Читать книгу Zweigesicht - Antje Marschinke - Страница 8
ОглавлениеEin Versteck
Shendja tat wie ihr die Heilerin geheißen hatte und begrub die Tote unter der alten Eiche am Haus. Mehrere Tage lang saß sie untätig in der Hütte herum und wusste nicht, was sie tun sollte. Ihre Gedanken kreisten nur um Ara, ihre Einsamkeit und Verzweiflung. So wurde sie von den beiden Männern, die plötzlich vor ihrer Hütte standen, völlig überrascht.
„Ara?“
Der Ruf schreckte Shendja hoch. Hastig eilte sie nach draußen und vergaß ganz, dass sie ihren Mantel nicht trug. Die Männer starrten sie entsetzt an.
„Ara?“ fragte einer flüsternd. Shendja wendete ihnen schnell die gesunde Gesichtshälfte zu.
„Ara ist tot“, sagte sie dann. „Sie ist vor ein paar Tagen gestorben.“
Die Männer wichen zurück.
„Sie muss ein Dämon sein“, flüsterte der zweite. „Vielleicht hat sie Ara getötet.“
Shendja starrte ihn schockiert an.
„Ich bin kein Dämon! Ara war meine Lehrerin, meine Freundin. Wie hätte ich sie töten können“, rief sie schließlich. „Außerdem war sie viel stärker und klüger als ich.“
Aber die Männer wichen weiter zurück.
„Verschwinde! Mach dass du fort kommst! Auch wenn du kein Dämon sein solltest, ein solches Gesicht kann nur eine Strafe der Götter sein“, rief der Erste und griff dabei nach seinem Bogen. Jetzt wich Shendja ängstlich zurück.
„Bitte tut mir nichts. Ich habe Ara bestimmt nicht getötet. Ich bin doch ihre Schülerin gewesen.“
Der Mann hatte jetzt einen Pfeil eingelegt.
„Verschwinde, oder ich jage dir einen Pfeil zwischen die Rippen.“
Shendja sah sich verzweifelt nach einer Deckung um. Schließlich rannte sie auf die alte Eiche zu. Sie hatte den Baum fast erreicht, als der Mann ihr den Pfeil nachschickte. Entweder hatte er wirklich schlecht gezielt oder ... nun, oder es waren andere Kräfte im Spiel. Jedenfalls überquerte der Pfeil das Grab der alten Ara, flog gut einen Meter an Shendja vorbei und blieb dann zitternd in der alten Eiche stecken. Shendja sprang hinter den Baum und schlug sich ins Gebüsch. Bald blieb sie stehen und lauschte. Die Männer schienen sie nicht zu verfolgen. Aber vielleicht blieben sie da, um sie bei ihrer Rückkehr zu töten. Shendja hockte sich in einen Busch und beschloss, einige Zeit zu warten. Frierend und ängstlich verbrachte sie ein paar Stunden in ihrem Versteck. Dann schlich sie sich vorsichtig zur Hütte zurück. Es war niemand mehr zu sehen. Leise betrat sie die Hütte. Es war keine direkte Unordnung zu erkennen, aber offensichtlich hatten die Männer die Hütte durchsucht und das Wertvollste mitgenommen. Zerstört hatten sie dabei nichts. Der Respekt vor der toten Heilerin war wohl noch groß genug gewesen. Zudem war es nie ratsam, eine Tote zu verärgern.
Shendja hockte sich nieder und überlegte. Hier bleiben konnte sie wohl nicht. Ein erneutes Zusammentreffen mit den Dörflern würde sie wahrscheinlich nicht überleben, und leider war der Standort von Aras Behausung allgemein bekannt. Also musste sie sich ein anderes Versteck suchen, und zwar so schnell wie möglich.
Shendja rappelte sich auf und begann, die wenigen Habseligkeiten zusammenzupacken, welche für die Männer uninteressant gewesen waren: Kräuter, Wurzeln, Öle und diverse Heilzutaten, ein paar alte zerbeulte Töpfe und Decken, Feuersteine und Zunder, Garn, Nähzeug und kleinere Haushaltsutensilien. Erleichtert bemerkte sie, dass Aras Geheimversteck unter der Feuerstelle unbemerkt geblieben war. Es beinhaltete ein paar Goldstücke und ein altes Medaillon. Shendja verbarg diesen Schatz in ihrem Brustbeutel. Sie war froh, dass die Männer ihn nicht gefunden hatten. Es wäre nicht recht gewesen, wenn sie das Medaillon an sich genommen hätten. Ara hatte es schließlich ihr vermacht.
Endlich hatte Shendja ein riesiges Bündel zusammengepackt. Etwas hoffnungslos betrachtete sie den Berg an Gegenständen. Er war fast größer als sie selbst, aber sie wusste, dass sie alles gebrauchen konnte. Sie musste es einfach schaffen, ihn zu tragen.
Mit ein paar Riemen stellte sie sich eine Art Rucksackschlaufen her. Dann zog sie sich das Bündel auf den Rücken und stolperte ächzend nach draußen. Langsam wurde es dunkel, aber Shendja war fest entschlossen sofort aufzubrechen. Vielleicht kamen die Männer mit Verstärkung zurück, um sie zu suchen, und diesem Risiko wollte sie sich nicht aussetzen.
Shendja wanderte die halbe Nacht hindurch, bis ihre Beine unter der Last nachgaben. Erschöpft schlief sie neben ihrem Gepäck ein.
Der nächste Tag begrüßte sie freundlich und weckte sie früh mit fröhlichem Vogelgezwitscher. Shendja setzte sich auf und rieb sich die Augen. Ihr Magen fing erbärmlich an zu knurren. Kein Wunder, hatte sie doch seit Tagen nichts richtiges mehr gegessen. Mühsam rappelte sie sich hoch und sah sich um. Sie befand sich mitten im Wald und kein Weg wies auf menschliche Behausungen hin. Shendja war bekannt, dass im Norden die Dörfer lagen. Im Süden dagegen erstreckte sich ein unbekannter Wald, der von den Menschen nach Möglichkeit gemieden wurde. Zu viele Gefahren lauerten in ihm und Geschichten von wilden und unheimlichen Geschöpfen hielten sie daraus fern. Aber im Moment war dies Shendja ziemlich egal. Die größte Gefahr drohte ihr jetzt von den Menschen, davon war sie überzeugt. Also wollte sie diese so weit wie möglich hinter sich lassen. Sie zog sich ihr Gepäck auf den Rücken und stapfte tapfer weiter.
Mehrere Tage durchwanderte sie den Wald. Unterwegs ernährte sie sich von Früchten, Pilzen und Beeren, so wie sie es von der Heilerin gelernt hatte.
Schließlich fand sie, was sie brauchte: Auf einer kleinen Anhöhe im Wald türmten sich Felsen und Steine, die von Rissen durchzogen waren. Eine der Spalten war recht breit, und als Shendja neugierig hineinsah, erkannte sie, dass vor ihr eine geräumige Höhle lag. Schnell bastelte sie sich eine Fackel und kletterte hinein.
Die Höhle war relativ groß, und Shendja konnte mit ihren zwölf Jahren problemlos aufrecht stehen. Doch ein ausgewachsener Mann hätte wohl nur gebückt umhergehen können. Das störte Shendja natürlich nicht im Mindesten. Begeistert durchforschte sie alle Ecken und Winkel. Offensichtlich waren hier ein paar Raubtierlager gewesen, aber das schien lange her zu sein. Shendja beschloss, erst einmal hier zu bleiben.
Im Nu hatte sie ihr Gepäck hineingetragen und begann dann, die Höhle zu säubern und häuslich einzurichten. Der erste Abend in ihrem neuen Heim war wie eine Offenbarung für sie. Ihr wurde jetzt wirklich bewusst, dass sie völlig auf sich allein gestellt war, und der Verlust von Ara wog schwer - fast schwerer, als der ihrer Familie. Aber sie spürte, dass sie nun die Kraft und den Willen hatte zu überleben. Sie war nicht bereit zu sterben.
Die Monate vergingen, und Shendja lebte sich völlig in ihrer Umgebung ein. Sie durchstreifte die Gegend nach Nahrung und kümmerte sich um verletzte Tier, - aber niemals legte sie dabei ihren Kapuzenumhang ab. Sie gewöhnte es sich sogar an, in ihm zu schlafen. Zu fest war in ihr der Wille verankert, ihre Entstellung vor ihrer Umwelt zu verbergen.
Alles in allem fühlte sie sich wohl - wenn auch einsam. Zwar hatte sie ständig verletzte und kranke Tiere um sich, die ihr auch nach Gesundung die Treue hielten und sie ab und zu besuchten. Doch das war kein Ersatz für menschliche Kontakte. Manchmal glaubte sie sogar, das Sprechen verlernt zu haben, und dann sang sie laut ein paar Kinderlieder. Kein Mensch hörte ihr zu - nur der Wald und seine Bewohner.