Читать книгу Die Suche - Antje Babendererde - Страница 7
5.
ОглавлениеJem hob vorsichtig Ranees Arm von seiner Brust und legte ihn sacht an ihren Körper, ohne dass sie davon erwachte. Im Schlaf waren ihre Gesichtszüge ganz entspannt und sie sah weich und verletzlich aus. Einen Augenblick lauschte er ihren gleichmäßigen Atemzügen. Unglaublich, dass sie am hellen Nachmittag so tief schlafen konnte.
Sie hatte vor seiner Tür gestanden und wenig später waren sie im Bett gelandet, so war es fast immer. Auch noch nach einem halben Jahr des Zusammenseins und unzähligen leidenschaftlichen Vereinigungen konnten sie nicht genug voneinander bekommen.
Wenn Ranee auf ihm saß und ihn mit ihren heftigen Bewegungen zum Höhepunkt brachte, fühlt Jem sich, als wäre er gefangen in einem ihrer Gemälde mit den durchdringenden Farben. Schloss er die Augen, rauschten Visionen hinter seinen Lidern vorbei, die ihn faszinierten und ihm gleichzeitig Angst machten. Er sah Bilder, die nicht aus seinem Leben, nicht aus seiner Erfahrung kommen konnten. Vielmehr schienen sie aus einer weit zurückliegenden Vergangenheit auf ihn einzustürzen. Etwas, das faszinierend und beängstigend zugleich war - wie eine Droge.
War Ranee vielleicht doch eine Hexe? Merkwürdige Fähigkeiten besaß sie jedenfalls. Noch immer war er ganz matt von den ekstatischen Bewegungen und der Unersättlichkeit ihres Körpers.
Jem glitt aus dem Bett, klaubte seine Sachen vom Boden zusammen und schlich sich aus dem Zimmer. Leise schloss er die Tür hinter sich. Gerade hatte er seine Jeans über die Hüften gezogen, als das Telefon klingelte. Er eilte in die Küche und nahm ab.
„Hallo?“, flüsterte er in den Hörer. „Wer ist da?“
„Mr Soonias, sind Sie das? Hier ist Canyon Toshiro vom Jugendamt.“
„Ach, Sie.“
„Hatten Sie einen anderen Anrufer erwartet?“
Jem atmete tief ein. „Ich rechne immer noch damit, dass jemand anruft, der ...“, er zögerte.
Schweigen am anderen Ende der Leitung.
„Miss Toshiro?“
„Wenn jemand Ihren Sohn entführt hätte, Mr Soonias, hätte er sich dann nicht längst bei Ihnen gemeldet?“
„Was wollen Sie, Miss?“, fragte er mit verhaltener Stimme, ohne auf ihre Frage einzugehen. „Weshalb rufen Sie mich an?“
„Warum flüstern Sie? Sind Sie nicht allein?“
Jem seufzte. Diese Frau ging ihm schon wieder auf die Nerven, doch das ließ er sich besser nicht anmerken. „Nun reden Sie schon! Gibt es etwas Neues?“
„Leider nicht, nein. Die Polizei hat noch einmal gründlich die Gegend abgesucht und nichts gefunden. Harding hat gerade angerufen und mich informiert. Keine Spur von Stevie.“
„Ich weiß.“ Jem seufzte. „Er und Miles Kirby haben gestern noch einmal die Leute im Dorf befragt. Die beiden sind auch bei mir gewesen und wollten alles Mögliche wissen.“
„Und?“
„Nada. Nichts. Ich konnte ihnen auch nichts anderes sagen, als vor zwei Tagen.“
„Haben Sie nachgesehen, ob von Stevies Sachen etwas fehlt?“
„Ja, natürlich habe ich das. Es ist alles noch da. Jedenfalls soweit ich mich erinnern kann. Aber wahrscheinlich würde es mir nicht auffallen, wenn ein T-Shirt weg ist.“
„Was ist mit seinen Jacken und Schuhen?“
„Es fehlt nur das, was er an dem Tag anhatte. Und sein Rucksack, der ist weg.“
„Sein Rucksack? Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?“
„Weil Sie dann sofort vermutet hätten, er wäre fortgelaufen. Aber das ist er nicht.“ Jem überlegte, wie er Canyon beibringen sollte, dass er ihre Hilfe brauchte. Sie war anstrengend und er setzte keine große Hoffnung in sie, wollte aber nichts unversucht lassen.
In der vergangenen Nacht hatte er doch tatsächlich von Canyon geträumt. Sie hatte in der Wildnis gestanden und Stevie an der Hand gehalten. Was für ein Schwachsinn. Mit Sicherheit hatte dieser Traum mit all den Dingen zu tun, die sein Vater ihm von Grace Winishut erzählt hatte. Seine Hoffnung hatte ihn von Canyon und Stevie träumen lassen. Doch das Bild der beiden war so deutlich, so lebendig gewesen, dass er davon erwacht war und es immer noch vor sich sehen konnte, wenn er die Augen schloss. Vermutlich wurde er langsam verrückt.
„Wie geht es Ihnen, Jem?“, fragte Canyon in das Schweigen hinein.
Jem glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. Seine Vorurteile dieser Frau gegenüber blockierten seit zwei Tagen seinen Verstand und auf einmal wollte sie wissen, wie es ihm ging? „Interessiert Sie das wirklich, Miss Toshiro, oder ist das wieder nur einer Ihrer Tricks.“
„Was für Tricks?“
„Mit denen Sie auf psychologisch ausgeklügelte Art herausfinden wollen, ob ich auch wirklich unglücklich über das Verschwinden meines Sohnes bin. Ich weiß nicht, was für Gedanken in Ihrem Kopf herumschwirren, aber offensichtlich trauen Sie mir alles zu. Auch dass ich selbst Stevie etwas getan haben könnte.“
Aus dem Hörer kam nichts als Stille. Jem hörte nicht mal den Atem der Frau am anderen Ende der Leitung. Verdammt, dachte er, krieg dich unter Kontrolle, sonst legt sie auf.
„Miss Toshiro? Sind Sie noch dran?“
„Ja, bin ich.“ Ihre Stimme klang kühl. Er hatte es vermasselt.
„Es tut mir leid, aber ich vermisse meinen Sohn und bin ziemlich neben der Spur. Ich muss dringend mit Ihnen reden.“
„Ich höre Ihnen zu“, versicherte sie. „Aber wenn Sie noch einmal solchen Unsinn von sich geben, lege ich auf.“
„Ich kann darüber nicht am Telefon sprechen. Können wir uns irgendwo treffen? Heute noch?“
„Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?“
Jem lehnte seinen Kopf gegen die Wand und stöhnte leise. „Nein, ganz bestimmt nicht“, sagte er. „Ich brauche wirklich Ihre Hilfe.“
„Also gut“, meinte sie nach einem ewig langen Moment. „In anderthalb bis zwei Stunden kann ich bei Ihnen sein.“
„Nein, nicht hier“, widersprach Jem mit gedämpfter Stimme. „Ich komme zu Ihnen nach Thunder Bay. Wo kann ich Sie treffen?“
Wieder Stille. „Miss Toshiro?“
„Kennen Sie sich ein wenig aus in der Stadt?“
„Nicht so gut wie in der Wildnis, aber ich werde Sie schon finden.“
„Ich warte auf Sie im Windmill Café an der Uferpromenade.“
„Okay.“ Er warf einen kurzen Blick auf die Uhr an der Wand. „Spätestens um sieben bin ich da.“
Jem hängte ein und schlüpfte in sein Hemd. Er kannte das Café nicht, aber er würde es finden. Während seiner Collegezeit in Kenora hatte er gelernt, sich in Städten genauso sicher zu bewegen und zurechtzufinden wie in der Wildnis. Wenn es notwendig war, konnte man sogar Dinge erlernen, die einem nicht unbedingt im Blut lagen. Er hatte gelernt in einer Welt zu überleben, die ihm nicht freundlich gesinnt war. Das war ihm schon oft von Nutzen gewesen.
Jem bemerkte eine Bewegung in seinem Rücken und drehte sich um. Ranee stand in der Tür, mit nichts am Leib außer ihrem Amulett, dass sie niemals ablegte. Trotz ihrer Größe besaß ihr Körper katzenartige Geschmeidigkeit. Sie war so schlank, dass ihre Rippen hervortraten, wenn sie einatmete.
„Wer war das?“ Neugierig sah sie in an.
„Walter Katz, der Anwalt aus Thunder Bay“, log Jem, in der Hoffnung, dass sie noch nicht lange genug dort stand, um zu wissen, mit wem er wirklich gesprochen hatte. „Wir haben noch einiges wegen des Gerichtstermins zu besprechen, das besser nicht am Telefon gesagt werden sollte. Ich bin in Eile.“
„Kann ich mitkommen?“ Sie kam auf ihn zu und lehnte sich gegen ihn. Er roch den Duft ihrer wilden Vereinigung, die noch keine Stunde zurücklag. Manchmal, wenn er sie berührte, wenn er in ihr war, spürte er etwas von ihrer unheimlichen Macht, die sich auf ihn übertrug.
Jem gab Ranee einen flüchtigen Kuss und schob sie von sich weg. „Ein anderes Mal“, sagte er. „Ich muss jetzt los.“
Der Gestank der Papierindustrie erreichte Jem, als er sich dem Stadtrand von Thunder Bay näherte. Er schloss das Fenster, um den Mief auszusperren.
In der Stadt arbeiteten sieben Zellstoffmühlen, riesige Fabriken, in denen täglich tonnenweise Holz zu Zellulose verarbeitet wurde. Fünf davon gehörten Paul Conley, einem der reichsten Männer von Thunder Bay. Sollte die Shimada Paper Company die Wälder um den Jellicoe Lake abholzen dürfen, würde Conley sich eine goldene Nase verdienen, denn seine Zellstoffmühlen lieferten den Rohstoff für die Papierhersteller. Die rechtmäßigen Besitzer der Bäume würden dagegen wie immer leer ausgehen.
Alter Zorn regte sich in Jem. Nach und nach verlor sein Volk alles, zuletzt auch seine Würde. Das erledigte der Alkohol. Er war wie eine quälende Krankheit, schwächte Kraft, Verstand und Liebe, tötete das Lachen und sogar die Träume. Alles, was sein Volk einst ausgemacht hatte. Im Rausch vergaß es sogar seine seit Generationen überlieferten Geschichten.
Weiße und Indianer schienen in einer Art Parallelwelt zu leben, die meiste Zeit hatten sie überhaupt nichts miteinander zu tun. Und wenn sie es doch taten, dann weil ihre unterschiedlichen Lebensauffassungen und ihre unterschiedlichen Auffassungen von Recht und Gerechtigkeit aufeinanderprallten. Mit ziemlicher Sicherheit lag Ärger in der Luft, wenn Ureinwohner und Weiße ihre Aufmerksamkeit aufeinander richteten.
Heute kam der Wind aus dem hohen Norden. Bei Ostwind verpestete der Rauch aus den Schloten der Zellstoffmühlen die Luft über der Stadt und Jem fragte sich, wie man freiwillig hier leben konnte, wenn es auch noch andere Möglichkeiten gab. Jedes Mal, wenn er der Wildnis den Rücken kehrte, um sich ins Chaos der Zivilisation zu begeben, empfand er die Hässlichkeit wie Schorf auf dem Leib von Mutter Erde. Städte waren Orte, in denen ein lebendiger, atmender Organismus von Beton und Asphalt bedeckt war. Eine kalte, lebensfeindliche Welt - so empfand er es jedenfalls.
Zwischen den Mauern der Häuser bekam Jem Beklemmungen und die Geräusche der Zivilisation machten ihn nervös. Aber er hatte keine Angst mehr, wie damals, als er mit vierzehn nach Kenora gekommen war und gefürchtet hatte, in der Welt der Weißen unterzugehen. Bis er es gewagt hatte, noch nach Anbruch der Dunkelheit auf die Straße zu gehen, waren Wochen vergangen. Aber es war nicht die Dunkelheit, die er gefürchtet hatte, sondern ihre Abwesenheit. Dass es in der Stadt nie wirklich dunkel wurde, irritierte ihn noch heute. Selbst die Sterne zogen sich hinter diesen rötlich grauen Dunst am Himmel zurück, der nicht natürlichen Ursprungs war.
Damals hatte er sich gezwungen, nach draußen zu gehen. Hatte das Durcheinander in seinem Inneren bezwungen und sich an diesen neuen Rhythmus gewöhnt. Zuletzt konnte er problemlos hin- und herspringen zwischen dem Leben in der Stadt und dem im Reservat. Er war ein Wanderer zwischen den Welten geworden.
Jem fand das Windmill Café an der Uferpromenade auf Anhieb. Canyon saß allein an einem der runden Metalltische unter einem zusammengeklappten Sonnenschirm und wartete auf ihn. Er hatte sich verspätet und war froh, dass sie nicht gegangen war.
Canyon hatte ihr Haar mit einer Spange im Nacken zusammengenommen, was sie wie ein junges Mädchen aussehen ließ. Diesmal reichte er ihr die Hand und zwang sich zu einem Lächeln. Er wollte etwas von ihr, und so hielt er es für besser, die Regeln der Höflichkeit einzuhalten.
Canyon trug helle Jeans, ein orangefarbenes T-Shirt und hatte flache Wildlederschuhe an den Füßen. In dieser einfachen Kleidung wirkte sie weniger unnahbar, weniger perfekt, was ihn ein wenig entspannte.
„Ich habe mich verspätet“, entschuldigte er sich. „Ein Straßenbautrupp hat Schlaglöcher ausgebessert und ich musste eine Viertelstunde warten.“
„Das macht nichts.“ Canyon lächelte. „Wir können hierbleiben, aber das Café hat geschlossen, weil der Besitzer wechselt. Ich habe das nicht gewusst, als ich diesen Treffpunkt wählte. Es tut mir leid.“
Es tat ihr leid, dass dieses Café geschlossen war. Aber sie brachte es nicht fertig, ihm zu sagen, dass ihr das Verschwinden seines Sohnes leid tat. Was war bloß los mit dieser Frau, die ihre Gefühle so gut unter Kontrolle hatte?
Jem kniff unwillig die Augen zusammen. Auf einmal bereute er, hierhergekommen zu sein. Canyon Toshiro konnte ihm nicht helfen. Sie machte nur ihren Job und vermutlich machte sie ihn gut. Doch ging es in diesem Fall um ganz andere Dinge. Dinge, die sie wahrscheinlich nie begreifen würde.
„Kein Problem.“ Er ließ ihre Hand los. „Wir finden etwas anderes. Haben Sie schon etwas gegessen? Ich lade Sie ein.“
Jem war nicht wild darauf, mit Miss Jugendamt essen zu gehen, aber vielleicht half es, ihr zu beweisen, dass er ein ganz normaler Mann war und kein exotisches Exemplar einer aussterbenden Rasse.
„Vielen Dank, Jem“, sagte sie, „aber ich mache Ihnen einen anderen Vorschlag. Mein Kühlschrank quillt über, denn ich bin seit zwei Tagen nicht dazugekommen, etwas zu kochen.“
„Tut mir leid“, sagte er, „dass Sie nun auch noch meinetwegen Überstunden machen müssen.“
„Kein Problem“, erwiderte Canyon, „das ist mein Job. Ich habe ihn mir ausgesucht und mache ihn gern. “ Sie sah ihn erwartungsvoll an. „Ich könnte uns etwas kochen? Es würde mir keine Umstände machen.“
Jem hob die Schultern. Damit hatte er nicht gerechnet. Er sah die Bitte in ihren braunen Augen und erkannte auf einmal, wie einsam sie war. Plötzlich bekam er Mitleid. „Also gut“, sagte er, immer noch ein wenig unschlüssig darüber, was er von ihrer Einladung halten sollte. „Dann fahren wir eben zu Ihnen. Mein Wagen steht nicht weit von hier.“
Zusammen liefen sie die Uferpromenade entlang, wo um diese Zeit noch reges Treiben herrschte. Die milde Abendluft hatte die Menschen aus den Häusern getrieben. Pärchen, die Hand in Hand gingen, Familien mit Kindern und Singles, die ihre Hunde ausführten. Der Sleeping Giant, eine dem Hafen vorgelagerte Halbinsel, deren langgezogene Silhouette an einen ausgestreckten Riesen erinnerte, lag in silbrig grauem Dunst.
„Kennen Sie die Geschichte vom schlafenden Riesen?“, fragte Canyon.
„Ja, natürlich. Es gibt verschiedene Varianten und ich erzähle sie den Kindern im Geschichtsunterricht. Das gehört zum Lehrplan.“
„Vermutlich ist es eine dieser Indianerlegenden, die besagt, dass der weiße Mann nichts als Unheil bringt, nicht wahr?“
„Nicht unbedingt“, entgegnete er. „Nanna Bijou, der Geist des Tiefen Wassers, hat den Ojibwa den Weg zu einer reichen Silbermine gezeigt, als Belohnung für ihren Fleiß, ihr friedvolles Leben und ihre Güte. Er beschwor sie, ihr Geheimnis niemals zu verraten, sonst würde er zu Stein. Dabei hätte er wissen müssen, dass Reichtum Macht nach sich zieht und Macht die Menschen verändert. Nicht der weiße Mann ist schuld, dass Nanna Bijou jetzt versteinert da drüben in der Bucht liegt. Das Silber ist schuld. Die Gier der Menschen danach.“
„Es geht also immer um Dinge, die wir haben wollen und die wir nicht bekommen können.“
„Sehr oft ist es so.“
Sie stiegen in seinen weißen Jeep Cherokee. Der Wagen war verbeult und zerkratzt, aber sauber. Jem hatte ihn gewaschen, bevor er in die Stadt gekommen war. Canyon registrierte es mit einem Lächeln.
Sie wies ihm den Weg durch die Häuserschluchten und zehn Minuten später parkte er vor dem roten Backsteingebäude, in dem sie wohnte. Es war ein großes Mietshaus, das vor rund neunzig Jahren auf einem Hügel erbaut worden war. Nichts Besonderes, aber der Reiz dieser Wohngegend bestand darin, dass sie grüner war als das Zentrum von Thunder Bay.
Bevor sie in den Hausflur traten, warf Jem einen Blick auf die Fassade. Es fiel ihm immer noch schwer sich vorzustellen, wie man in so einem steinernen Haus leben konnte, dicht an dicht mit anderen Menschen, die man vielleicht gar nicht mochte. Der Geruch und die Enge im Treppenhaus waren ihm unangenehm. Eine Mischung aus Tabakqualm, Reinigungsmitteln und Essensgerüchen hüllte ihn ein.
Nachdem sie die vielen Stufen bis hinauf in die dritte Etage gestiegen waren, standen sie endlich vor Canyons Haustür. Canyon kramte in ihrer Tasche nach dem Schlüssel und er beobachtete sie dabei, merkte, wie nervös seine Anwesenheit ihn machte.
Mit Sicherheit gehörte es nicht zu den üblichen Gepflogenheiten, dass Mitarbeiter des Jugendamtes die Ermittlungen in ihrem eigenen Wohnzimmer durchführten. Er sollte nicht hier sein, sollte nicht reden mit dieser Frau, die er überhaupt nicht kannte und von der er nicht wusste, ob er ihr trauen konnte. Er hätte nicht darauf hören sollen, was seine Mutter ihm geraten hatte. Er hätte seinen Traum einfach ignorieren sollen, wie all die anderen merkwürdigen Träume zuvor.
Endlich hatte Canyon ihren Schlüssel gefunden und öffnete die Tür. „Gehen wir in die Küche“, schlug sie vor. „Dann können wir uns unterhalten, während ich etwas zu essen vorbereite.“
Jem folgte ihr durch den kleinen Flur in eine winzige, helle Küche, die modern und praktisch eingerichtet war. „Sie leben allein?“, fragte er, obwohl er die Antwort bereits kannte.
Er sah sich um. Tontöpfe mit frischen Kräutern standen auf den Fensterbänken. Es gab ein Sortiment blinkender Edelstahltöpfe und verschieden großer Pfannen, die - nach Größe sortiert - über dem Herd hingen. Canyon Toshiro kochte offensichtlich gern. Vielleicht konnte sie es auch. Auf einmal wurde ihm bewusst, wie hungrig er war. Seit diesem dünnen Honigtoast mit Kaffee am Morgen hatte er nichts mehr gegessen.
„Ja“, antwortete sie, „seit einem Jahr.“
Canyon begann Zwiebeln zu schälen und zu schneiden. Er sah, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Er hoffte, sie weinte nur wegen der Zwiebeln und nicht aus einem anderen Grund.
„Was ist passiert?“
„Er hat mich nicht respektiert.“
Jem nickte. Weiter nachzuhaken, wäre unhöflich gewesen und es interessierte ihn auch nicht. „Kann ich irgendwie helfen?“ Auf einmal kam er sich überflüssig vor.
Canyon überließ ihm die Zwiebeln und entschuldigte sich für einen Moment. Als sie in die Küche zurückkam, bereitete sie einen herzhaften Salat aus Tomaten, Eissalat, Oliven und Schafskäse.
„Essen Sie überhaupt Oliven und Schafskäse?“
Jem blickte in die Schüssel, in der beides bereits vermengt war mit den anderen Zutaten. „Ich werde es versuchen“, erwiderte er mit todernstem Gesicht.
Canyon lachte. In diesem Moment ahnte sie, dass sie ihn mochte, obwohl sie sich von ihm nicht dasselbe erhoffen durfte. Er war der erste Mann, den sie in ihr Apartment gelassen hatte, abgesehen von Charlie Wilson, Sarahs Ehemann - und den Möbelträgern. Aus Erfahrung wusste sie, dass die eigene Wohnung eine Menge über die Person verriet, die darin lebte. Was auch immer sie veranlasst hatte, Jem Soonias zu sich einzuladen, nach diesem Abend würde er mehr über sie wissen, als ihr vielleicht lieb war. Aber vielleicht erfuhr sie ja auch einiges über ihn.
„Worüber wollen Sie mit mir sprechen, Jem?“, fragte sie, während sie Paprika und Zucchini wusch.
„Wie sind Sie eigentlich zu Ihrem ungewöhnlichen Vornamen gekommen?“
Canyon sah ihn schräg von der Seite an. „Um das herauszufinden, haben Sie doch nicht den weiten Weg in die hässliche Stadt gemacht, oder?“
Sarah hatte ihr das mal erzählt: Indianer kamen nie direkt zur Sache. Selbst wenn sie etwas Wichtiges zu sagen hatten, redeten sie erst einmal über andere, belanglose Dinge und man musste Geduld aufbringen. Nun - sie hatte Zeit.
„Nein.“ Er spülte sich die Hände unter dem Wasserhahn und trocknete sie an seiner Hose ab. „Aber ich würde gern ein wenig über Sie wissen, bevor ich Ihnen mehr über mein Leben erzähle, als ich es vernünftigerweise tun sollte.“
„Ich verstehe.“ Enttäuscht dachte Canyon, dass es also kein wirkliches Interesse war, nur Neugier oder eine Art Absicherung. Dennoch erzählte sie ihm die Geschichte. „Als meine Mutter mit mir schwanger war, besuchten meine Eltern den Grand Canyon in Arizona. Sie waren überwältigt von seiner atemberaubenden Schönheit, dieser unfassbaren Weite, den verrückten Farben. Als ich geboren wurde, bekam ich diesen seltsamen Namen.“
Canyon gab die Zucchini- und Paprikastreifen in die Pfanne. Sie überlegte, ob sie es bei dieser Antwort bewenden lassen sollte. Doch dann fügte sie hinzu: „Als Kind mochte ich meinen Namen nicht und bestand darauf, dass man mich Canny rief. Inzwischen habe ich mich an meinen Namen gewöhnt. Ich glaube, es gibt schlimmere.“
Sie lächelte, obwohl ihr nicht danach zumute war. Ihr Vater hatte ihr die Geschichte, wie sie zu ihrem Vornamen gekommen war, oft erzählt. Und nun musste sie an ihn denken, voller Trauer und einer Art taubem Schmerz, der sie jedes Mal halb blind machte, wenn er sie unerwartet überfiel.
Zum Glück konnte Jem ihr Gesicht nicht sehen, weil sie den Kopf neigte und eine glatte Haarsträhne, die aus der Spange gerutscht war, ihr Gesicht verdeckte.
„Ich finde, es ist ein außergewöhnlicher Name mit einer schönen Geschichte“, sagte er. „In unserem Volk gab man sich früher auch Namen von Tieren, Pflanzen oder bestimmten Orten. Jetzt sind unsere Namen weiß und langweilig.“
„Nun, Jem ist auch nicht gerade gewöhnlich.“ Canyon hatte sich wieder unter Kontrolle und sah ihn an.
Er zuckte die Achseln. „Ursprünglich sollte ich Jim heißen. Aber meine Mutter hat nie viel von Schule gehalten. Sie behauptet, in der weißen Schrift wohne die Lüge. Mit einigen Buchstaben stand sie damals noch auf Kriegsfuß und als sie nach meiner Geburt der Hebamme meinen Namen aufschreiben sollte, wurde aus dem i ein e und aus Jim eben Jem.“
„Sind Sie deshalb Lehrer geworden?“ Canyon hantierte am Herd und spürte seinen interessierten Blick. Sie hoffte, sie konnte mit ihren Kochkünsten ein paar Pluspunkte sammeln.
„Möglicherweise“, sagte er. „Es macht mir Freude mit Kindern zu arbeiten. Sie sind noch offen für alles und ich habe das Gefühl, ihnen etwas mit auf den Weg geben zu können. Auf einen Weg, der von vornherein um einiges steiniger ist als der von weißen Kindern.“
Dem hatte sie nichts entgegenzusetzen.
Jem schwieg und sah aus dem Fenster, doch sein Blick schien ins Leere zu gehen. „Ich werde versuchen, Stevie selbst zu finden“, verkündete er schließlich. Canyon wollte protestieren, doch da sprach er schon weiter: „Meine Mutter war bei einer alten, angesehenen Frau im Dorf. Einer Wahrsagerin oder Heilerin, wie auch immer. Sie hat behauptet, dass Sie mir bei meiner Suche helfen können, Canyon. Deshalb bin ich hier.“
Canyon fiel das Messer aus der Hand und schepperte in den Ausguss. Jem drehte sich um und sie blickte ihn ungläubig an. „Ich?“
„Es klingt absurd, ich weiß“, sagte er beinahe entschuldigend. „Aber warum sollte die alte Grace das sagen, wenn es keinen Grund dafür gibt? Fremde sind in Dog Lake nicht gerne gesehen. Man kann also nicht behaupten, dass Sie einen Sympathiebonus haben, weder bei meiner Mutter noch bei Grace Winishut. Und doch riet sie mir, Sie aufzusuchen.“
Befremdet sah Canyon ihn an. „Was ist das Besondere an dieser Grace, das Sie ihrem Rat gefolgt sind? Sie sehen nicht aus wie jemand, der schnell auf andere hört.“
„Grace ist die Heilerin in unserem Dorf. Bevor die Leute sich überwinden, zu einem Arzt in die Stadt zu gehen, suchen sie Grace Winishut auf. Sie hat außergewöhnliche Fähigkeiten.“
„So?“
„Als Kinder glaubten wir, dass sie uns mit einem einzigen Blick in Frösche verwandeln kann.“
Canyon unterdrückte ein Lächeln. „Eine Medizinfrau also.“
Jem seufzte. „Medizinfrau, Wahrsagerin, Heilerin - wie auch immer Sie dazu sagen wollen. Sie hört sich Träume an und hilft bei ihrer Deutung. In ihren eigenen Träumen empfängt sie Lieder, mit denen sie anderen Lebenshilfe leistet. Aber sie kann auch helfen, wenn jemand körperlich krank ist. Ihr Können beruht auf dem geheimen Wissen über die Heilkraft von Pflanzen. Hat eine Krankheit ganz offensichtlich eine natürliche Ursache, wird in der Regel Grace geholt.“
Canyon neigte den Kopf zur Seite und betrachtete Jem mit fragendem Blick. „Was kann eine Krankheit außer natürlichen denn noch für Ursachen haben?“
Ihr leicht spöttischer Ton ärgerte Jem und er hatte keine Lust, auf ihre Frage zu antworten. „Ich glaube nicht, dass Sie diese Dinge verstehen würden, Canyon. Meine Mutter behauptet jedenfalls, Grace Winishut kann Dinge sehen, die wir nicht sehen können, weil unser Blick nicht so weit reicht wie der ihre.“
„Und Sie glauben daran?“ Auf einmal war kein Spott mehr in Canyons Augen, nur eine Art Zweifel.
Jem beschloss offen zu sein. „Sehen Sie“, sagte er, „ich bin in einer sehr traditionellen Familie aufgewachsen. Animismus ist unsere ...“, er zögerte, „unsere Religion, wie Sie es ausdrücken würden. An diese Dinge zu glauben, liegt sozusagen in meinem Blut. Später, auf dem College, kam mir der Glaube unseres Volkes, das alles in der Natur beseelt ist, fremd vor und ich habe mich davon distanziert. Jetzt weiß ich manchmal nicht mehr, was ich glauben soll. Es gibt Eltern, die würden ihre Kinder nicht in meinen Unterricht schicken, wenn ich versuchen wollte ihnen einzureden, dass Hexen und Waldgeister Aberglauben sind.“
„Aber sie sind es“, erwiderte Canyon mit einem verunsicherten Lachen. „Ich bin mir da ziemlich sicher.“
„Vielleicht, vielleicht aber auch nicht“, entgegnete er. „Vielleicht ist es ein Irrtum, wenn wir annehmen, dass die Welt für uns alle gleich ist.“
„Es gibt nichts als die Wirklichkeit, Jem.“ Canyons Stimme war voller Überzeugung. „Sie ist das Einzige, was zählt.“
„Schon möglich. Aber kann es nicht sein, dass Ihre Wirklichkeit eine andere ist als meine?“ Als sie daraufhin nicht antwortete, räusperte er sich und meinte: „Immerhin, was Grace gesagt hat, veranlasste mich dazu, hierher zu kommen und Sie um Hilfe zu bitten. Ich sehe keine andere Möglichkeit mehr und ich kann auch nicht herumsitzen und nichts tun, während mein Sohn vielleicht in großer Gefahr ist.“
„Ich verstehe.“ Canyon nickte. Sie reichte ihm den Thunder Bay Observer. „Schauen Sie auf Seite 4.“
Jem schlug die Zeitung auf und fand das Foto von Stevie, das er Miles Kirby überlassen hatte. Es war nicht groß und doch versetzte es ihm einen Stich, als sein Sohn ihm aus der Zeitung entgegenblickte. Stevie sah sehr nachdenklich aus auf diesem Bild und seltsam wissend. In einem kleingedruckten Aufruf bat die Polizei um Mithilfe. Wer den Jungen gesehen hatte, sollte sich melden. Dazu drei verschiedene Rufnummern, unter denen auch die von Canyons Büro im Jugendamt war.
„Stevies Verschwinden hat keine Schlagzeilen gemacht“, gab Canyon zu. „Bei einem weißen Kind wäre das mit Sicherheit anders gewesen.“
„Ich bin froh, dass es nicht so ist“, erwiderte Jem. „Sonst würden mir plötzlich irgendwelche Reporter die Tür einrennen.“
„Aber je mehr Menschen wissen, wie Stevie aussieht, umso größer ist die Chance, dass er erkannt wird und jemand sich meldet.“
„Das mag der Fall sein, wenn Stevie ausgerissen wäre. Aber das ist er nicht.“
Canyon nickte erneut, sagte aber nichts. Sie forderte ihn auf, ihr mit der Salatschüssel über den Flur ins Wohnzimmer zu folgen. Drinnen schaltete sie zwei verschiedene Lampen an, die den Raum in warmen Ockertönen aufleuchten ließen. Jem stellte die Schüssel auf den Esstisch aus unlackiertem Zedernholz und sah sich um. Die Tür zum Balkon stand offen und die Luft, die hereinströmte, war angenehm frisch.
In Canyons Wohnzimmer standen eine gemütliche Couch mit einem in Pastellfarben gemusterten Überwurf, ein Beistelltisch und zwei Sessel. Das angenehme Licht kam von einer Stehlampe und einer Wandleuchte. Canyon besaß einen großen Flachbildschirm und an der Wand über der Couch hingen japanische Rollbilder mit Schriftzeichen, daneben ein schwarz-weiß Portrait eines Mannes mit ausgeprägt japanischen Gesichtszügen. Zwei ordentlich sortierte Bücherregale standen an der gegenüberliegenden Wand.
Es war ein geschmackvoll eingerichtetes Zimmer, aber er fühlte sich ein wenig unbehaglich wegen der pedantischen Ordnung, die darin herrschte. Was verbirgt sich hinter dem äußeren Schein?
Canyon schloss die Balkontür, was Jem halb bedauerte, halb begrüßte. Nun war es still, die Geräusche der Stadt drangen nicht mehr zu ihnen herein. Gleichzeitig fühlte er sich eingeschlossen in dem kleinen Raum. Canyon ließ ihn allein und als sie wenig später mit zwei Tellern und Besteck aus der Küche zurückkehrte, stand er immer noch vor den japanischen Rollbildern.
„Sie passen nicht wirklich in diesen Raum, der grellen Farben wegen“, sagte sie, „aber sie sind alles, was ich von meinem Vater habe. Irgendwie hänge ich dran.“
„Das verstehe ich gut.“ Jem besaß kaum etwas, das ihn an Mary erinnerte. Nur den geschnitzten Schaukelstuhl, das Einzige, was sie aus ihrem Zuhause mitgebracht hatte. Ihr gemeinsames Leben im neuen Haus hatte nur ganze vier Wochen gedauert. Eingezogen waren sie mit Marys Schaukelstuhl, zwei Matratzen, einem Tisch und zwei Holzstühlen. Er sah Mary, die mit ihrem runden Bauch durch die leeren Räume tanzte. „Heiratest du mich jetzt, Jem?“, hatte sie lachend gefragt, die Wangen gerötet vor Glück.
Die Erinnerung quälte ihn.
„Ist er das?“ Jem wies auf das Foto.
„Ja. Er starb bei einem Autounfall. Es war an meinem zwölften Geburtstag.“
„Das muss schlimm für Sie gewesen sein.“ Für einen Augenblick vergaß Jem seinen eigenen Kummer, weil der ihre so offensichtlich die Atmosphäre des Raumes beherrschte.
„Immer wenn ich Geburtstag habe, muss ich daran denken. Es hat nie wieder einen fröhlichen Geburtstag für mich gegeben. Ich habe mir schon lange abgewöhnt, ihn zu feiern.“
„Vielleicht denken wir zu oft an diejenigen, die sich von unserem Leben verabschiedet haben“, sagte Jem nachdenklich. „Vielleicht tun wir es aus Angst, sie zu vergessen. Aber irgendjemand denkt immer an sie, auch wenn wir es nicht tun.“
Er wollte sie nach ihrer Mutter fragen, ließ es jedoch sein, als ihm bewusst wurde, dass es nirgendwo in diesem Raum ein Foto von ihr gab.
„Ich bin die Einzige, die noch an meinen Vater denken kann“, erwiderte sie. „Meine Großeltern leben nicht mehr, meine Mutter auch nicht und Geschwister habe ich leider keine.“
„Das tut mir leid“, sagte er, aber Canyon hatte den Raum schon wieder verlassen.
Ganz allein, dachte Jem. Das war unvorstellbar für ihn.
Canyon kam mit dem Essen aus der Küche und er setzte sich. Was sie in der kurzen Zeit gezaubert hatte, sah köstlich aus: Wilder Reis mit zarten Putenfleischstücken, gedünsteten Zucchini und Paprikastreifen. Es duftete verführerisch nach Knoblauch und ihm lief das Wasser im Mund zusammen. Sein Magen knurrte laut, was ihm peinlich war.
„Was möchten Sie trinken?“, fragte Canyon.
„Eistee, wenn Sie welchen haben.“
Sie brachte ihm einen Krug mit selbstgemachtem Eistee und goss sich ein Glas Rotwein ein. „Guten Appetit“, wünschte sie, als sie ihm aufgetan hatte.
„Vielen Dank für die Einladung“, erwiderte Jem verlegen.