Читать книгу Die Suche - Antje Babendererde - Страница 4

2.

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Nach wenigen Minuten erreichten sie die Indianersiedlung am Dog Lake, die größer war, als Canyon zuerst angenommen hatte. Es war eine Ansammlung von rund dreißig Holzhäusern in pastellfarbenem Einheitsanstrich, verstreut zwischen Bäumen und zerzausten Sträuchern, die langsam grün wurden. Windschiefe Bretterschuppen klebten an den Häuserwänden, alte Autos standen davor und hier und da rostete ein Skidoo, ein Motorschlitten, vor sich hin. Zwischendrin bunte Wäschestücke, die zum Trocknen auf der Leine hingen und Stangengerüste, auf denen Fisch dörrte.

Neben einem der Häuser stand ein großes, mit ausgebleichtem Segeltuch bespanntes Tipi, das mit stilisierten Tierfiguren bemalt war und sie daran erinnerte, wo sie sich befand.

Auf dem Dorfplatz gab es einen kleinen Gemischtwarenladen auf dem Dorfplatz, der sich „Pinkies Store“ nannte. Es war ein einfaches Holzhaus mit vergitterten Fenstern, von dessen Bretterwänden die weiße Farbe blätterte. Ein holpriger Bohlensteg führte zum Eingang, Schilder mit Pepsi- und Eiscremewerbung prangten über der offenen Tür. Die dunkle Erde auf dem Dorfplatz war aufgeweicht und schlammig, aber über den Steg kam man vom Ufer des Sees trockenen Fußes bis zum Laden. Dunkelhäutige Kinder saßen auf den Stufen vor dem Eingang, leckten Eis am Stiel und gestikulierten lachend. Ihre bunten Fahrräder hatten sie achtlos im Morast liegengelassen.

Vielleicht war Stevie da drinnen und kaufte sich gerade ein Eis. Vielleicht hatte er vergessen, dass sein Vater mit ihm ins Kino gehen wollte. Canyon bremste und stellte den Motor ab. Sie machte Anstalten auszusteigen, um die Kinder nach dem Jungen zu fragen. Doch Jem Soonias hielt sie mit festem Griff am Arm zurück.

„Die Mühe können Sie sich sparen, Miss“, sagte er. „Ich habe bereits überall in der Siedlung herumgefragt. Stevie ist nicht hier. Glauben Sie mir, ich hätte die Polizei nicht herbemüht, wenn ich nicht sicher gewesen wäre, dass etwas nicht stimmt.“

Er zeigte auf ein Holzhaus am Waldrand mit weißen Fensterrahmen und Dachrändern, das sich durch seinen kräftig gelben Anstrich von den anderen Häusern unterschied. „Dort hinten wohnen wir.“

Sein energischer Griff war Canyon unangenehm und sie war erleichtert, als er sie wieder losließ. Schon spürte sie dieses unangenehme Kribbeln unter der Haut, dort, wo er sie berührt hattee. Sie brachte den Toyota neben einem schlammbespritzten Jeep Cherokee mit Pseudoholzleisten zum Stehen und wandte Jem ihr Gesicht zu. „Sind Sie verheiratet, Mr Soonias?“

„Nein“, antwortete er unwirsch. Die Gereiztheit war wieder da.

Jem stieg aus, schlug die Wagentür zu und betrat die Stufen zum Hauseingang. Canyon bemerkte, dass er auf ihrem Blazer gesessen hatte, der jetzt zerknittert auf dem Beifahrersitz lag. Sie holte ihre Tasche vom Rücksitz und folgte dem Indianer über die Treppe aus Holzbohlen zur Tür. Mit einer Hand hielt sie sich am abgegriffenen Geländer fest. Jem Soonias offene Ablehnung verunsicherte sie mehr, als sie sich eingestehen wollte. Sie fühlte sich unwohl, konnte aber das Indianerdorf nicht verlassen, bevor sie ihre Aufgabe erledigt hatte. Sonst würde Robert Lee sie noch einmal hierher schicken und das wollte sie auf jeden Fall vermeiden.

„Haben Sie eine Partnerin, Mr Soonias? Jemanden, der bei Stevie in den vergangenen Jahren die Mutterrolle übernommen hat?“

Jem wandte sich um und betrachtete Canyon von oben herab. Er blinzelte gegen das Licht der Abendsonne.

„Das geht Sie nichts an, Miss Toshiro“, sagte er. „Ich habe die Polizei verständigt, weil mein Sohn verschwunden ist. Und was passiert: Man hetzt mir das Jugendamt auf den Hals.“ Unbewusst drohte er ihr mit der Faust. „Ich bin Lehrer, verdammt noch mal. Ich arbeite mit Kindern und lasse sie nicht verschwinden.“ Er wandte sich um, klappte das Fliegengitter zurück und öffnete die Tür, die in der Regel unverschlossen blieb.

„Lassen Sie Ihr Haus immer offen stehen?“

Jem war kurz davor, Canyon mit harten Worten zum Schweigen zu bringen, oder schlimmer noch, ihr unmissverständlich klarzumachen, wie dämlich er sie fand. Aus ihrem Mund waren bisher nur Fragen gekommen, die zugleich auch Vorwürfe waren. Er bückte sich und zog seine Halbstiefel aus. Nutzte die Zeit, um seinen Zorn zu bändigen.

„Hat diese Frage auch etwas mit Stevies Verschwinden zu tun?“

„Ja“, meinte sie. „Irgendwie schon.“

Jem seufzte. „Aber er ist da draußen verschwunden und nicht aus diesem Haus entführt worden.“ Seine Geduld war am Ende und er wurde von einer tiefen Niedergeschlagenheit erfasst. Jem hatte dieser Frau und ihren Fragen nichts mehr entgegenzusetzen.

„Sie glauben, er wurde entführt?“

Er hob die Arme zu einer ratlosen Geste. „Eine andere Erklärung habe ich nicht. Stevie war am Vormittag draußen in seiner Höhle, zumindest hat er mir das so gesagt. Er sollte gegen 12 Uhr zu Hause sein, wir wollten zusammen bei meinen Eltern essen. Um 14 Uhr hätte die Kinovorstellung begonnen.“

Die Tür zu Stevies Zimmer stand offen. Er ging hinein und knipste das Licht an. „Als Stevie um 14 Uhr immer noch nicht zu Hause war, fing ich an mir Sorgen zu machen und bin raus zur Höhle gefahren. Ich habe überall nach ihm gesucht, aber er war nicht da. Nirgends. Sein Fahrrad auch nicht. Da habe ich Miles Kirby in seiner Dienststelle in Nipigon angerufen.“

„Und Sie haben nicht ein einziges Mal in Erwägung gezogen, dass Ihr Sohn sich verlaufen haben könnte?“

„Natürlich habe ich daran gedacht. Aber Stevie kennt sich bestens aus da draußen. Er hat sich noch nie verlaufen. Und er hätte wohl kaum sein Fahrrad mit in den Busch genommen.“

Canyon nickte, als würde sie ihm mit dieser Überlegung recht geben. Auch sie schlüpfte aus ihren Schuhen, doch als sie feststellte, dass ihre Füße schwärzer waren als die Sohlen ihrer Slipper, zog sie sie schnell wieder an. Wenn alles nicht so furchtbar gewesen wäre, hätte Jem darüber lachen können.

Canyon war schon in unzähligen Kinderzimmern gewesen und die meisten hatten eines gemein: Die kreative Unordnung, mit der Kinder ihr eigenes Reich zu verzaubern wussten. Stevies Zimmer war eine Räuberhöhle und sein Sinn für Ordnung entsprach dem eines normalen neunjährigen Jungen. Kleidungsstücke lagen wahllos verstreut auf zwei Stühlen und auf dem Bett an der Wand.

Auf dem Bett, das zur Hälfte von einem bunten Star-Quilt bedeckt war, lagen auch noch andere Sachen: verschieden große, seltsam geformte Steine, ein Vogelnest, gefüllt mit schillernden Glasmurmeln und ein Paar neue Turnschuhe. Unter dem Kopfkissen lugte der gestreifte Schwanz eines Plüschwaschbären hervor.

Die übrige Einrichtung des Zimmers bestand aus einem abgeschabten Sessel, einem Bücherregal und einem Kleiderschrank, der offen stand. Das Chaos in seinem Inneren war Canyon kein ungewohnter Anblick. Sie lächelte in sich hinein. Wenn Jem Soonias davon überzeugt sein sollte, dass die Unordnung im Kinderzimmer ihm Minuspunkte als Vater einbringen würde, so irrte er. Dies war ein reiner Männerhaushalt, der gut funktionierte, das würde sie in ihrem Bericht berücksichtigen.

Und doch war das Zimmer dieses Jungen anders als jene, die sie bisher gesehen hatte. Keine Plakate mit Popstars an den Wänden, keine Konterfeis von Baseballhelden. Dafür eine große Landkarte der Provinz Ontario, auf der einige Gebiete mit einem Rotstift besonders hervorgehoben waren. Nirgendwo Kriegsspielzeug aus Plastik, kein Nintendo. Dafür waren Stevies Schreibtisch und das Regal darüber angefüllt mit Dingen, die jede Mutter zur Verzweiflung getrieben hätten und irgendwann dem Hausputz zum Opfer gefallen wären: ein Marmeladenglas mit vertrockneten Grillen und Schlangenhäute in den verschiedensten Stadien des Verfalls. Leere Hornissennester; runde, graue, papierartige Gebilde. Ein mumifizierter Frosch und Schädelknochen verschiedener Kleintiere. Von der Decke hingen selbstgebaute Fabeltiere aus Wurzeln, Steinen und Federn.

Ein merkwürdiger Bau aus zwei Stühlen und Holzstangen, darüber zwei dunkle Wolldecken gelegt, weckte Canyons Aufmerksamkeit.

„Stevies Höhle“, beantwortete Soonias ihre unausgesprochene Frage. „Er liebt Höhlen.“

Canyon versuchte, sich aus den spärlichen Sätzen des Mannes und dem, was sie sah, etwas zusammenzureimen. Stevie hatte draußen im Wald eine Höhle und er hatte eine in seinem Zimmer. Musste der Junge sich vor etwas verstecken? So wie sie sich mit zwölf im Kleiderschrank versteckt hatte, weil sie sich fürchtete? Warum liebte Stevie Soonias die Dunkelheit und das Alleinsein? Gab es irgendetwas, das falsch war an dem, was sie sah?

Canyon setzte sich auf das Bett des Jungen und betrachtete ein Foto auf seinem Nachtschrank, das ihn zusammen mit seinem Vater zeigte. Stevie lachte in die Kamera. Er war ein ausnehmend hübscher Junge mit feinen Gesichtszügen, ausdrucksvollen dunklen Augen und langem Haar, das ihm über die Schultern fiel. Sie wollte nach dem Bild greifen, um es sich genauer anzusehen, als plötzlich ein felliges Ungeheuer mit ärgerlichem Gezeter hinter dem Kopfkissen hervorschoss. Sie schrie erschrocken auf. Mit zusammengepressten Knien und angehobenen Füßen verharrte sie regungslos.

„Das war bloß Edgar, Stevies Waschbär“, bemerkte Soonias spöttisch. „Sie haben ihn bei seinem Nickerchen gestört.“

Hätte Canyon Jems Lächeln sehen können, hätte sie gewusst, dass er nicht so war, wie sie ihn einschätzte. Aber sie sah dem Tier nach, das mit erhobenem Schwanz beleidigt davonzog.

„Edgar Wallace?“, wollte sie wissen, nachdem sie ihre Füße wieder auf den Boden gesetzt und mit einem geübten Blick den Bücherstapel auf Stevies Nachtschrank inspiziert hatte.

„Nein, Edgar Allen Poe.

„Ist Stevie nicht noch ein bisschen jung für solche Lektüre?“

„Stevie liest eben andere Sachen als die meisten Jungen in seinem Alter.“ Er griff sich ein Buch aus dem Regal. „Sehen Sie: Hemingway.“

„Haben Sie ihm diese Bücher empfohlen?“

„Ich gebe Tipps, nichts weiter. Er liest, was ihn interessiert. Nipigon hat eine kleine Bibliothek.“

Weil Canyon inzwischen auch einen großen Stapel Comichefte auf dem Fußboden entdeckt hatte, und Spiele wie Scrabble und Monopoly, hielt sie Poe und Hemingway nicht mehr für besorgniserregend.

„Ist Stevie gut in der Schule?“

Jem zuckte die Achseln. „Seine Noten sind in Ordnung.“

„Hat er Pläne für die Zukunft?“

Jem Soonias bedachte sie mit gerunzelter Stirn. „Er ist erst neun.“

„In seinem Alter wollen Jungs Fußballstar werden oder Feuerwehrmann – etwas in der Art.“

„Stevie möchte Arzt werden“, sagte er. „Weil er verhindern will, dass Mütter sterben, nachdem sie ihr Kind zur Welt gebracht haben.“

Canyon spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. Auf Distanz bleiben. „Welche Fächer unterrichten Sie eigentlich, Mr Soonias?“, fragte sie so unbeirrt wie möglich.

„Englisch, Stammessprache und amerikanische Geschichte.“

„Macht Ihnen Ihr Beruf Freude?“

„Natürlich“, erwiderte Jem verwundert. „Sonst hätte ich mir längst einen anderen gesucht.“ Er verschränkte die Arme vor der Brust. „Hat diese Frage auch etwas mit Stevies Verschwinden zu tun?“

„Nein“, sagte sie. „Das hat mich persönlich interessiert.“ Sie stand auf, ging zum Fenster und blickte auf den Dorfplatz hinaus, wo ein paar Kinder mit Stöcken barfuß einem Ball hinterher jagten. Die Jungen und Mädchen waren von oben bis unten mit Schlamm bespritzt und schienen sich herrlich zu amüsieren. Ihr Lachen hörte sich gut an, irgendwie tröstlich. Eine bunte Hundemeute rannte ebenfalls dem Ball hinterher und begleitete das Spiel mit aufgeregtem Bellen.

„Was ist mit Freunden?“ Sie wandte sich um und strich sich eine Strähne ihres schulterlangen Haares aus der Stirn. „Hatte Stevie viele Freunde?“

Jems Gesicht wurde auf der Stelle wieder abweisend. „Was heißt hatte? Und wie kommen Sie darauf, dass er keine Freunde haben könnte?“

„Nun, Stevie fährt mit dem Rad fast zwei Kilometer, um in seinem eigenen Reich zu spielen, wo doch alle seine Altersgenossen hier auf dem Dorfplatz herumtoben.“

„Manchmal ist er lieber allein.“

„Ist Stevie beliebt bei den anderen Kindern? Hat er Feinde?“

„Feinde?“ Jem sah sie entgeistert an. „Wie kann ein neunjähriger Junge Feinde haben?“

Sie hob die Schultern. „Sich unbeliebt machen, ist ziemlich einfach.“

„Ich glaube nicht, dass Stevie Feinde hat. Mag sein, dass er ein wenig eigenbrötlerisch ist, aber mein Sohn ist ein freundlicher Junge und die anderen Kinder haben ihn immer mit Respekt behandelt. Jedenfalls hat er sich nie beschwert.“

Canyon betrachtete ihn von der Seite. Bring es hinter dich. „Sind Sie ein guter Vater, Mr Soonias?“

Jem schien einen Moment zu brauchen, um diese Frage zu verarbeiten. Sein Körper verspannte sich und seine schwarzen Augen funkelten zornig. „Warum sparen wir uns dieses Gespräch nicht einfach, Miss Toshiro, und Sie sagen mir, was Sie wirklich denken. Mein Sohn ist verschwunden und das Letzte, was ich gebrauchen kann, ist jemand, der mir die Schuld dafür in die Schuhe schieben will. Glauben Sie, ich hätte Stevie vernachlässigt und er ist davongelaufen? Gibt es einen Verdacht gegen mich?“

„Das habe ich nicht gesagt“, verteidigte sie sich. „Aber wir müssen die Möglichkeit, dass er davongelaufen sein könnte, genauso in Betracht ziehen, wie alles andere.“

In den meisten Fällen waren Kinder, die als vermisst gemeldet wurden, von zu Hause weggelaufen. Manchmal waren die Gründe offensichtlich, manchmal aber auch nicht. Stevie war erst neun, deshalb schien Canyon diese Möglichkeit nicht sehr wahrscheinlich. Es sei denn, der Junge war vor etwas davongelaufen, dass ihn quälte und dass er nicht mehr ertragen konnte. Danach sah es zunächst einmal nicht aus, aber der Schein konnte trügen. Meist spürte Canyon sehr schnell, ob sie es mit einem Ausreißer zu tun hatte, oder ob ein Verbrechen vorlag. Anhand des Zimmers, des Fotos und Stevies persönlicher Sachen versuchte sie, die Gegenwart des Jungen zu erspüren. Doch diesmal versagte ihre Intuition. Dieser Fall war anders als alle, die sie bisher bearbeitet hatte.

„Und was gibt es Ihrer Meinung nach noch für Möglichkeiten?“, wollte Jem wissen.

Er war ihr unangenehm nahe gekommen und seine erneut aufkeimende Aggressivität hielt sie für ein schlechtes Zeichen. Canyon bekam Angst, dass er sich in seinem Zorn vergessen könnte. Gerne hätte sie sich auch noch die anderen Räume des Hauses angesehen, vor allem die Küche, hielt das aber im Augenblick für keinen guten Zeitpunkt.

Canyon wandte sich zum Gehen und mit einem letzten Rest Beherrschung in der Stimme fragte sie: „Gibt es da draußen wilde Tiere?“

Jem Soonias lachte kopfschüttelnd und diesmal war sein Lachen kalt und abweisend. Er folgte ihr durch den Flur. „Ja klar, Wölfe und Bären.“ Bevor Canyon die Haustür öffnen konnte, schnappte er sie am Arm und instinktiv versteifte sich ihr Körper. Die Stelle, an der er sie festhielt, begann zu kribbeln und wurde taub. Eine Fühllosigkeit, die sich auf ihren ganzen Körper auszubreiten drohte.

Canyon bereute es, den Mann so in die Enge getrieben zu haben. Das war eigentlich nicht ihre Art, denn mit solchen Situationen hatte sie schlechte Erfahrungen gemacht.

Einmal, ganz zu Beginn ihrer Tätigkeit im Jugendamt, hatte ein aufgebrachter Vater sie als Geisel genommen. Sie hatte den Mann im Gespräch verdächtigt, seine kleine Tochter krankenhausreif geprügelt zu haben. Er schloss Canyon im Badezimmer ein und drohte damit, sie nicht eher gehen zu lassen, bis man öffentlich seine Unschuld erklärte. Canyon war erst seit einem Monat beim Jugendamt angestellt und ihr fehlte die Erfahrung.

Robert Lee hatte den Forderungen des Mannes nachgegeben, weil er um Canyons Sicherheit fürchtete. Später hatte sich herausgestellt, dass der Mann seine siebenjährige Tochter über Jahre hinweg geschlagen hatte.

Seitdem war Canyon vorsichtiger geworden. Und misstrauisch war sie sowieso. Jems zorniges Gesicht näherte sich ihrem und sie wich zurück ins Dunkel des Flures.

„Kein wildes Tier hat Stevie etwas getan und ist danach mit seinem Fahrrad verschwunden“, sagte er mit gepresster Stimme. „Das ist einfach lächerlich.“

Plötzlich sprang die Haustür auf und Jem ließ Canyon abrupt los. Beinahe wäre sie gefallen, fing sich jedoch wieder. Licht drang in den Korridor und eine Frau stand vor ihnen, die ungefähr in Jems Alter sein musste. Mitte dreißig, schätzte Canyon, vielleicht auch ein oder zwei Jahre jünger.

Die Indianerin fixierte sie mit einem scharfen Blick kalter Neugier. Sie war groß, einen ganzen Kopf größer als Canyon. Die sinkende Sonne im Rücken, schien ihr langes schwarzes Haar wie von einer rötlichen Aura umgeben. Ihr Blick streifte Canyons Dienstmarke und ein feindseliger Ausdruck schlich in ihre Augen.

Canyon schluckte beklommen. Irgendetwas Seltsames schien von dieser Frau auszugehen, etwas, das ihr mehr Angst einjagte, als Jem Soonias Zorn. Das Ganze lief aus dem Ruder und sie wollte nichts als weg von diesem Ort, an dem sie nicht willkommen war.

„Ranee!“ stieß Jem hervor. „Ich dachte, du bist in Kenora?“

„War ich auch. Aber was ist eigentlich hier los? Mir sind Polizeifahrzeuge entgegengekommen.“

„Stevie ist verschwunden.“

„Was sagst du da?“

„Er war draußen bei seiner Höhle und ist nicht nach Hause gekommen.“

„Das ist ja furchtbar.“ Die Stimme der Frau klang mitfühlend, aber Canyon war wachsam.

Sie stand zwischen den beiden und fühlte auf einmal ein seltsames Vibrieren in der Brust. Als wäre sie in ein Magnetfeld geraten und eine negative Energie würde durch sie hindurch strömen. Etwas Magisches verband diese beiden Menschen. Ihr wurde schlagartig klar, dass die Indianerin Jem Soonias Geliebte war.

Canyon trat einen Schritt zur Seite, um dem Energiefeld zu entkommen. „Sind Sie eine Freundin von Mr Soonias?“, fragte sie, als sie ihre Beherrschung wiedergefunden hatte.

Die Frau ignorierte ihre Frage.

„Ranee Bobiwash“, sagte Jem an ihrer Stelle. „Ranee ist Künstlerin und wohnt drüben in Nipigon. Gelegentlich hält sie Workshops in der Schule, an der ich unterrichte.“

Canyon blickte zu Ranee auf. Ein ovales Gesicht mit hohen Wangenknochen, braune Haut und schräge Augen. Sie waren jedoch nicht dunkel, wie sie zuerst geglaubt hatte. Ranees Augen waren moosgrün.

„Und wer sind Sie?“, fragte die Indianerin.

Obwohl Canyon wusste, dass Ranee die Dienstmarke an ihrer Bluse registriert hatte, antwortete sie: „Canyon Toshiro, Sozialarbeiterin vom Jugendamt in Thunder Bay. Ich musste Mr Soonias ein paar Fragen stellen. Haben Sie vielleicht eine Ahnung, wohin der Junge verschwunden sein könnte?“

Die Indianerin schüttelte langsam den Kopf. „Nein. Keine Ahnung?“

Canyon hatte kein Entgegenkommen erwartet von dieser Frau, die sich so eigenartig benahm. Man konnte nie wissen, was Indianer dachten oder warum sie etwas taten. Ihre Gefühlswelt schien eine vollkommen andere zu sein und bisher war Canyon noch nicht dahintergekommen, wie diese Welt funktionierte.

Sie wandte sich dem Vater des Jungen zu, zog ihre Visitenkarte aus ihrer Tasche und reichte sie ihm. „Wenn Ihnen noch etwas einfällt, das von Wichtigkeit sein könnte, Mr Soonias, oder wenn Sie merken, dass in Stevies Zimmer etwas fehlt, dann rufen Sie mich an. Ich werde versuchen, Ihnen zu helfen.“

Canyon wusste nicht, warum sie das gesagt hatte. Vielleicht, damit sie schnell fortkonnte aus dieser Welt, die ihr fremd und unheimlich vorkam. In Wirklichkeit konnte sie nichts tun und sie zweifelte sogar daran, dass ihre Anwesenheit tatsächlich von Nutzen gewesen war. Sollte die Polizei sich um die Sache kümmern, dafür war sie schließlich da. Es gehörte nicht zu ihrem Aufgabenbereich, nach verschwundenen Kindern zu suchen.

Ihr Vorgesetzter hatte sie hierher geschickt, damit sie herausfand, ob die Eltern des Jungen etwas mit seinem Verschwinden zu tun hatten. Ihr Gefühl sagte ihr, dass Jem Soonias keinen blassen Schimmer hatte, wo sein Sohn sich aufhielt und warum er nicht nach Hause gekommen war. Aber sicher war sie sich nicht. Sicher war nur, dass sie hier nichts mehr verloren hatte. Man würde das Jugendamt erst dann wieder einschalten, wenn Stevie aufgetaucht war.

Wenn er lebend aufgetaucht war.

Canyon lief die Treppe hinunter, sorgsam darauf bedacht, nicht zu fallen. Sie spürte den bohrenden Blick der Indianerin im Rücken und wollte vermeiden, dass sie vor deren Augen ausrutschte oder stolperte.

Der Schlamm an ihrem Wagen war inzwischen getrocknet und hatte sich grau gefärbt. Canyon stieg ein und verließ das Dorf. Sie hatte nicht auf Wiedersehen gesagt. Mit Sicherheit war Jem Soonias nicht darauf erpicht, sie wiederzusehen.

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