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Zwei Gesichter

Die Reiter gelangten mit Shendja nach einem Gewaltritt ins nächste Dorf, wo das Kind von einer alten Dorfheilerin notdürftig versorgt wurde. Keiner glaubte, dass sie überleben würde, aber die Kleine erwies sich als zäh. Tagelang wälzte sie sich im Fieber und in Alpträumen und hielt die Dörfler mit ihren Fieberphantasien in Atem. Als sie schließlich wieder klar denken konnte, erzählte sie, was ihr zugestoßen war. Doch erst, als einige der Männer zurückkehrten, die die Toten bestattet und Shendjas Dorf geräumt hatten, wurde ihr Glauben geschenkt. Trotzdem zweifelten einige die Existenz der Rhusen an und wollten eher an wilde Tiere glauben.

Shendja verbrachte einige lange Wochen in dem Dorf, bis sie wieder geheilt war. Als sie das erste Mal auf die Dorfstraße trat, bemerkte sie sofort, dass etwas nicht stimmte. Alle starrten sie erst an und vermieden es dann in ihre Nähe zu kommen, oder sie anzusehen. Zuerst glaubte sie, dies sei, weil sie fremd war. Aber schließlich bekam sie mit, wie hinter ihrem Rücken getuschelt wurde. Worte fielen wie: hässlich, scheußlich, dämonisch.

Sie floh zu der alten Dorfheilerin und weinte sich in deren Armen aus.

„Bin ich so hässlich?“ fragte sie schließlich verzweifelt. Die Heilerin überlegte. Schließlich holte sie einen alten vergilbten Spiegel hervor.

„Ich weiß nicht, ob es richtig ist, es dir zu zeigen, aber ich glaube du musst wissen wie du aussiehst und auf andere wirkst.“

Zögernd ergriff Shendja den Spiegel und holte tief Luft, bevor sie hineinsah. Fast augenblicklich fuhr sie zurück und ließ den Spiegel fallen. Die Dorfheilerin hatte das vorhergesehen und fing ihn rechtzeitig auf, bevor er am Boden zerschellen konnte.

„Das bin ich nicht“, keuchte Shendja. „Nein, nein!“

Verzweifelt sah sie in die mitleidigen Augen der Frau und begriff, dass es die Wahrheit war, die sie gerade gesehen hatte. Wieder langte sie nach dem Spiegel und sah hinein. Lange starrte sie in das jetzt fremde Gesicht. Die rechte Gesichtshälfte war blass und mager, aber zumindest unversehrt. Aber die linke Seite war kaum mehr menschlich zu nennen. Das rohe Fleisch war verheilt und hatte eine Narbenhaut gebildet, die aus Knoten, Striemen und Wülsten zu bestehen schien. Ein lidloses Auge saß starr und fremd in dem Narbengeflecht. Der linke Mundwinkel wurde von der Narbenhaut gestrafft und nach unten gezogen. Er verlieh dem Gesicht einen bösartigen, ja fast dämonischen Charakter, zumal selbst die Lippen vernarbt waren. Es war niemandem zu verdenken, wenn er Angst vor diesem Gesicht bekam.

Shendja legte schließlich den Spiegel zur Seite und starrte wie blind gegen die Wand. Aber die Tränen blieben aus.

„Was soll ich nur machen?“ fragte sie leise.

Die Dorfheilerin schwieg. Wie sollte sie auch antworten? Sie hatte schon herumgefragt, aber niemand war bereit dieses arme, hässliche Geschöpf aufzunehmen. Und sie selber – nun, eigentlich hatte sie Kinder noch nie gemocht. Abgesehen davon war es mühsam genug, sich selbst zu ernähren.

Shendja verbrachte nur noch einige Tage in dem Dorf. Dann war sie über Nacht verschwunden. Niemand weinte ihr nach. Einige waren erleichtert, andere bedauerten das arme Wesen, aber insgesamt waren alle der Meinung, dass die Kleine wohl nur das Unglück anziehen würde.

Zweigesicht

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