergebnis, dass es in allen Dingen nur eine einzige Wahrheit gibt, die mit Gerechtigkeit identisch ist. Die Schrift Über den freien Willen untersucht die Frage, bis zu welchem Grade der Mensch in der Lage ist, Sünden zu vermeiden. Über den Fall des Teufels behandelt eine der schwierigsten Versionen des Theodizeeproblems: Wie war es möglich, dass anfänglich gute Engel von überragender Intelligenz und ohne fleischliche Versuchungen sich von Gott, der wahren Quelle der Glückseligkeit, abwenden konnten?

Während seiner Zeit in Bec schrieb er ein rein philosophisches Werk. Die Schrift Über den Grammatiker ist eine Reflexion im Grenzgebiet zwischen Grammatik und Logik über das Verhältnis zwischen Zeichen und Bezeichnetem. Vor dem Hintergrund von Aristoteles’ Kategorien analysiert Anselm darin den Gegensatz zwischen Nomen und Adjektiven, konkreten und abstrakten Ausdrücken, Substanzen und Eigenschaften und setzt diese Gegensätze zueinander in Beziehung.

Im Jahre 1093 trat Anselm die Nachfolge von Lanfranc als Erzbischof von Canterbury an, und er bekleidete dieses Amt bis zu seinem Tod. In seinen letzten Lebensjahren war er sehr mit Streitigkeiten über die Zuständigkeitsbereiche des Königs (Wilhelm II.) und des Papstes (Urban II.) beschäftigt, aber er fand trotzdem die Zeit, unter dem Titel Warum wurde Gott Mensch? eine neuartige Rechtfertigung für die christliche Lehre von der Inkarnation zu verfassen. Er erklärt darin, die Gerechtigkeit verlange es, dass es für ein Vergehen eine Wiedergutmachung gebe: Der Schuldige müsse eine Entschädigung leisten, die dem Vergehen angemessen und entgegengesetzt ist. In feudalem Stil argumentiert er, die Größe der Schuld hänge von der Bedeutung der Person ab, die dadurch verletzt worden sei, während der Umfang der Wiedergutmachung sich nach der Bedeutung der Person bemesse, die sie leistet. Die menschliche Sünde sei ein unendliches Vergehen, da sie eine Beleidigung Gottes darstelle. Die menschliche Wiedergutmachung sei nur begrenzt, da sie von einer Kreatur geleistet werde. Ohne Hilfe eines anderen sei die Menschheit daher nicht in der Lage, die Sünden Adams und seiner Nachkommen wiedergutzumachen. Die Genugtuung könne nur angemessen sein, wenn sie von jemandem geleistet werde, der ein Mensch (und daher ein Nachkomme Adams) und zugleich göttlich sei (und dadurch in der Lage, eine unendliche Wiedergutmachung zu leisten). Hieraus ergab sich die Notwendigkeit der Menschwerdung Gottes. Für die Geschichte der Philosophie ist diese Abhandlung Anselms wegen ihres Begriffs der Wiedergutmachung von Bedeutung, der – ebenso wie Abschreckung und Vergeltung – seit Langem in politischen und theologischen Kontexten bei der philosophischen Rechtfertigung von Strafe eine Rolle spielte.


Anselms Turm neben der Kathedrale von Canterbury. Sein Grab befindet sich unter einer einfachen Steinplatte im Fundament des Turms.

Kurz bevor man ihn zum Erzbischof ernannte, wurde Anselm in einen Streit mit einem kämpferischen Theologen, Roscelin von Compiègne (ca. 1050–1120), verwickelt. Roscelin ist für seine Position in einem Streit berühmt, der noch eine lange Geschichte vor sich hatte: der Streit über das Wesen der Universalbegriffe. Wofür steht in einem Satz wie „Peter ist ein Mensch“ der Allgemeinbegriff „Mensch“? Über die Jahrhunderte hinweg wurden die Philosophen dem Lager der Realisten, die annahmen, dass solch ein Prädikat für eine außerhalb des Geistes existierende Wirklichkeit steht, oder dem Lager der Nominalisten zugeordnet, die glaubten, dass einem solchen Wort keine Entität auf die Weise entspreche, auf die der Mann Peter dem Namen „Peter“ korrespondiert. Roscelin wird in der Geschichte der Philosophie oft als Begründer des „Nominalismus“ angesehen, obwohl seine Ansichten tatsächlich noch radikaler sind als die der meisten Nominalisten. Er behauptete nicht nur, dass allgemeine Prädikate bloße Namen sind, sondern lediglich ein Hauch der Stimme. Wird diese Theorie auf die Lehre von der Trinität angewendet, ergibt sich ein Problem. Vater und Sohn und Heiliger Geist sind jeder für sich Gott. Doch wenn das Prädikat „Gott“ ein bloßes Wort ist, haben die drei Personen der Trinität nichts gemeinsam. Auf einem Konzil im Jahre 1092 ließ Anselm Roscelin verurteilen, weil man ihm Tritheismus vorwarf, die Lehre, dass es drei getrennte Gottheiten gebe.

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