Читать книгу Die Suche - Antje Babendererde - Страница 3

1.

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Ein hoher Schreckenslaut kam aus Canyons Kehle, als sie auf dem moosbewachsenen Stein ausglitt und beinahe in einer schwarzen Wildsuhle gelandet wäre.

Der junge Constable packte sie geistesgegenwärtig am Arm. „Vorsicht, Miss Toshiro! Ist verdammt rutschig hier.“ Er bemühte sich, ein Lächeln zu verbergen, allerdings ohne Erfolg.

„Kein Wort über meine Schuhe“, sagte Canyon, als sie wieder sicher stand.

Der Polizist presste grinsend die Lippen zusammen und sie ließ es ihm durchgehen. Für eine derartige Expedition war sie nicht ausgerüstet. Sie trug leichte, beigefarbene Slipper und die Nässe drang durch das dünne Leder. Als sie vor zwei Stunden in Thunder Bay losgefahren war, war es sommerlich warm gewesen und die Straßen trocken. Doch hier, hundertfünfzig Kilometer weiter nördlich, in einer Wildnis, die zu einem Indianerreservat gehörte, gab es nicht einmal Straßen im herkömmlichen Sinne.

Nachdem Canyon den schnurgeraden Highway verlassen hatte, war sie eine Schotterpiste gefahren und dann auf eine breite, ausgefahrene Rinne voller Wasserlöcher abgebogen. Noch vor einer Woche hatte es Nachtfrost gegeben, obwohl es schon Anfang Juni war. In diesem Winkel der kanadischen Provinz Ontario, am Nordrand der Großen Seen, gab der Frühling meist nur ein kurzes Gastspiel. Es war schlagartig heiß geworden und die sommerlichen Temperaturen lockten die ersten Plagegeister aus ihren Verstecken.

Misstrauisch beobachtete Canyon winzige schwarze Tierchen mit weißen Flügeln und Beinen, die sich auf ihren Armen niederließen. Die blutrünstigen Schwarzfliegen bissen erbarmungslos zu, wo immer sie ein Stück nackte Haut erwischen konnten. Wütend schlug Canyon nach ihnen. Dabei rutschte sie erneut und klammerte sich an der Uniform des sommersprossigen Polizisten fest, dessen Namen sie vergessen hatte.

„Hoppla!“ Sein Grinsen wurde breiter.

„Wo ist er denn nun?“, fragte Canyon ungeduldig. Sie und ihre Kollegin Sarah Wilson hatten bereits Dienstschluss gehabt, als ihr Vorgesetzter ins Büro gekommen war und sie angewiesen hatte, noch raus in ein Indianerreservat zu fahren. Der Fall sei dringend.

Sarah hatte ihren 15. Hochzeitstag, und kein noch so dringender Fall hätte sie davon abbringen können, das geplante Abendessen mit ihrem Mann Charlie im „Harrington Court“ sausen zu lassen. Also hatte sich Canyon allein auf den Weg gemacht, und war nach einer endlos scheinenden Fahrt nicht wie erwartet in einem Indianerdorf, sondern in einer summenden, feuchtwarmen Wildnis gelandet.

Der Polizeibeamte wies auf drei Männer, zwei Indianer und einen Weißen im Anzug, die etwas abseits vor der riesigen Wurzel eines umgestürzten Baumes standen und miteinander sprachen. „Dort drüben bei den anderen, Miss. Der Große im Holzfällerhemd. Er ist Lehrer an der High School von Nipigon und lebt mit seinem Sohn in Dog Lake. Auf dem Weg hierher sind Sie an der Siedlung vorbeigekommen.“

Canyon erinnerte sich, hinter einer Wegbiegung drei oder vier Holzhäuser gesehen zu haben. An einem Abzweig der Schotterstraße hatte dieser milchgesichtige Constable gewartet, um sie zu den anderen zu führen. Mit Hausnummern und Wegbeschreibungen käme man hier draußen nicht weit, hatte Sarah sie vorgewarnt.

„Danke“, sagte sie. Der Polizist nickte und blieb stehen. Sie ging auf die Männer zu, die ihr Gespräch unterbrachen und ihr entgegensahen. Ein schwarzer, argwöhnischer Blick traf Canyon, der sie einen Moment zögern ließ. Sie atmete tief durch und setzte ihren Weg über den feuchten Waldboden fort.

Die beiden Indianer musterten sie wie ein Fabeltier. Natürlich war Canyon klar, was für ein Bild sie in ihren winzigen Schuhen, der weißen Bluse und dem knielangen cremefarbenen Rock hier in der Wildnis abgeben musste. Das war auch nicht ihre übliche Dienstkleidung, doch am Vormittag hatte sie einen Gerichtstermin gehabt und dort wurde von den Mitarbeitern des Jugendamtes angemessene Kleidung erwartet. Als Canyon sich am Morgen für dieses helle Kostüm und die flachen Schuhe entschieden hatte, konnte sie nicht ahnen, in welche unwirtliche Gegend es sie an diesem Tag noch verschlagen sollte. Es war ihr erster Fall außerhalb der Stadt.

„Canyon Toshiro“, stellte sie sich vor und setzte allen Unbilden zum Trotz ein freundliches Lächeln auf. „Ich bin vom Jugendamt in Thunder Bay. Man hat mich hergeschickt, weil ein Junge verschwunden ist.“

Nachdem sie ihren Namen genannt hatte, bemerkte sie ein kurzes, verwundertes Aufflackern in den Blicken der beiden Indianer, das jedoch schnell wieder verlosch.

„Lange nicht gesehen, Miss Toshiro“, begrüßte sie Inspektor Harding vom Thunder Bay Police Department, mit dem sie schon in anderen Fällen zu tun gehabt hatte. Auch er war unpassend gekleidet, allerdings auf andere Art. In den billigen Anzügen, die er stets trug, und seinen geschmacklosen bunten Krawatten, fiel er sogar in der Stadt auf, doch hier draußen wirkte seine Erscheinung grotesk.

Harding war ein untersetzter Mann mit zu langen kräftigen Armen, braunem Haar und einem Gesicht, das den Eindruck von einem Neandertaler noch verstärkte: eine breite Nase, wulstige dunkle Augenbrauen und ein tiefer Haaransatz. Einige Mitarbeiter des Jugendamtes behaupteten, er könne sich in den Kniekehlen kratzen, ohne sich zu bücken.

Canyon mochte die kühle, abschätzende Art des Inspektors nicht, die er niemals abzulegen schien. Alles an ihm war Routine, sogar sein Mitgefühl. Aber sie war auf die Zusammenarbeit mit ihm angewiesen, also versuchte sie, ihn ihre Abneigung nicht spüren zu lassen.

Harding schüttelte ihr die Hand und stellte ihr die beiden anderen Männer vor. „Constable Miles Kirby von der Dog Lake Stammespolizei und Mr Jem Soonias, er ist der Vater des vermissten Jungen.“

Der hochgewachsene Indianer mit Pferdeschwanz und finsterer Miene reichte ihr nicht die Hand, obwohl sie ihm ihre entgegenstreckte. Mit verächtlichem Blick starrte er auf ihre Dienstmarke, die sie noch schnell an ihre Bluse gesteckt hatte, bevor sie aus dem Wagen gestiegen war.

Canyon ging darüber hinweg, denn diese Art Unhöflichkeit war sie gewohnt. In ihrem Beruf als Sozialarbeiterin hatte sie lernen müssen, mit Zurückweisung zurechtzukommen. Mitarbeiter des Jugendamtes wurden von den betroffenen Eltern selten herzlich empfangen. Ihr Erscheinen war Vorwurf genug und auf Sympathiebekundungen durfte sie nicht hoffen. Allerdings beschlich sie sofort das ungute Gefühl, dass sich hinter Jem Soonias Unhöflichkeit noch mehr verbarg. Ein lang angestauter Groll vielleicht. Besser, sie war auf der Hut.

Mit einem freundlichen Kopfnicken wandte Canyon sich dem indianischen Polizisten zu und begrüßte ihn. Kirby trug Uniform und unter den Achseln seines Hemdes hatten sich dunkle Flecken gebildet. Sie schätzte ihn auf Anfang oder Mitte vierzig. Er hatte kurzes schwarzes Haar und ein offenes, sympathisches Gesicht mit dunkelbraunen Augen. Constable Kirby würde ihr gewiss helfen, sollte der Vater des verschwundenen Jungen beschlossen haben, sie als Feindin zu betrachten.

Während Harding sie kurz aufklärte, musterte Canyon Jem Soonias verstohlen. Der Indianer mochte Mitte dreißig sein und trug die typische Kleidung der Männer, die in der Wildnis zu Hause waren: Jeans, ausgetretene Trekkingstiefel und ein rot-schwarzes Holzfällerhemd. Nicht der neueste Schrei, aber hier draußen allemal praktischer als das, was sie selbst am Leibe trug. Soonias stand unbeweglich wie ein Baum in der Landschaft und sein Gesichtsausdruck war immer noch unnachgiebig und verschlossen.

Der Inspektor räusperte sich. „Am besten, Sie lassen sich von Mr Soonias selbst erzählen, was passiert ist, Miss Toshiro. Meine Beamten haben die Gegend abgesucht und keinen Hinweis darauf gefunden, was mit dem Jungen geschehen sein könnte. Unser Spürhund ist auch nicht weitergekommen. Zuerst haben wir gedacht, Stevie wäre vielleicht in den Wald gelaufen und hat sich verirrt. Aber dann hätte die Hündin seine Spur gefunden. Sie ist eine unserer Besten.“

„Was ist mit Reifenspuren?“, erkundigte sich Canyon.

Harding schüttelte den Kopf. „Sehen Sie sich doch um! Wer weiß, wie viele Wagen heute schon durch diesen Schlamm gefahren sind. Unsereins kommt die Gegend ziemlich abgelegen vor, aber für die Leute aus dem Reservat ist der Wald die Vorratskammer. Constable Kirby sagt, sie sammeln hier Holz und irgendwelche Pflanzen.“ Er hob die Schultern. „Wenn die Kollegen den See abgesucht haben, gibt es hier für uns erst einmal nichts weiter zu tun.“ Der Inspektor gab dem indianischen Beamten einen Wink, dass er ihm folgen sollte.

Canyon trat von einem Bein auf das andere, um nicht im aufgeweichten Waldboden zu versinken. Ihre teuren Schuhe waren längst ruiniert.

„Steven hat also zuletzt hier gespielt“, wandte sie sich an den Vater des vermissten Jungen und versuchte, dabei nicht vorwurfsvoll zu klingen. Objektivität, Sachlichkeit, Gelassenheit, die drei obersten Regeln in ihrem Beruf.

Wenn man so wenig über einen Fall und seine Beteiligten informiert war, wie sie in diesem Moment, dann war es besser, sich neutral zu verhalten und den Eltern nicht gleich mit verletzter Aufsichtspflicht zu drohen. Von Robert Lee Turner, ihrem Chef, hatte sie nur erfahren, dass ein neunjähriger Indianerjunge verschwunden war. Es gab eine Akte über Jem Soonias und seinem Sohn, doch Canyon hatte keine Zeit gehabt, sie einzusehen, denn Robert Lee hatte sie unverzüglich losgeschickt.

„Sein Name ist Stevie, Miss“, korrigierte sie der Indianer. „Und er spielt immer hier.“

Canyon sah sich um und versuchte herauszufinden, was ein Junge von neun Jahren alleine hier draußen spielen konnte. Vor ihnen lag dieser kleine See, dessen Wasser grün von Algen war. Sonnenstrahlen warfen winzige funkelnde Lichtpunkte auf seine glatte Oberfläche, über die schillernde Libellen im Zickzackflug glitten. Wasser zog Kinder magisch an, das war kein Geheimnis. Aber Dog Lake, die Siedlung, in der Stevie mit seinem Vater lebte, lag an einem großen See, das hatte sie auf der Karte gesehen. Der Junge hatte das Wasser vor seiner Haustür und hätte nicht erst hierher kommen müssen, um geschnitzte Rindenboote auf ihre Tauglichkeit zu testen oder eine selbstgebaute Angel auszuwerfen.

Canyons Blick machte einen Bogen. Es war ein sonniger, warmer Tag gewesen, trotzdem glitzerte noch Feuchtigkeit in den Gräsern, Moosen und Flechten am Boden. Sie sah beige, feinverzweigte Gebilde wie Kugeln aus Schaum. Weinrote Moose, durch deren Geflecht sich die ersten Blätter von Orchideen schoben. Ein Birkenwäldchen verdeckte zur Hälfte den umgestürzten Baumriesen, dessen Wurzeln wie Arme von Waldgeistern in die Höhe ragten.

Dahinter begann lichtlose Wildnis. Schwarzfichten, Douglas- und Hemlocktannen mit graugrünen Gespinsten in den Zweigen, die wie Bärte alter Männer aussahen. Ein Gebiet, in das keine Wege führten, zumindest keine sichtbaren. Ein Ort voller Geheimnisse und Magie. Canyon durchforschte ihr Gedächtnis: Wie war es, neun Jahre alt zu sein?

In diesem Alter hatte man schon eine Menge gehört und gesehen und sich seine Gedanken darüber gemacht. Die Phantasie war stark ausgeprägt, aber in der Regel siegte die natürliche, noch nicht durch Erfahrung getrübte Neugier.

Canyon erinnerte sich, wie sehr sie sich als Kind davor gefürchtet hatte, allein zu sein, obwohl ihre Welt damals noch in Ordnung gewesen war. Stevie dagegen hatte es nichts ausgemacht, hier draußen alleine zu spielen. Offenbar war er mit der Wildnis vertraut und fürchtete sich nicht vor ihren Bewohnern. Doch nun war er verschwunden.

„Sie haben Ihren Sohn hier spielen lassen, Mr Soonias? Ganz allein? Wir sind fast zwei Kilometer vom Dorf entfernt!“ Ihre Stimme war schärfer geworden, eindringlicher. Jetzt wollte sie vorwurfsvoll klingen, um ihn aus der Reserve zu locken. Sie sah ihn an, aber sein Blick blieb unergründlich. Er war auf der Hut - genauso wie sie.

„Er kam mit dem Rad hierher. Hinter der Wurzel hat er sich eine Höhle gebaut.“ Der Indianer antwortete nur widerwillig. Sie ging ihm auf die Nerven, das versuchte er gar nicht erst zu verheimlichen. Doch seine Abneigung galt nicht nur ihren unangenehmen Fragen. Canyon vermutete, dass mehr dahintersteckte. Vielleicht irgendetwas, dass sie wissen sollte, bevor sie schärfere Geschütze auffuhr.

Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. „Es ist noch nicht mal acht. Vielleicht hat er ja mit seinen Freunden die Zeit vertrödelt. Sie wissen doch, wie Kinder sind.“

„Mein Sohn ist ein sehr zuverlässiger Junge“, erwiderte Soonias. „Ich musste mir noch nie Sorgen machen, weil er nicht nach Hause kam. Wir wollten heute Nachmittag zusammen ins Kino gehen. Das hätte er auf keinen Fall versäumt.“

„Kino?“, entfuhr es Canyon verwundert. Als sie Soonias ärgerlichen Blick sah, schluckte sie.

Wie Jem diese versteckte Art von Überheblichkeit hasste. Als wären die kanadischen Ureinwohner in den Reservaten arme Wilde, an denen der Fortschritt vorübergegangen war und die deshalb noch in einer Art Steinzeit lebten. Aber er war zu durcheinander, um mit dieser Frau aus der Stadt über Vorurteile zu diskutieren. Was sie über Indianer dachte, interessierte ihn nicht. Er wollte nur seinen Sohn wiederhaben. Deshalb rang er sich eine Erklärung ab.

„Im Kulturzentrum von Red Rock läuft Die Mumie II. In den Sommerferien gibt es dort manchmal Kinovorstellungen.“

„Verstehe.“ Canyon nickte lächelnd. „Sie sagten, Stevie wäre mit dem Fahrrad hierhergekommen. Haben Sie oder die Polizei es gefunden?“

Jem schüttelte den Kopf. „Bis jetzt nicht.“ Canyons Blick folgte seinem und wanderte hinüber zum See, wo Polizisten in einem Schlauchboot dabei waren, mit Stangen den Grund nach Stevie und seinem Fahrrad abzusuchen. Der See war flach, höchstens anderthalb Meter tief. Bis auf einen dunkelgrünen Fleck in der Mitte, wo Algen wuchsen, konnte man überall den sandig gelben Boden sehen.

„Was denken Sie, Mr Soonias?“

„Dass die Männer nichts finden werden“, antwortete er schroff.

Vermutlich war es sinnlos, Jem Soonias zu fragen, weshalb er so sicher war. Der Indianer konnte oder wollte ihr nicht in die Augen sehen und auch nicht mit ihr reden. Er ließ sich nicht aus der Reserve locken und sagte kaum mehr, als unbedingt nötig war. Lag es nur daran, dass sie Mitarbeiterin des Jugendamtes war, oder hatte Soonias etwas zu verbergen?

Canyon war keine Anfängerin mehr, doch in diesem Fall schien ihre Intuition sie im Stich zu lassen.

„Können wir zu Ihnen nach Hause fahren?“, bat sie. „Ich würde mir gerne Stevies Zimmer ansehen und Ihnen gleich noch ein paar Fragen stellen. Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen einzuwenden.“

Als einziges Zeichen seiner Zustimmung stiefelte Soonias los, dorthin, wo die Wagen auf einer Lichtung geparkt waren. Canyon folgte ihm. Morastiges Wasser drang in ihre Schuhe und verursachte beim Gehen schmatzende Geräusche. Als der Indianer schließlich stehen blieb, sah sie sich kurz um. Außer den beiden Polizeifahrzeugen und ihrem Dienstwagen konnte sie kein weiteres Auto entdecken.

„Miles Kirby hat mich mit hier rausgenommen“, sagte Soonias, als hätte er ihre Gedanken erraten. „Ich kann auch laufen, wenn Sie Angst haben, mit mir in einem Wagen zu sitzen.“

So ein Idiot! Plötzlich hatte Canyon ein klammes Gefühl in der Kehle. Sie fasste nach dem Türgriff auf der Fahrerseite ihres Dienstwagens und musterte Soonias schlammverschmierte Halbstiefel. Schließlich stieg sie ein und öffnete ihm die Beifahrertür. Sie startete den Motor und manövrierte den kirschroten Toyota durch Wasserlöcher und über Wurzeln in Richtung Schotterstraße. Der Wagen würde eine gründliche Reinigung brauchen, wenn sie erst wieder in Thunder Bay war. Und sie selbst auch. Canyon schwitzte und hoffte, dass ihr verstockter Fahrgast keine allzu feine Nase hatte.

Soonias musste den Kopf einziehen, um nicht an die Decke des Toyotas zu stoßen, wenn Canyon durch die Löcher holperte. Er schien ins Grübeln versunken. Schwer zu ahnen, was er eigentlich dachte.

Dranbleiben, Canyon. Versuch, sein Vertrauen zu gewinnen. „Sie erziehen den Jungen allein?“

Jem Soonias blickte stur geradeaus, doch sie bekam eine Antwort. „Stevies Mutter starb bei seiner Geburt. Fruchtwasserembolie. Aber das wissen Sie doch längst alles. Damals wollte das Jugendamt mir meinen Sohn wegnehmen, weil ich mit seiner Mutter nicht verheiratet war. Ich habe einen Krieg gegen Ihre Behörde geführt.“

Das ist es also, schoss es Canyon durch den Kopf. Daher diese unverhohlene Abneigung. „Und Sie haben gewonnen“, stellte sie fest.

Sie dachte an die Akte Soonias, die Robert Lee auf ihren Schreibtisch gelegt hatte. Manchmal war es von Vorteil, genau über alles Bescheid zu wissen und manchmal war es besser, unvoreingenommen an eine Sache heranzugehen. Objektivität beruhte auf Fakten. In diesem Fall hätte sie gerne mehr gewusst, aber das musste nun warten, bis sie wieder in ihrem Büro war.

„Ich habe meinen eigenen Sohn adoptiert.“

Canyon wollte ihm sagen, dass sie erst seit anderthalb Jahren im Jugendamt von Thunder Bay arbeitete und daher nichts über die alte Geschichte wissen konnte. Aber sie ließ es bleiben, als sie sein verschlossenes Gesicht sah. Halbseidene Zugeständnisse würden diesem Mann keine Sympathie entlocken. Da müsste schon ein Wunder geschehen. Und Canyon Toshiro glaubte seit langer Zeit nicht mehr an Wunder.

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