Читать книгу Geschichte der abendländischen Philosophie - Anthony Kenny - Страница 9
1 — Philosophie und Glaube:
Von Augustinus bis Maimonides
ОглавлениеIm ersten Band dieser Geschichte der Philosophie haben wir ihre Entwicklung in der Antike bis zur Bekehrung des heiligen Augustinus am Ende des vierten Jahrhunderts unserer Zeitrechnung verfolgt. Das Leben des Augustinus markiert eine Epochenwende in der Ideengeschichte. In seinen frühen Jahren nahm er aus mehreren Quellen philosophische Ideen verschiedener Traditionen auf, besonders jedoch aus der platonischen Tradition, sei es der skeptischen Version der neuen Akademie oder der metaphysischen Version des Neuplatonismus. Nach seiner Bekehrung zum Christentum entwickelte er in einer Reihe äußerst umfangreicher Abhandlungen eine Synthese jüdischer, griechischer und christlicher Ideen, die zum Hintergrund für das nächste Jahrtausend des abendländischen philosophischen Denkens werden sollte.
Aus philosophischer Sicht war der fruchtbarste Lebensabschnitt von Augustinus die Zeit unmittelbar vor und nach seiner Taufe zu Ostern des Jahres 387. Zwischen seiner Bekehrung und seiner Taufe verbrachte er eine mehrere Monate lange Vorbereitungszeit mit Freunden und Mitgliedern seiner Familie in Cassiciacum, einem Landhaus in der Nähe von Mailand. In diesem Zeitabschnitt entstand eine Reihe von Werken, die wortwörtlichen Abschriften lebendiger Diskussionen gleichen, insbesondere die Schrift Contra Academicos, die versucht, die wahren von den falschen Elementen des Skeptizismus zu trennen.
Außerdem erfand Augustinus eine neue Darstellungsform, der er den Namen „Selbstgespräche“ gab. Er schrieb einen Dialog mit sich selbst, in dem die beiden Charaktere die Namen Augustinus und Vernunft tragen. Die Vernunft fragt Augustinus, was er wissen will. „Ich will Gott und die Seele erkennen“, antwortet Augustinus. „Sonst nichts?“ „Überhaupt nichts.“ (S 1. 2. 7)
Die Vernunft verspricht, seinem Geist Gott so deutlich erscheinen zu lassen, wie die Sonne den Augen erscheint. Hierzu müssen die Augen der Seele von sämtlichen Wünschen nach vergänglichen Dingen gereinigt werden. In diesem Dialog schwört Augustinus dem Streben nach Besitz, Ehre und sexueller Lust ab (wobei dieser letzte Verzicht lebhaft beschrieben wird). Die Vernunft löst ihr Versprechen, Gott darzustellen, noch nicht ein, doch sie bietet Augustinus einen Beweis der Unsterblichkeit der Seele: Er möge den Begriff der Wahrheit bedenken. Wahre Dinge können vergehen, doch die Wahrheit selbst besteht ewig. Selbst wenn die Welt aufhört zu existieren, wäre es dennoch wahr, dass die Welt aufgehört hat zu existieren. Die Heimat der Wahrheit ist die Seele, sodass die Seele, wie die Wahrheit, unsterblich sein muss (S 1. 15. 28, 2. 15. 28).
Das früheste Porträt des heiligen Augustinus.
Nach seiner Taufe blieb Augustinus anderthalb Jahre in Italien. In dieser Zeit schrieb er einen weiteren kurzen Traktat über die Unsterblichkeit der Seele sowie ein umfangreicheres Werk, Über die Freiheit des Willens, dem wir bereits im ersten Band dieser Philosophiegeschichte begegnet sind. Im Jahre 388 kehrte er nach Afrika zurück und führte die nächsten fünf Jahre das Leben eines Privatgelehrten in seiner Heimatstadt Tagaste. Im Jahre 391 fand er seine endgültige Berufung und wurde zum Priester geweiht. Wenig später wurde er Bischof von Hippo in Algerien, wo er bis zu seinem Tod im Jahre 430 lebte.
Die überwiegende Mehrzahl seiner Werke entstand in diesem letzten Abschnitt seines Lebens. Er war ein äußerst produktiver Autor, und seine gesammelten Werke erreichen einen Umfang von fünf Millionen Wörtern. Ein großer Teil von ihnen besteht aus Predigten, Bibelkommentaren und kontroversen Traktaten über Theologie oder Kirchenzucht. Er schrieb keine philosophischen Abhandlungen mehr, die mit denen der Jahre seiner Bekehrung vergleichbar wären. Doch eine Reihe seiner Hauptwerke enthält Texte von großem philosophischem Interesse.
Im Jahre 397 schrieb Augustinus ein Werk mit dem Titel Bekenntnisse, einen im Stil eines Gebets verfassten Dialog mit Gott, in dem er sein Leben von der Kindheit bis zu seiner Bekehrung nachzeichnet. Es ist keine normale Autobiografie, obwohl sich behaupten lässt, dass sie das erste Beispiel dieses Genres ist. Sie ist die Hauptquelle unseres Wissens über Augustinus’ Leben vor seiner Zeit als Bischof, enthält zahlreiche philosophische Gelegenheitsreflexionen und endet mit einer umfassenden Untersuchung des Wesens der Zeit.1 Ihr bezaubernder Stil machte sie von Anfang an zum beliebtesten seiner Werke.
Zwischen 400 und 417 schrieb Augustinus an einem weiteren Meisterwerk: an 15 Büchern mit dem Titel Über die Trinität. In den Büchern zu Beginn dieser Abhandlung geht es hauptsächlich um die Analyse biblischer und kirchlicher Texte, die sich mit dem Mysterium der drei Personen in dem einen Gott befassen. Von wesentlich größerem Interesse für Philosophen ist die subtile Darstellung der Psychologie des Menschen in den späteren Büchern, die im Zusammenhang mit der Suche nach einer Analogie der himmlischen Trinität in den Herzen und Köpfen von Männern und Frauen steht.2