Читать книгу Die Suche - Antje Babendererde - Страница 5
3.
ОглавлениеRanee stand immer noch in der Tür. In diesem Moment klingelte das Telefon in der Küche. Jem lief ins Haus und nahm hastig ab. „Hallo? Wer ist da?“
„Harding hier“, meldete sich der Inspektor. „Sind Sie es, Mr Soonias?“
„Ja. Haben Sie etwas gefunden? Irgendeine Spur von meinem Sohn?“
„Nein“, sagte Harding, mit ehrlichem Bedauern in der Stimme. „Wir haben den ganzen See abgesucht. Erfolglos. Auch die Hündin konnte nichts finden. An einer Stelle hört die Spur Ihres Jungen plötzlich auf. Dort könnte ein Auto gestanden haben, aber da sind so viele Spuren, die sich überlagern. Der Boden ist zu aufgeweicht.“
„Danke“, sagte Jem und dachte darüber nach, was der Polizist gerade gesagt hatte. Erfolglos. Wäre es für Harding ein Erfolg gewesen, wenn Stevie auf dem Grund des Sees gelegen hätte? „Was werden Sie jetzt weiter unternehmen?“
„Wir werden die Suche morgen bei Tageslicht fortsetzen. Außerdem brauche ich ein Foto Ihres Sohnes, nicht zu klein, wenn möglich. Dann werde ich eine Vermisstenmeldung mit seiner Beschreibung herausgeben und an die anderen Provinzbehörden weiterleiten. Wenn Stevie bis morgen nicht wieder aufgetaucht ist, müssen wir seine Freunde und die Leute aus dem Dorf befragen.“
„Das habe ich schon getan“, sagte Jem ungeduldig.
„Überlassen Sie mal uns, was wir tun oder nicht tun, Mr Soonias. Wenn es etwas Neues gibt, melde ich mich wieder. Dasselbe erwarten wir von Ihnen. Miles Kirby kommt nachher vorbei und holt das Foto. Beschreiben Sie ihm bitte so genau wie möglich, was Ihr Sohn heute angehabt hat.“
„In Ordnung.“ Jem legte auf.
„Die Polizei?“, fragte Ranee. Sie trug helle Jeans und eine dunkelgrüne Bluse aus roher Seide, die zur Farbe ihrer Augen passte.
„Ja. Sie haben den See bei seinem Versteck abgesucht und nichts gefunden.“
Ranee stieß Luft durch die Zähne, was Jem als Ausdruck der Erleichterung deutete. Wie schön sie ist, dachte er, wie begehrenswert. Und wunderte sich, dass er kein Verlangen spürte, wie sonst in ihrer Nähe.
„Ich wusste, dass sie ihn dort nicht finden würden“, sagte er und lehnte sich rücklings gegen die Spüle. „Stevie ist nicht tot, verdammt noch mal. Mein Sohn lebt, ich weiß es.“
Ranee sah ihn mitfühlend an. „Natürlich, Jem.“
„Hätte allerdings sein können, dass sein Rad im See liegt“, bemerkte er nachdenklich. „Aber es war nicht dort.“ Das rote BMX-Rad war nagelneu. Stevie hatte es zu seinem neunten Geburtstag bekommen und das war erst ein paar Wochen her. Es war genauso spurlos verschwunden wie sein Sohn.
„Was glaubst du, ist passiert?“, fragte Ranee.
„Jemand hat ihn mitgenommen.“
„Was?“ Die Indianerin riss ihre Augen weit auf. „Warum sollte jemand Stevie entführen?“
Jem hob die Schultern. „Ich weiß es nicht. Möglicherweise hat sein Verschwinden etwas mit dem Kahlschlag am Jellicoe Lake zu tun. Der Gerichtstermin in Ottawa rückt näher. Vielleicht klingelt gleich das Telefon und es meldet sich irgend so ein Idiot, den die Shimada Paper Company angeheuert hat, um mich einzuschüchtern.“
„Würde mich nicht wundern, wenn es so wäre.“ Ranee nickte. „Immerhin bist du Vorsitzender und Sprecher von KEE-WE. Du hast der Organisation einen Anwalt besorgt und ihr habt gute Chancen, dass die Provinzregierung die Abholzungsgenehmigung zurückzieht und Shimada klein beigeben muss.“
„Genau das ist mir auch durch den Kopf gegangen.“
„Hast du es der Polizei erzählt?“
„Nein, noch nicht. Ich will erst mal abwarten, was passiert. Ob sich überhaupt jemand meldet. Ich will Stevie nicht unnötig in Gefahr bringen.“
„Verstehe.“ Ranee lehnte sich gegen seine Brust. Sie war genauso groß wie er und hatte lange, sehnige Muskeln. Durch sein T-Shirt spürte er die festen Knospen ihrer Brüste. Nicht mal im Winter trug sie einen BH.
„Trotzdem würde ich der Polizei von deinem Verdacht erzählen. Die wissen schließlich auch, dass dem Papierkonzern jedes Mittel recht ist, um seine Interessen zu verteidigen.“ Sie küsste ihn auf den Mund und ließ ihre Zunge über seine Zähne gleiten.
Doch er schob sie von sich. „Nicht jetzt, Ranee“, brummte er unwillig. „Miles kommt gleich und ich muss noch ein Foto von Stevie heraussuchen.“
Später, nachdem Miles Kirby gegangen war, schickte Jem Ranee nach Hause. Sie ging, ohne zu protestieren. Schweren Herzens machte er sich auf den Weg zu seinen Eltern, deren Haus am anderen Ende der Siedlung stand.
Jem war nicht mehr so verzweifelt gewesen, seit die Frau, die er liebte, bei der Geburt ihres Sohnes gestorben war. Nach Marys Tod hatte Jem sich wie ein Schlafwandler durch sein Dasein bewegt. Es war eine Art Lähmung gewesen, eine dunkle Klage, die verhinderte, dass er trauern und sich wieder dem Leben zuwenden konnte.
Der Sorgerechtskampf um seinen neugeborenen Sohn hielt ihn damals davon ab, vor Schmerz um den Verlust seiner Liebe verrückt zu werden und zur Flasche zu greifen. Sein Zorn auf eine Behörde, die vorgab, das Beste für Stevie zu wollen, indem sie ihn zu Pflegeltern steckte, weit weg von seiner Familie, rettete ihn. Er siegte und erhielt die Erlaubnis, seinen Sohn adoptieren zu dürfen.
Schließlich hatte Jem das Unabänderliche akzeptiert und gelernt, die Leere, die Marys Tod hinterlassen hatte, zu ertragen. Er ging arbeiten und die Nachmittage und Wochenenden gehörten seinem kleinen Sohn. Es war anstrengend, wenn Stevie nachts schrie und er nicht wusste, warum. Wenn ihm dann am nächsten Tag der Schlaf fehlte und er vor versammelter Klasse einzunicken drohte, weil er unendlich müde war. Manchmal fürchtete er, es nicht zu schaffen, aber seine Eltern hielten immer zu ihm. Jakob und Elsie Soonias halfen und unterstützten ihn wo sie nur konnten, daran hatte sich bis heute nichts geändert.
Stevie wurde seiner Mutter immer ähnlicher und dafür liebte Jem ihn nur noch mehr. Mary war gegangen, aber sie hatte ihm etwas zurückgelassen, etwas aus Fleisch und Blut, dem er seine ganze Fürsorge und Aufmerksamkeit schenken konnte. Aus dem anstrengenden Säugling wurde ein freundlicher und wissbegieriger Junge. Noch nie hatte Jem sich Sorgen um Stevie machen müssen. Und seit Ranee am letzten Tag des vergangenen Jahres wieder in sein Leben getreten war, fühlte er sich als glücklicher Mann. Doch nun war sein Sohn auf rätselhafte Weise verschwunden und Jem hatte nicht die geringste Vermutung, was passiert sein könnte. „Sind Sie ein guter Vater?“, hatte ihn die hartnäckige Sozialarbeiterin mit dem japanischen Namen gefragt. Diese Frage beschäftigte ihn seither pausenlos. Zusammengekauert hockte er auf der hölzernen Bank in der Wohnküche seiner Eltern.
„Das Jugendamt war natürlich gleich zur Stelle“, berichtete er. „Ob ich auch genug Zeit für Stevie hätte, hat diese Frau mich gefragt.“
„Du hättest die Polizei nicht holen dürfen“, warf ihm seine Mutter vor, eine rundliche Frau mit grauem Zopf, die verschrumpelte Äpfel schälte. Äpfel vom vergangenen Jahr, deren Schalen einen starken Duft verströmten.
„Lass ihn in Frieden, Elsie“, schritt Jakob ärgerlich ein. „Natürlich musste er die Polizei informieren. Der Junge ist verschwunden. Was glaubst du, wäre passiert, wenn Jem Stevie erst nach einer Woche als vermisst gemeldet hätte?“
Elsie warf ihrem Mann einen aufgeschreckten Blick zu. Und auch Jem wagte nicht daran zu denken, wie sein Leben aussehen mochte, wenn man in einer Woche immer noch keine Spur von seinem Sohn gefunden hatte.
Vor Stevie waren schon andere Bewohner aus Dog Lake und verschiedenen Nachbarreservaten spurlos verschwunden. Meist waren es jedoch Jugendliche. Sie kamen mit dem Gesetz in Konflikt und endeten, ihrer Geschichte beraubt, irgendwo in den grauen Straßen der Städte. Wie Simon, Jems jüngerer Bruder. Es schmerzte immer noch körperlich, wenn er an ihn dachte.
„Glaubst du, es interessiert sie wirklich, wenn ein Indianerkind verschwindet?“ Elsies braune Hände kneteten Teig auf das Blech und drückten die Ränder fest. Dann begann sie, die Äpfel in schmale Scheiben zu schneiden und auf den Teig zu legen. Das Rezept hatte sie von einer Deutschen, die eine Zeit lang in Dog Lake gelebt hatte. Nur seine Mutter verstand es, diese Art Apfelkuchen zu backen.
„Die Weißen in den Behörden denken, wir sind verantwortungslose Menschen und einer weniger ist für sie kein Verlust“, sagte sie aufgebracht. „Unsere Probleme müssen wir allein lösen, mein Sohn. Das war schon immer so und wird immer so sein. Die Weißen können uns dabei nicht helfen. Im Gegenteil, durch sie sind unsere Probleme nur noch größer geworden. Früher gab es keine Drogen in Dog Lake. Die Kinder kamen nicht auf die Idee Leim zu schnüffeln und der Alkohol hat nicht so viele von uns krank gemacht. Damals hörten wir noch auf die Wünsche der Geister. Heute haben die jungen Leute nichts als ihre eigenen Wünsche im Kopf.“
Stevies Lieblingsapfelkuchen, dachte Jem, während er seiner Mutter zusah, ihre Worte aber an ihm vorbeirauschten. Vielleicht konnte der Duft des Kuchens seinen Jungen zurücklocken, wo immer er war. Für einen Augenblick fühlte sich Jem leer vor Angst. Er fragte sich, ob es Anzeichen gegeben hatte für das, was passiert war.
„Du solltest endlich Ordnung in dein Leben bringen, mein Sohn. Es ist nicht gut, was du da treibst. Die Leute reden schon.“
Aufgeschreckt aus seinen Gedanken, hob Jem den Kopf, wollte seine Mutter fragen, was sie damit meinte.
Jakob legte seinem Sohn beschwichtigend eine Hand auf die Schulter. „Gehen wir ein Stück?“, fragte er und klopfte mit dem verzierten Pfeifenkopf auf den Tisch.
Jakob durfte im Haus seine Pfeife nicht rauchen. Seine Ehefrau führte ein strenges Regime, trotzdem fühlte er sich nach all den Jahren immer noch wohl an ihrer Seite. Elsie war wie ein Baum, der tief in der Erde wurzelte. Er konnte sich daran festhalten, wenn der Wind des Lebens manchmal zum Sturm wurde und ihn ins Haltlose zu wirbeln drohte. Wie damals, als Simon, sein zweiter Sohn, in der fernen Stadt gestorben war.
Der Verlust hatte tiefe Spuren in Jakobs Leben hinterlassen. Immer wieder fragte er sich, was er falsch gemacht hatte, ob er als Vater versagt hatte. Warum war es nicht möglich, die Kinder zu beschützen? Sie waren das Wichtigste für sein Volk, noch vor dem Land. Die Kinder und das Land gehörten zusammen, weil sie die Zukunft bedeuteten. Die Weißen hatten versucht, ihnen beides zu nehmen. Deshalb war sein Volk krank. Deshalb hatte er Simon verloren.
Die Weißen zu ignorieren, wie seine Frau es tat, war keine Lösung für ihn. Aber es gab nur wenige, in deren Gesellschaft Jakob sich nicht unwohl fühlte; nur wenige, denen er traute.
Jakob Soonias ahnte, was in seinem Sohn vorging. Dass Jem an sich selbst zweifelte. Er hatte niemanden, an dem er sich festhalten konnte. Das war nicht gut. Elsie und er hatten gehofft, dass Jem nach Marys Tod bald wieder eine Frau finden würde, eine, die sich um ihn und den Jungen kümmern konnte. Bewerberinnen hatte es zur Genüge gegeben, aber Jem schien sie nicht einmal bemerkt zu haben.
Verzweiflung machte einsam und nahm einem die Selbstachtung. Es hatte lange gedauert, bis Jem wieder lachen konnte. Doch der Verlust, den er lange nicht wahrhaben wollte, hatte einen dauerhaften Schatten in seinen Augen hinterlassen.
Nie war eine Frau über Nacht in seinem Haus geblieben. Bis vor einem halben Jahr, mitten im klirrenden Winter, Ranee wieder in der Gegend aufgetaucht war und Jems Bett gewärmt hatte. Ranee, die, wie schon ihre Großmutter vor Jahren, nichts als Unruhe ins Dorf gebracht hatte.
Jem stibitzte eine geschälte Apfelhälfte und folgte seinem Vater nach draußen. Sie liefen nicht zum See, sondern ein Stück in den Wald, der gleich hinter dem Haus begann. Schweigend lauschten sie den geisterhaften nächtlichen Dissonanzen der Grillen. Die Luft hatte sich abgekühlt, nachdem die Sonne hinter den Wipfeln der Bäume verschwunden war.
Im Wald hielt sich der Duft von Tannenspitzen und wilden Kräutern. Hier, so nahe am Dorf, gab es viele ausgetretene Pfade, die alle irgendwann im Nichts endeten. Wo sie aufhörten, begann das Reich der Tiere, der Hexen und Geister. Dort draußen hauste der Weetigo, der mächtige Waldgänger mit einem Herz aus Eis. Ein Dämon, vor dem alle sich fürchteten.
Jem lachte tonlos. Solche Geschichten fielen ihm ein, wenn es dunkel wurde. Ob Stevie jetzt irgendwo in dieser Dunkelheit gefangen war und sich fürchtete?
„Nimm es ihr nicht übel, dass sie so daherredet“, sagte sein Vater. „Deiner Mutter gefällt es nicht, dass du mit dieser Frau zusammen bist.“
„Ranee Bobiwash?“
Jakob brummte. „Ja, welche Frau sonst! Sie ist die Einzige, die du nach Marys Tod in dein Haus und dein Bett gelassen hast.“
„Dad!“ Jem mochte es nicht, wenn sein alter Vater so mit ihm redete. Er mochte überhaupt nicht über Ranee reden.
„Wahrscheinlich hast du sie auch in dein Herz gelassen, was noch viel schlimmer ist“, bemerkte Jakob kopfschüttelnd. „Nun hat sie Macht über dich.“
Jem mühte sich, gelassen zu bleiben. Er hob die Schultern. „Was soll das, Dad? Ranee ist klug, sie ist eine hervorragende Künstlerin und sie ist eine Cree. Was hat Mom an ihr auszusetzen?“
„Du hast etwas vergessen, mein Junge. Ranee ist sehr schön und sie weiß es.“
„Na und? Ist das ein Verbrechen?“
„Nein. Aber du solltest darüber nachdenken, wie viel dir Äußerlichkeiten bedeuten. Diese Frau ist gefährlich, Jem, sie hat den bösen Blick. Deine Mutter sagt, sie ist eine Hexe.“
„O je, Dad“, Jem lachte laut auf. „Du glaubst doch nicht etwa, was Mom da sagt. Ranee und eine Hexe! Moms Phantasie spielt mal wieder verrückt.“
„Diese Frau war sehr lange weg von unserem Volk, Jem. Keiner weiß, wo sie gelebt hat und was sie dort getrieben hat.“ Jakob zog an seiner Pfeife. „Vielleicht solltest du mal mit Grace sprechen.“
„Grace Winishut?“, fragte Jem mit unverhohlenem Spott in der Stimme. „Sie ist wirklich eine Hexe. Die Kinder im Dorf fürchten sich vor ihr.“
„Fürchtest du dich auch?“
„Um Himmels willen, nein. Wie kommst du nur auf so etwas?“
„Deine Mutter und Grace sind nicht gerade das, was man Freundinnen nennen kann“, räumte Jakob ein. „Aber Elsie hat großen Respekt vor Grace Winishuts Fähigkeiten und ihrem Wissen. Sie ist eine Heilerin und sieht Dinge, die andere Menschen nicht sehen können.“
„Das tut Mom auch“, erwiderte Jem spöttisch. „Sie sieht Gespenster.“
Eine weiße Tabakwolke hüllte seinen Vater ein. „Warum sperrst du dich so vehement gegen alles, was unser altes Leben ausgemacht hat?“, fragte Jakob. „Das sind unsere Traditionen. Sie haben uns jedes Mal geholfen zu überleben, wenn es schwierig wurde für unser Volk. Wenn wir sie aufgeben, geben wir uns auf.“
„Meinst du mit Traditionen die Geschichten von Hexen, dem Weetigo und anderen Dämonen des Waldes?“ Jem sah seinen Vater an. Von ihm hatte er die stattliche Größe und die kräftige Statur. Er hatte seinen Vater immer bewundert und respektiert. Wie Jakob um ein würdevolles Leben kämpfte und nie aufgab. Obwohl er oft enttäuscht worden war und viele Niederlagen einstecken musste, hatte er der Verbitterung standgehalten. Auch noch in der schlimmsten Situation konnte er Hoffnung schöpfen und besaß die Gabe, diese Hoffnung an andere weiterzugeben.
Jem hatte seinem Vater viel zu verdanken. Eine Erziehung voller Güte, Respekt und ohne Zwang. Von Jakob kannte er unzählige Geschichten über die Tiere der Wildnis, die Teil einer uralten Übereinkunft waren.
„Wenn die Tiere spüren, dass die alten Mythen in Vergessenheit geraten“, hatte sein Vater ihm erzählt, „dann werden sie das Land verlassen.“ Die Tiere wurden weniger, das war nicht zu leugnen. Aber Jem wusste, dass es an der industriellen Ausbeutung der Wälder lag: Kahlschlag, Erdölförderung, Erzminen und Skigebiete.
Sein Vater war Jäger und hielt an den alten Ritualen fest. Er gehörte zu den wenigen Männern von Dog Lake, die auch den Winter in der Wildnis ohne die Errungenschaften der Zivilisation überleben konnten. Als Jem in Stevies Alter war, hatte sein Vater begonnen, ihn mit hinaus in die Wälder zu nehmen, um zu jagen oder die Fallenstrecke abzugehen. Jem sollte lernen, wie man Schlingen legt und Holzfallen baut. Er sollte lernen, wie man die Jahreszeiten nutzt, um sich in der Natur zurechtzufinden.
Jem hatte diese Ausflüge, die manchmal Tage dauerten, geliebt. Er erinnerte sich noch genau an jenen Tag, an dem er seinen ersten Elch erlegt hatte. Damals war er fünfzehn gewesen und trunken vom Fieber der Jagd. Sein Vater hatte ihn noch an Ort und Stelle auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt.
„Ein Tier töten ist kein Sport“, hatte Jakob gesagt. „Nichts, um sich selbst oder den anderen zu beweisen, was für ein toller Kerl man ist. Kein Lebewesen ist mehr wert als das andere. Wir töten, weil wir das Fleisch zum Leben brauchen, nicht um einen Sieg zu erringen. Bedanke dich bei dem Tier, mein Sohn, das sich für dich geopfert hat.“
Jem hatte ein Tabakopfer dargebracht und versucht, seinen Stolz im Zaum zu halten. Aber in seinem Inneren war das großartige Gefühl geblieben, für das er sich heute noch schämte.
Später hatten sein Vater und er zusammen am Feuer gesessen, Elchsteaks geröstet und den Geräuschen der Nacht gelauscht. Jakob hatte seinem ältesten Sohn von den Bewohnern des Waldes erzählt, von den sichtbaren ebenso wie von den unsichtbaren. Jem hatte schon einiges vom Weetigo gehört, über die Angst der anderen aber, hatte er stets gelacht. Als sein Vater ihm in dieser Nacht vom behaarten Dämon erzählte, packte ihn jedoch das kalte Grauen.
„Das Verlangen des Weetigo nach Menschenfleisch ist unersättlich, mein Junge. Nur wenn er keines zur Verfügung hat, begnügt er sich mit verrottetem Holz, Moos und Pilzen. Du kannst ihn nicht sehen, aber er sieht dich. Wenn du im Wald bist und plötzlich Blicke im Rücken spürst, dann ist er es. Von ihm zu träumen oder ihn zu hören, reicht aus, dass er Macht über dich bekommt.“
Jem konnte die ganze Nacht nicht schlafen und seine Furcht vor dem behaarten Kannibalen ließ den Stolz schwinden, den er über den erlegten Elch empfunden hatte. Wieder zu Hause, verschwand er in seinem Zimmer und ließ sich einige Zeit nicht blicken. Es ärgerte ihn, dass er seine Angst nicht beherrschen konnte. Dass er sich vor einem Wesen fürchtete, das angeblich ein Herz aus Eis hatte.
Später hatte der Vater dann auch Simon, seinen kleinen Bruder mit auf die Jagd genommen. Jem konnte sich noch gut erinnern, wie Simon atemlos an den Lippen seines Vaters hing, wenn der über die alten Zeiten sprach. Simon liebte die alten Geschichten, er liebte die Tiere und er liebte die Wälder. Das Töten aber, hatte er gehasst.
Mit seinen vorwurfsvollen Blicken hatte Simon in seinem großen Bruder jedes Mal das schlechte Gewissen geweckt, wenn der ein Tier erlegt hatte. Deshalb war Jem damals erleichtert gewesen, als Simon aufhörte, sie zu begleiten.
Jem hatte geahnt, dass es seinen Vater schmerzte, einen Sohn zu haben, der die Jagd verabscheute. Von den anderen Jungen im Dorf wurde Simon als Feigling verlacht, aber Jakob zwang ihn nicht, sie weiterhin auf ihren Jagdzügen zu begleiten. Es wurde einfach nicht mehr darüber gesprochen.
Simon wurde immer stiller und sein Interesse an den alten Geschichten versiegte plötzlich. Jem machte sich keine Gedanken darüber. Es gefiel ihm, den Vater auf diesen Ausflügen in die Wildnis für sich allein zu haben. Wenn ihm Jakobs ungeteilte Aufmerksamkeit galt, fühlte er sich geliebt und stark.
Er hatte sich immer sicher gefühlt an der Seite seines Vaters. Doch nun war diese Sicherheit weg. Nichts war mehr sicher, seit Stevie verschwunden war.
„Es sind schwierige Zeiten für unser Volk“, sagte er zu seinem Vater. „Aber ich bezweifle, dass das Praktizieren von alten Bräuchen unseren Wald vor Shimadas Holzerntemaschinen retten kann.“
„Du hast zu lange in der Welt der Weißen gelebt“, erwiderte Jakob. „Ich hätte nicht einwilligen dürfen, dass du auf diese Internatsschule gehst, so weit weg von uns und unserem Leben. Das hat dich verändert und war nicht gut für dich. Du hast so vieles vergessen von dem, was ich dich lehrte. Stevie ist ganz anders als du.“
Die Kritik seines Vaters traf Jem ins Mark. „Er ist noch ein Kind, Vater. Hexen und Waldgeister faszinieren ihn, wie jedes andere Kind in seinem Alter auch. Immer wieder verlangt er von mir, dass ich ihm die alten Geschichten erzähle.“
„Kennst du denn noch welche?“ Jakob blieb stehen, drehte sich um und sah seinen Sohn fragend an.
„Natürlich. Du hast sie mir erzählt und ich habe sie nicht vergessen. Ich habe nichts von dem vergessen, was du mir erzählt hast. Auch wenn du mir das vielleicht nicht glaubst. Aber die alten Geschichten können uns nicht retten, Dad. Sie konnten Simon nicht retten.“
„Weil er sich von ihnen abgewendet hat.“
„Aber warum hat er das getan?“
Jakob schwieg eine Weile. „Es war meine Schuld“, sagte er schließlich.
„Deine Schuld?“
„Ja. Ich nahm ihn mit auf die Jagd, um ihm klarzumachen, dass die alten Geschichten untrennbar mit dem Praktizieren der alten Bräuche verbunden sind. Dass er ein Jäger sein muss, um ein guter Cree zu sein. Aber Simon war kein Jäger. Er war ein naachin, ein Träumer. Er liebte Geschichten und er hasste den Tod.“
Im Mondlicht sah Jem glänzende Spuren von Tränen auf den Wangen seines Vaters. Jakob schwieg lange.
„Du musst dich selbst auf die Suche nach Stevie machen“, sagte er schließlich. „Du bist sein Vater und kennst ihn am besten. Wenn man etwas verloren hat, muss man den Weg noch einmal zurückgehen, um es zu finden.“ Er nahm einen tiefen Zug aus seiner Pfeife und blies den blauen Rauch in den Himmel. Mondlicht formte seltsame Schatten aus dem Tabaknebel. „Aber allein kannst du es nicht schaffen. Lass dir von einer Medizinfrau helfen. Grace Winishut hat Einblick in die Zukunft, Jem. Sie kann dir helfen, deinen Geistern zu begegnen.“
„Sie ist eine alte Frau, Dad, die sich mit Kräutern und Heilpflanzen auskennt. Dass sie in die Zukunft blicken kann, halte ich für ein Gerücht. Ranee wird mir helfen.“ Jem straffte seine Schultern. „Sie ist jetzt meine Frau.“
Jakob schüttelte den Kopf. „Nicht sie, mein Sohn. Sie hat kein Interesse daran, Stevie zu finden. Ranee will nur dich, nicht den Jungen.“ Zögernd meinte er: „Diese junge Frau mit dem kurzen Rock, mit dem roten, ausländischen Wagen ...“
„Miss Toshiro vom Jugendamt?“ Jem glaubte seinen Ohren nicht zu trauen.
„Ja, die. Sie wird dir helfen.“
Jem bedachte seinen Vater mit einem Blick jäher Verwunderung. „Warum ausgerechnet sie, Dad? Ihr einziges Interesse besteht darin, mir irgendetwas anzuhängen, damit das Jugendamt mir Stevie wegnehmen kann. Wie kommst du bloß darauf, dass diese Frau mir helfen könnte? Sie ist eine Fremde.“
„Grace Winishut hat es gesagt. Deine Mutter war heute bei ihr. Du solltest mal bei Grace vorbeischauen, vielleicht hat sie einen Hinweis für dich.“
In einer hilflosen Geste hob Jem die Hände und ließ sie dann wieder sinken. „Tut mir leid, Dad, aber ich kann das nicht.“
In diesem Moment bemerkte er, dass sein Vater mit ihm zum kleinen, eingezäunten Friedhof gegangen war, wo auch Mary ihre letzte Ruhe gefunden hatte. Das war zu viel für ihn und er fand es nicht fair, jetzt auf diese Weise an Stevies Mutter erinnert zu werden. Das einfache Holzkreuz mit ihrem Namen war ein schwarzer Schatten in der Dunkelheit. Ihn befiel eine Verzweiflung, von der er gehofft hatte, sie für immer überwunden zu haben.
„Geh zu Grace“, drängte Jakob.
Jem schüttelte wortlos den Kopf. Er ließ seinen Vater stehen und machte sich auf den Weg zurück zu seinem leeren Haus mit den dunklen Fenstern. So sehr er seine Eltern liebte, es fiel ihm doch schwer nachzuvollziehen, dass sie tatsächlich an Manitus, an übernatürliche Wesen glaubten. Auch mit dem zweiten Gesicht der alten Grace konnte er nichts anfangen. Sein Volk besaß seit jeher die Fähigkeit, durch Träume zu sehen, er aber schien diese Fähigkeit verloren zu haben, seit er sich vom Geisterglauben seiner Vorfahren distanziert hatte.
Es gab Träume, die konnten schnell zu Alpträumen werden und manchmal standen Traditionen einem auch im Weg. Er war in eine Welt hineingeboren, in der die Dinge immer unübersichtlicher und komplizierter wurden. Und obwohl er stolz darauf war, ein Cree zu sein, widerstrebte es ihm, Halt im Geisterglauben zu suchen. Er hatte einen anderen Weg eingeschlagen, einen, der zwischen den beiden Welten verlief.
Bisher hatte es so ausgesehen, als ob das für einen wie ihn der richtige Weg war. Doch nun war alles durcheinander. Seine Mutter und sein Vater drängten ihn, sich spirituellen Beistand zu holen und die Geister zu befragen. Aber noch sträubte Jem sich gegen die Vorstellung, dass es an der Zeit sein könnte, umzudenken.
Jem betrat Stevies Zimmer, machte Licht und sein Blick streifte durch den Raum. Wie konnte alles nur so unverändert aussehen? Warum gab es keine einzige Spur, keinen einzigen Hinweis, dem er folgen konnte? War es möglich, dass die Angst, Stevie zu verlieren, ihn blind gemacht hatte? Jem nahm sich eins von Stevies getragenen T-Shirts, kroch in den niedrigen dunklen Bau aus Stühlen und Decken und hockte sich auf den Boden.
Was hatte Stevie hier drinnen bloß gemacht? Hatte er dagesessen und auf das Flüstern von Geheimnissen in der Dunkelheit gewartet?
Jem presste die Nase in das Hemd seines Sohnes und atmete den vertrauten Geruch ein. Vor seinen Augen sah er das winzige schreiende Bündel, das die Hebamme ihm vor neun Jahren in den Arm gelegt hatte. Der schwarze Flaum auf dem Kopf seines neugeborenen Sohnes, sein rotes, entrüstetes Gesicht, der zahnlose Gaumen. Die Energie, die in ihm steckte. Und Mary in ihrem Bett, erschöpft, aber so glücklich, wie er sie noch nie erlebt hatte.
Wenig später hatte es Komplikationen gegeben und die Hebamme hatte einen Arzt gerufen. Als der Krankenwagen eintraf, war Mary schon bewusstlos gewesen, aber das hatte Jem gar nicht richtig begriffen. Er hatte geglaubt, die Müdigkeit hätte sie übermannt. Alles war so schnell gegangen, er hatte sich nicht von ihr verabschieden können. Als man ihm sagte, dass sie gestorben war, weil durch ein gerissenes Blutgefäß Fruchtwasser in ihren Blutkreislauf gelangt war, lag Stevie schlafend an seiner Brust.
Einziger Trost für ihn war, dass Mary nicht geahnt haben konnte, dass sie sterben würde. Was mit ihr geschehen war, hatte sie noch weniger begriffen als er. „Ist er nicht wunderschön?“, waren die letzten Worte, die sie zu ihm gesagt hatte.
„Stevie“, flüsterte Jem in die muffige Düsternis der Höhle. „Wo bist du, mein Sohn? Wo bist du?“