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4.

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Die Stadt Thunder Bay am Westufer des Lake Superior war erst Anfang der siebziger Jahre entstanden, als man beschlossen hatte, die Orte Fort Williams und Port Arthur zusammenzulegen. Fort Williams, einst Umschlagplatz für Trapper und Pelzhändler aus dem Norden, war 1892 zum ersten Mal als Ort erwähnt worden und Port Arthur, benannt nach Queen Victorias drittem Sohn, etwa zur selben Zeit.

In den Sommermonaten wurde im alten Fort Williams von Studenten in originalgetreuen Kostümen die Vergangenheit nachgestellt. Canyon hatte das Spektakel schon einige Male gesehen und fragte sich jedes Mal, wie es wohl wirklich gewesen sein mochte, als sich die ersten Waldläufer unter die Indianer mischten und später als Siedler hier niederließen. Als französische Pelzhändler die Flüsse in Richtung Norden befuhren, den ganzen Winter über Fallen stellten und dann, wenn das Eis geschmolzen war, die großen Seen überquerten, um nach tagelangen unmenschlichen Strapazen ihre Felle gegen Lebensmittel, Munition oder klingende Münze tauschten. Viele von ihnen hatten, weil es praktisch war, indianische Frauen geheiratet und Mischlingskinder in die Welt gesetzt.

Auch in ihren Adern floss Mischblut. Sie war die Tochter eines japanischen Vaters und einer Mutter französisch-indianischer Abstammung, wobei sich das Erbgut ihres Vaters nur spärlich durchgesetzt hatte. Der asiatische Einschlag in ihrem Gesicht war zwar unverkennbar: breite Wangenknochen, Augen, die sich in den Winkeln leicht verengten und kräftiges schwarzes Haar, aber ebenso gut hätte sie auch ein Inuitabkömmling sein können. Es war ihr Name, der das Rätselraten meistens beendete.

Nach dem College war Canyon aus Vancouver nach Thunder Bay gezogen und hatte die Stadt seither kaum verlassen, höchstens drei oder vier Mal zu ein paar kleinen Ausflügen in die umliegende Gegend. Alles Fremde machte Canyon nervös. Sie brauchte ihre Ordnung, ihren Rhythmus. Den hatte sie gerade erst wiedergefunden, nachdem sie sich endlich von Gordon getrennt hatte und in dieses kleine Apartment gezogen war. Gordon Shaefer, Rechtsanwalt mit einer vielversprechenden Karriere vor sich. Sprössling einer angesehenen Familie in Thunder Bay, deren männliche Mitglieder seit vier Generationen Anwälte waren.

Gordon war ein gut aussehender, immer korrekt gekleideter Mann, um den Canyon von anderen Frauen beneidet worden war. Hinter vorgehaltener Hand hatten sie sich gefragt, was er an ihr fand: an einer kleinen Halbjapanerin, die weder besonders schön noch extravagant war. Was keine von ihnen wusste: Shaefer war ein Mann, der sehr jähzornig werden konnte und in solchen Augenblicken die Kontrolle über seine körperlichen Kräfte verlor.

Als Canyon ihn vor fünf Jahren kennenlernte, faszinierte Gordon der asiatische Einschlag in ihrem Gesicht. Er fand ihre hohen Wangenknochen und die schrägen Augen exotisch und attraktiv. Meine kleine Geisha, hatte er sie gern genannt und sie hatte sich geschmeichelt gefühlt. Dass er, wenn er wütend war, heftiger reagierte als andere Menschen, hatte sie zwar registriert, aber sie war so verliebt gewesen, dass sie gar keine Bedenken aufkommen ließ.

Gordon bereute schnell und war dann immer besonders zärtlich und aufmerksam. Er machte teure Geschenke und beschwor seine Liebe zu ihr. Da war Canyon schon so abhängig von seiner Zuneigung und der körperlichen Erfüllung, die sie bei ihm fand, dass sie ihm immer wieder glaubte.

Aber dann war er eines Abends auf einer Party von einer hübschen jungen Journalistin gefragt worden, von welchem Eskimovolk seine Freundin eigentlich abstamme. Gordons wütende Verlegenheit war Canyon noch gut im Gedächtnis. Von da an fand er ihr Gesicht zu breit und zu flach, ihre Beine nicht lang genug und sowieso: beim Sex war sie verklemmt und zögerlich und viel zu still.

Das alles sagte er ihr zwar nicht ins Gesicht, denn er hielt sich für einen außerordentlich kultivierten Menschen, aber Canyon entdeckte Gordons Vorbehalte in seinen Blicken und seinen Äußerungen, die er anderen gegenüber machte.

Der Gedanke, ihn zu verlieren, war ihr unerträglich. Sie klammerte sich an ihn, was ihn reizbar machte. Eines Tages schlug er sie. Es war das erste Mal. Gordon war klein, aber kräftig und sie wog nur fünfzig Kilo. Der Schlag warf sie gegen die Wand. Sie taumelte und stürzte. Das Blut, das aus ihrer Nase strömte, ernüchterte ihn. Er kümmerte sich, stoppte die Blutung, kühlte ihr Gesicht, bereute zutiefst.

Und Canyon verzieh ihm.

Die nächsten Tage meldete sie sich krank. Ihren Kollegen aus dem Kinderheim, in dem sie damals arbeitete, erzählte sie, dass sie unglücklich gestürzt wäre. Nach diesem Zwischenfall ging es mehrere Monate gut zwischen ihnen und Canyon fasste neuen Mut. Sie wechselte den Job und begann auf dem Jugendamt zu arbeiten. Das war seit dem Abschluss ihres Studiums ihr Ziel gewesen.

Die ersten Wochen waren schwer für sie. Was sie als Mitarbeiterin des Jugendamtes erlebte, machte ihr zu schaffen und zu Hause konnte sie nicht darüber reden, weil sie fürchtete, Gordon könne sich angesprochen fühlen, wenn sie von gewalttätigen Männern und ihren Opfern erzählte. Obwohl sich Sarah Wilson, ihre ältere Kollegin, von Anfang an mit großer Herzlichkeit um sie kümmerte, blieb Canyon verschlossen und misstrauisch. Sie konnte und wollte nichts von sich preisgeben.

Eines Tages, sie und Gordon waren auf der Geburtstagsparty eines seiner Kollegen, erwischte sie ihn in einer dunklen Ecke, wie er eine blonde Frau umarmte und küsste. Schockiert stellte sie ihn vor allen anderen zur Rede und floh hinterher nach Hause. Sie weinte sich in den Schlaf, unglücklich und doch voller Hoffnung, dass er ihr vergeben möge.

Als Gordon einige Zeit später in ihre gemeinsame Wohnung kam, war er betrunken und raste vor Wut über die Demütigung, für die er sie verantwortlich machte. Er würgte Canyon und nötigte sie. Es war ein gewaltsamer, brutaler Akt. Erst als sie in ihrer Todesangst nach Luft japste, ließ er von ihr ab. Diesmal entschuldigte er sich nicht. Gordon Shaefer war stumm vor Entsetzen über das, was er getan hatte. Fluchtartig verließ er die Wohnung und ließ sie allein zurück.

In dieser Nacht begriff Canyon, dass sie sich von Gordon trennen musste, wenn sie ihr Leben in den Griff bekommen wollte. Sie wählte die Nummer ihrer Kollegin und zehn Minuten später stand Sarah vor der Wohnungstür, um Canyon mitzunehmen. Sarah und ihr Mann Charles bestanden darauf, Gordon anzuzeigen, aber Canyon ließ sich nicht dazu bewegen. Schließlich waren die beiden bereit, von einer Anzeige abzusehen, unter der Bedingung, dass Canyon zu ihnen zog, so lange, bis sie eine neue Wohnung gefunden hatte.

Die nächsten Tage begleitete Sarah Canyon auf Schritt und Tritt. Sie holten ihre Sachen aus der Wohnung und Sarah vermittelte ihr das Apartment, in dem sie jetzt lebte. Gordon machte sich nicht die Mühe, Canyon nachzulaufen. Diesmal hatte er die Grenze überschritten und er war klug genug zu wissen, dass er sein Versprechen, ihr nie wieder weh zu tun, nicht einhalten konnte.

Das war jetzt ein Jahr her. Seitdem war Canyon Gordon zwei- oder dreimal begegnet. Das letzte Mal bei einem Mozartabend des Thunder Bay Symphony Orchestra im Auditorium, einer modernen Konzerthalle, die über tausend Menschen Platz bot. So viele Menschen und doch liefen sie einander über den Weg, er mit einer blonden, sehr elegant gekleideten jungen Frau an seiner Seite. Sie hatten einander angesehen und gegrüßt und sie hatte nichts empfunden außer Mitleid und Bedauern. Sie hatte ihre Liebe an einen Idioten vergeudet, und das vier Jahre lang.

Diese Tatsache änderte nichts an einer anderen: Canyon fühlte sich einsam. Es gab Momente, in denen sie Gordon vermisste. Er hatte ihr eine Art Sicherheit gegeben und in seinen guten Zeiten war er ein aufmerksamer Liebhaber gewesen. Unter seinen geduldigen Händen hatte sie ihren ersten Höhepunkt erlebt. Sie erinnerte sich noch gut an jene Nacht mit ihm, in der erwartungsgemäß alles schiefgegangen war. Doch statt aufzugeben, war sein Interesse an ihr auf unerklärliche Weise gewachsen.

Seine Hartnäckigkeit hatte Canyon zu der Annahme verleitet, dass er sie wirklich lieben würde. Gordon hatte ihr Geschenke mitgebracht, war zärtlich gewesen und hatte sie nicht bedrängt. In dieser Zeit hatte sie gelernt, dass Zärtlichkeiten nicht zwingend mit dem Eindringen in ihren Körper verbunden sein mussten. Zum ersten Mal seit zehn Jahren hatte sie wieder Vertrauen zu einem Mann fassen können.

Gordon Shaefer hatte sie aus ihrem dunklen Gefängnis geführt, nur um sie später dorthin zurückzustoßen. Nun war es für sie noch schwerer, mit ihrem eigenen Körper Freundschaft zu schließen. Weil er Bedürfnisse hatte, ihr Kopf aber sagte, dass es schmerzhaft war, diesen Bedürfnissen nachzugehen. Sie wollte nicht lieben, sie wollte nur vergessen.

Canyon ließ sich auf ihre Stoffcouch fallen und stellte den Fernseher an. Mit der Fernbedienung zappte sie einmal durch alle Programme und stellte das Gerät wieder aus. Sie ging ins Bad und nahm eine Dusche, danach hockte sie sich wieder auf ihre Couch und blätterte in der Tageszeitung. Sie sah nach, ob es vielleicht einen guten Film im Kino gab. Am besten eine Komödie.

Es lief „Die Mumie II“, aber sie konnte sich nicht dazu durchringen hinzugehen. Sie konnte sich zu überhaupt nichts durchringen.

Mit angezogenen Beinen, die Arme um die Knie geschlungen, saß sie da und wiegte sich in monotonem Rhythmus vor und zurück. Dass passierte ihr manchmal, wenn die Gedanken sich vom Körper lösten. Wenn sie zurückglitt in die Vergangenheit, ohne dass sie es wollte. Wenn aus dem Heute das Gestern wurde. Dann saß sie wieder in diesem Schrank, von Dunkelheit umschlossen, wiegte ihren mageren Körper und murmelte Beschwörungsformeln.

Weil sie Angst hatte. Weil sie sich schützen wollte. Weil sie glaubte, wenn sie ihn nicht sah, würde er sie auch nicht sehen.

„Na, wie war euer Essen im Gourmettempel?“ Neugierig musterte Canyon ihre Kollegin am nächsten Morgen.

Sarah Wilson war eine untersetzte Rothaarige Ende Dreißig, mit breiten Hüften und einer Neigung zur Leibesfülle. Sie naschte für ihr Leben gern und man sah ihr nicht an, dass sie dreimal in der Woche joggte. Aber Canyon wusste es, denn manchmal liefen sie gemeinsam auf der Uferpromenade des Lake Superior.

„Oh, einfach Klasse die Küche dort“, schwärmte Sarah. „Das Mousse au Chocolat war köstlich.“ Genussvoll verdrehte sie die Augen.

Canyon lachte kopfschüttelnd. Sarah, mit der sie sich ein Büro im Gebäude des Sozialamts teilte, war eine Frohnatur. Schon seit vielen Jahren kümmerte sie sich aufopferungsvoll um Kinder, die zu Fällen des Jugendamtes geworden waren. Missbrauch, Verwahrlosung, seelische und körperliche Misshandlungen. Die Kindheit konnte auch eine Hölle sein.

Canyon, der die meisten Fälle so nahe gingen, dass sie Mühe hatte, ihr seelisches Gleichgewicht nicht zu verlieren, wunderte sich jedes Mal aufs Neue, wie Sarah diese Tragödien ertrug. Woher sie die Kraft nahm, trotz des vielen Leids ein fröhlicher Mensch zu bleiben.

Als Canyon vor anderthalb Jahren als Neuling ins Jugendamt kam, nahm Sarah sie unter ihre Fittiche und inzwischen hatte sie eine Menge gelernt von ihrer erfahrenen Kollegin: Wie man Ruhe bewahrt, obwohl man seinem Gegenüber am liebsten an die Kehle gehen würde. Wie man sich mit einer Fünfjährigen über abnorme Sexualpraktiken unterhielt, ohne dabei in Tränen auszubrechen und wie man einer Autopsie beiwohnt, ohne hinterher Alpträume zu bekommen. Dass es ratsam war, den Leuten immer einen Ausweg offen zu lassen, weil manch einer, in die Enge getrieben, zu den merkwürdigsten Reaktionen fähig war.

Meist gelang es Canyon, ihren Job auf diese Weise in den Griff zu bekommen. Doch manchmal, wenn ein Fall sie so sehr beschäftigte, dass sie Mühe hatte, wieder Boden unter den Füßen zu spüren, da fragte sie sich, ob sie diesen Beruf nur deshalb gewählt hatte, damit ihr eigenes Leid an Bedeutung verlor.

„Und wie war dein Ausflug in die Wildnis?“, fragte Sarah. Von schlechtem Gewissen ganz offensichtlich keine Spur.

„Du hättest mich vorwarnen können“, erwiderte Canyon vorwurfsvoll. „Ich war falsch angezogen.“

„Moskitos?“ Sarah verzog mitleidig das Gesicht, doch sie hatte dabei ein spöttisches Funkeln in den blauen Augen.

Canyon musste lachen. Seit jener Nacht, als Sarah sie aus Gordons Wohnung geholt hatte, war sie ihre beste Freundin und Vertraute. Sie war der einzige Mensch - abgesehen von ihrer Therapeutin - dem sie von ihrer Vergangenheit erzählt hatte. Das war ein großer Vertrauensbeweis, aber bei Sarah Wilson waren ihre Geheimnisse sicher aufgehoben.

Sollte Robert Lee Turner, der in Canyon vernarrt war, je von ihrem Kindheitstrauma erfahren, würde er ihr Befangenheit bescheinigen, sie in eine andere Abteilung versetzen und nicht mehr mit Fällen von Kindesmisshandlung betrauen. Und dabei hatte Canyon gerade zu diesen Kindern einen besonderen Draht, weil sie sich in sie hineinversetzen konnte.

Durch ihr beinahe magisches Gespür, hatte sie schon viele Male vollkommen verängstigte und verstörte Kinder zum Reden gebracht. Sie vertrauten Canyon, als ob sie fühlen könnten, dass sie jemanden vor sich hatten, der dasselbe durchgemacht hatte wie sie.

„Schwarzfliegen“, antwortete sie, „Morast und ...“

„Und was?“ Sarah zog fragend die Stirn in Falten.

„Indianer.“

Seufzend lehnte sich Sarah ihren Drehstuhl zurück. „Na komm schon, Can, du hattest schließlich nicht das erste Mal mit ihnen zu tun. Sie gehören zu unseren besten Kunden.“

„Ja ja, ich weiß. Aber die Ojibwa da draußen im Reservat sind irgendwie anders.“

„Anders? Klar sind sie anders. Ihre Welt ist eine andere. Die meisten von ihnen gehen auf die Jagd. Sie sind freie Menschen, obwohl sie im Reservat leben. Noch vor hundert Jahren durchstreiften sie als räuberische Nomaden die Wälder. Bis man sie zwang, in dauerhaften Siedlungen zu leben und ihr Dasein mit staatlichen Fürsorgeschecks zu fristen.“

„Gibt es denn gar keine Jobs für sie?“, fragte Canyon. „Ich kann mir das nicht vorstellen.“

„Schon“, erwiderte Sarah. „Wenn sie sich bereitfinden, gefährliche und gesundheitsschädigende Arbeiten im Straßenbau, den Erzminen oder der Holzwirtschaft zu übernehmen, dann haben sie Aussicht auf einen Job. Doch der überwiegende Teil von ihnen kommt nur schlecht oder überhaupt nicht mit den unwürdigen Arbeitsbedingungen zurecht und ich kann es ihnen nicht verdenken.“ Sie zuckte die Achseln. „Trotz allem geht es den Indianern im Reservat besser als ihren Stammesbrüdern hier in der Stadt, wo der Alkohol leichter zu haben ist. Und im Übrigen sind es Cree, mit denen du es diesmal zu tun hast. Dog Lake ist ein Cree Reservat.“

„Tatsächlich“, bemerkte Canyon nachdenklich. „Ich glaube nicht, dass das für den Fall relevant ist. Wie dem auch sei, ich fühlte mich irgendwie ... fehl am Platz.“

Sarah hatte recht. Den Stadtindianern war von ihrer Kultur kaum etwas geblieben. Abgeschnitten von ihrem Land und ihrer Gemeinschaft, verloren sie ihre Identität und ihren Stolz. Wenn Canyon in Thunder Bay mit Indianern oder Mischlingen zu tun hatte, wurde sie oft mit großer Armut, Alkohol und Verwahrlosung konfrontiert. Diese Menschen taten ihr leid, weil sie ihr Leben nicht in den Griff bekamen und die nächste Generation in einen Kreislauf aus Resignation und Hoffnungslosigkeit hineingeboren wurde.

Als sie in dieses Reservat gefahren war, hatte sie Ähnliches erwartet und war auf eine Welt gestoßen, die ihren Vorstellungen widersprach. Dass sie die Menschen, die dort lebten, nicht einordnen konnte, hatte sie verunsichert und unprofessionell agieren lassen.

Jem Soonias war ein Mann, der sein Leben sehr wohl im Griff hatte. Jedenfalls, bis sein kleiner Sohn auf rätselhafte Weise verschwunden war.

„Na ja“, räumte Sarah ein, „die Wildnis macht uns Stadtmenschen Angst. Wir kommen uns verloren vor in den dunklen Wäldern, während die Indianer sich dort zu Hause fühlen. Wir fürchten uns vor allem, was da kriecht und krabbelt, während sie jede noch so kleine Spinne als Bruder betrachten.“

„Ja, schon möglich. Aber der Vater des Jungen war unfähig, meinem Blick zu begegnen. Würdest du das nicht für bedenklich halten?“

„Nicht unbedingt. Das ist ihre Art, Can. Sie vermeiden längeren Augenkontakt, um ihr Gegenüber nicht zu bedrängen.“

Bedrängen?“, rief Canyon entgeistert. „Jem Soonias war nicht nur völlig unkooperativ, er hat mich total abblitzen lassen.“

„Was hast du denn erwartet?“

„Etwas mehr Entgegenkommen. Schließlich will ich ihm seinen Sohn nicht wegnehmen, nur herausfinden, wo er vielleicht sein könnte.“

„Jem Soonias hat schlechte Erfahrungen mit dem Jugendamt gemacht, vielleicht war er deshalb so abweisend. Und außerdem: Das Kind zu suchen, ist Sache der Polizei, Canyon. Lass Inspektor Harding seine Arbeit machen und kümmere dich um die Aktenberge, die auf deinem Schreibtisch liegen.“

Canyon richtete sich auf. „Wo ist die Akte über den Fall Soonias eigentlich abgeblieben?“

Sarah wies mit ihrem Kuli auf einen Ordner, der auf Canyons Schreibtisch lag. „Im Übrigen erinnere ich mich noch sehr gut an den Fall. Ich war ein Frischling wie du und damals war es noch ungewöhnlich, dass sich ein Indianer in einem Sorgerechtsfall einen Anwalt nimmt.“ Sie klopfte mit dem Kuli gegen ihre schiefen Schneidezähne. „Wir hatten vor, den Jungen in einer indianischen Pflegefamilie unterzubringen. Er war ein winziger Säugling und niemand traute Jem Soonias zu, dass er das alleine packt. Aber er hatte einen guten Anwalt. Er bekam das Sorgerecht für den Jungen und hat ihn schließlich adoptiert. Ein paar Mal war noch jemand von uns draußen im Reservat, um nach dem Rechten zu sehen. Es hat keine Beanstandungen gegeben.“

„Was ist mit dir?“, fragte Canyon. „Warst du damals auch draußen in Dog Lake gewesen.“

Sarah nickte. „Ja. Zusammen mit einem Kollegen.“

„Und?“

„Ich fand, dass Jem Soonias nicht nur ein guter, sondern auch ein verdammt gut aussehender Vater war. In seiner Trauer und seinem Zorn, der ja durchaus berechtigt war, wirkte er wie eine tragische Gestalt. Wenn ich damals Charlie nicht schon gehabt hätte ...“ Sarah seufzte theatralisch.

Canyon verdrehte die Augen. „Wer hat sich eigentlich um Stevie gekümmert, während sein Vater arbeitete?“

„Seine Oma. Soonias Eltern leben auch in der Siedlung. Elsie Soonias war damals schon Mitte fünfzig und ihr Mann Jakob gerade sechzig geworden. Aufgrund ihres Alters haben wir sie als Pflegeeltern nicht in Betracht gezogen. Zugegeben, heute sehe ich auch einiges anders als damals.“ Sarah klopfte mit dem Kuli auf die Tischplatte. „Natürlich wäre es idiotisch gewesen, den Jungen zu fremden Menschen zu geben, wenn er einen Vater hat, der ihn liebt und eine Familie, die sich um ihn kümmern kann.“

„Wir versuchen doch nur, das Beste für diese Kinder zu tun“, warf Canyon ein.

„Natürlich.“ Stimmte Sarah ihr zu. „Aber das Beste ist vielleicht nicht immer das Richtige. Armut und Verwahrlosung gibt es schließlich überall, Can, auch unter uns Weißen. Aber was die Indianer angeht, tragen wir eine gewisse Schuld und die sitzt uns jedes Mal im Nacken, wenn wir mit ihnen zu tun haben. Sixties Scoop gilt zwar inzwischen als historischer Faktor“, sagte sie, „aber wie es aussieht, haben wir auf dem Jugendamt auch heute noch jeden Tag mit den hässlichen Auswirkungen des Programms zu tun.“

Sixties Scoop war jedem kanadischen Sozialarbeiter ein Begriff. Das Assimilationsprogramm war bis in die achtziger Jahre hinein praktiziert worden. Über zwei Jahrzehnte hinweg hatte man in Kanada überdurchschnittlich viele indianische Kinder ihren Familien entrissen und bevorzugt an weiße Mittelklassefamilien zur Adoption freigegeben. Damals war auf den Adoptionspapieren bewusst darauf verzichtet worden, die leiblichen Eltern mit Namen zu nennen. Auf diese Weise sollten die Kinder daran gehindert werden, später etwas über ihre indianischen Eltern herauszufinden. Meist wurde ihnen erzählt, sie wären italienischer oder griechischer Abstammung, deshalb das schwarze Haar und die dunkle Haut.

Man wollte diesen eingeborenen Kindern ein privilegiertes Leben ermöglichen, aber dadurch verloren sie den Zugang zu ihrem kulturellen Hintergrund und büßten außerdem ihren Status als Indianer ein. Der Schaden, der dadurch an Leib und Seele dieser Kinder angerichtet wurde, hatte schlimme Folgen. Nur die Wenigsten von ihnen führten heute ein normales Leben. Sie gaben ihr Trauma an ihre Kinder und Kindekinder weiter.

Erst der Indian Child Welfare Act von 1978 stellte sicher, dass Indianerkinder nicht mehr aus dem Zuständigkeitsbereich des Stammes entfernt und von weißen Familien adoptiert werden durften. Doch der Stachel der Bitterkeit über die verlorenen Kinder saß auch heute noch tief im Gedächtnis der Ureinwohner.

„Ja“, sagte Canyon. „Viele von ihnen denken immer noch, dass wir ihnen ihre Kinder wegnehmen und Weiße aus ihnen machen wollen. Diese Angst sitzt in ihren Köpfen und wird an die nächste Generation weitervererbt. Ich fürchte, in Jem Soonias Augen bin ich ein Monster, das es auf seinen Sohn abgesehen hat.“

Sarah lachte herzlich über Canyons unglückliches Gesicht. „Nun mach mal halblang“, sagte sie, „so schlimm wird es schon nicht sein. Ich nehme an, Stevies Vater kennt die Gesetze und seine Rechte sehr genau. Aber wenn ich mich voller Verzweiflung an die Polizei wende, weil mein Kind verschwunden ist, und man mir gleich jemanden vom Jugendamt vorbeischickt, wäre ich auch sauer.“

„Ja, aber das ist der übliche Weg“, rechtfertigte sich Canyon. „So sind nun mal die Vorschriften.“

„Ich weiß. Aber möglicherweise wusste Jem Soonias das nicht.“

Canyon murmelte etwas Unverständliches und ließ sich hinter ihrem Schreibtisch nieder. Sie klappte die Akte auf und las. Jem Soonias, Statusindianer und Angehöriger der Woodland Cree, war vierunddreißig Jahre alt und hatte einen tadellosen Lebenslauf.

Aufgewachsen im Reservat, war er seit seinem vierzehnten Lebensjahr auf eine Internatsschule in Kenora gegangen, hatte später ein College in derselben Stadt besucht und war als junger Lehrer in sein Reservat zurückgekehrt. Er unterrichtete Englisch, Stammessprache und amerikanische Geschichte an der High-School von Nipigon. Das entsprach dem, was er ihr erzählt hatte.

Ein Jahr nach dem Tod von Stevies Mutter hatte er nach einem erbitterten Kampf das Sorgerecht für seinen Sohn erhalten und ihn adoptiert. Seitdem hatte das Jugendamt nichts mehr mit den beiden zu tun gehabt. Bis gestern. Jem Soonias hatte telefonisch die Stammespolizei in Nipigon verständigt, weil er seinen Sohn Stevie nirgendwo finden konnte. Constable Miles Kirby hatte sich an das Police Department von Thunder Bay gewandt und Inspektor Harding hatte das Jugendamt verständigt.

„Soonias glaubt an eine Entführung“, bemerkte Canyon nachdenklich. „Aber warum sollte jemand einen Indianerjungen entführen?“

Sarah hob die Schultern. „Was weiß ich. Vielleicht weil er ein hübscher Bursche ist und irgendeiner weißen Frau gefallen hat, die selbst keine Kinder bekommen kann. Wahrscheinlich hat sie noch nichts vom Indian Child Welfare Act gehört und dachte sich, dass die Eltern des Jungen vielleicht froh sind, einen Esser weniger am Tisch zu haben.“

Canyon musste lachen. „Du guckst zu viel Fernsehen, meine Liebe. Solche Leute wollen nur niedliche Babys mit großen dunklen Augen und keine halbwüchsigen Wilden. Stevie ist neun und liebt die Wildnis. Einer wie er lässt sich nicht irgendwo ein neues Leben aufzwingen, das er nicht will.“

„Vielleicht gefällt es ihm ja, wo er jetzt ist. Vielleicht ist er freiwillig mitgegangen.“

„Das glaube ich nicht, Sarah. Es sah alles nach einem ziemlich intakten Zuhause aus. Immerhin hat der Junge jemanden, der will, dass er gefunden wird.“

„Na wunderbar.“

„Aber wo ist Stevie?“

Sarah winkte ab. „Dir darüber den Kopf zu zerbrechen, ist nicht dein Job. Das ist Sache der Polizei. Du bist erst gefragt, wenn der Junge wieder auftauchen sollte. Falls er denn jemals wieder auftauchen sollte.“

Davon wollte Canyon nichts hören. Viel zu oft kam es vor, dass Kinder verschwanden und nie gefunden wurden. Was nicht unbedingt bedeuten musste, dass sie tot waren. Manche liefen von Zuhause weg und trieben sich irgendwo in großen Städten auf den Straßen herum. Wenn sie es schafften, nicht von der Polizei aufgegriffen zu werden, bekam die Familie manchmal jahrelang kein Lebenszeichen von ihnen.

Es gab Entführungsfälle, bei denen die Kinder, wenn sie sehr klein waren, ihre richtigen Familien vergaßen und unter neuem Namen ein völlig anderes Leben führten. Aber es gab auch genug Fälle, in denen die Kinder deshalb nicht gefunden wurden, weil sie tot waren. Missbraucht und irgendwo verscharrt, wo sie vielleicht nie jemand finden würde. Kanada war ein großes Land und bot viele Möglichkeiten, für immer zu verschwinden oder verloren zu gehen.

„Ich hoffe sehr, dass der Junge schnell wieder auftaucht, sein Vater dreht sonst durch.“ Sie seufzte, schloss die Mappe und wandte sich jenem Fall zu, der ihre Abteilung in den letzten Wochen in Atem gehalten hatte. Gestern hatte der Prozess stattgefunden und Canyon musste noch einen Abschlussbericht über den Fall schreiben.

Ein zweiundsechzigjähriger Mann war beschuldigt worden, seine drei minderjährigen Stiefenkeltöchter über Monate und Jahre hinweg missbraucht zu haben. Eine Lehrerin hatte den Mann angezeigt, nachdem ihr eines der Mädchen Dinge erzählt hatte, die der Frau die Haare zu Berge stehen ließen.

Der Mann wurde festgenommen und leugnete zunächst hartnäckig. Doch nach und nach kam die ganze furchtbare Wahrheit ans Licht. Die Mutter der Mädchen, die seit Jahren von Sozialhilfe lebte, hatte ihre Töchter im Alter von acht, zehn und zwölf Jahren regelmäßig gegen Geld und Lebensmittel an Bekannte und Verwandte zur Prostitution angeboten. Unter anderem auch an ihren eigenen Stiefvater. Monatelang waren die Mädchen einem unvorstellbaren Martyrium ausgesetzt gewesen, bevor sich die Älteste ihrer Lehrerin anvertraut hatte, die mit einem Anruf bei der Polizei dem Ganzen ein Ende bereitete. Mutter und Großvater kamen in Untersuchungshaft. Die drei Mädchen brachte man in einem staatlichen Heim, wo sie darauf warteten, von einer Pflegefamilie aufgenommen zu werden. Die drei Geschwister waren in psychologischer Behandlung und sollte auf jeden Fall zusammen untergebracht werden.

Canyon hatte mit den Mädchen gesprochen und erfahren, dass sie einander immer wieder Mut gemacht hatten. Die älteste Schwester, die Zwölfjährige, hatte nicht mehr ertragen können, wie ihre kleinen Schwestern litten. Das war schlimmer gewesen als ihr eigenes Leid. Deshalb war sie zu ihrer Lehrerin gegangen, obwohl der Großvater ihr gedroht hatte, sie in den Superior zu werfen, wenn sie irgendjemandem erzählen würde, was er mit ihr und ihren Schwestern machte. Das Mädchen konnte nicht schwimmen und hatte panische Angst vor dem Ertrinken. Ihr Mut war bewundernswert.

Gestern hatte die Mutter der Mädchen ein Geständnis abgelegt, um ihren Töchtern einen Auftritt vor Gericht zu ersparen. Unter Tränen hatte sie von ihrer eigenen traurigen Kindheit berichtet. Dem sexuellen Missbrauch durch ihren Stiefvater und einem ihrer Brüder, sowie von langen Jahren in Kinderheimen.

Nicht selten benutzten Angeklagte Misshandlungen, die ihnen selbst in ihrer Kindheit widerfahren waren, als eine Art Entschuldigung. Sexueller Missbrauch war eine Krake, die immer neue Arme ausbildete. Manche Menschen waren in einem schrecklichen Zuhause aufgewachsen und später erschufen sie diese Hölle neu: für ihre eigenen Kinder. Der sexuelle Missbrauch wurde von einer Generation an die nächste weitergegeben, als gäbe es keinen anderen Ausweg. Doch Canyon wusste, dass es einen gab.

Gewalttätigkeit war kein Zustand, der einem auferlegt wurde, weil man selbst misshandelt worden war. Wie oft beriefen sich Verteidiger darauf, doch Canyon kannte dafür kein Verständnis.

Manchmal schien es ihr, als wüsste sie über alle Möglichkeiten der Grausamkeit Bescheid, hätte alles schon einmal gehört oder gesehen. Doch dann lag ein neuer Fall auf ihrem Tisch und sie sah sich mit einer neuen Art von Gewalt gegenüber Kindern konfrontiert. Physische oder psychische Demütigungen, es schien nichts zu geben, was es nicht gab.

Das war der Grund, warum Canyon ihren Job nicht hinschmiss und sich einen anderen Broterwerb suchte, einen, der sie nicht jeden neuen Tag einen Blick in die Finsternis der Hölle werfen ließ. Die drei Mädchen hatten einander gehabt und so die Kraft gefunden, sich aus dem Teufelskreis von Abhängigkeit, Angst und Missbrauch zu befreien. Canyon hatte damals niemanden gehabt, nicht einmal ihre eigene Mutter hatte ihr geglaubt. Und es gab andere wie sie. Kinder, die niemanden hatten, dem sie sich anvertrauen konnten, niemanden, der ihnen Kraft gab, sich zu wehren.

Für diese Kinder wollte sie da sein. Deshalb setzte sie von Montag bis Freitag jeden Morgen ihren Fuß in dieses Büro und war bereit alles zu geben, wenn Robert Lee seinen Kopf zur Tür hereinschob und sagte: „Ich habe da eben einen Anruf bekommen, meine Damen. Hier ist die Adresse. Und beeilen Sie sich.“

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