Читать книгу Zweigesicht - Antje Marschinke - Страница 7

Оглавление

Die Ausbildung

Die nächsten Tage und Wochen vergingen für sie wie im Flug. Ara merkte schnell, dass Shendja ein sehr rasches Aufnahmevermögen hatte und eine natürliche Begabung für den Umgang mit Kräutern und Tieren in sich trug.

Ständig schleppte sie kranke und verletzte Tiere herbei und sah gespannt zu, wie Ara diese heilte. Schließlich beschloss die alte Frau, das Kind in die magische Welt der Heilkunst einzuführen. Vielleicht würden dann ihre wahren Kräfte offenbar.

Es war abends und Shendja hatte eine junge Krähe gefunden, deren Flügel mehrfach gebrochen war. Ara setzte das Tier vorsichtig auf den Boden und befühlte den Flügel. Schließlich sah sie Shendja durchdringend an.

„Gib mir deine Hand, Shendja“, befahl sie. Shendja gehorchte etwas verwirrt. Noch nie hatte die alte Frau sie während einer Heilung darum gebeten.

Ara ergriff ihre Hand.

„Schließe deine Augen und lausche nach deinen Gefühlen. Und wenn du sie hast, dann fühle weiter, bis du meine hast, und von meinen Gefühlen aus wirst du zu denen der Krähe gelangen.“

„Aber, wie soll das gehen?“ fragte Shendja verwirrt.

„Frage nicht, sondern fühle!“

Shendja schloss die Augen und versuchte sich zu konzentrieren. Aber sie wusste nicht auf was. Gefühle, was waren denn Gefühle? Etwas nicht greifbares, etwas, was sich veränderte, wahrscheinlich ständig. Wie sollte man so etwas fühlen? Shendja spürte Aras kräftige Hand und konzentrierte sich auf den beruhigenden Druck, der von ihr ausging. Ja, es war ein beruhigendes Gefühl. Ein Gefühl.

Shendja versank in einen tranceartigen Zustand, als sie in die Welt der Gefühle eintauchte. Sie spürte sich selbst, ihren Körper, ihre Gesundheit und ihre Leiden. Dann tastete sie sich wieder zu Aras Hand, und auf einmal war da diese Kraft. Die Kraft, die sie bei ihrer ersten Begegnung schon gespürt hatte. Sie war ruhig und sanft, aber stark wie ein Fels. Sie besaß Risse und Unebenheiten, Narben und Wunden, aber auch eine alte Schönheit. Shendja trieb es weiter und sie gelangte auf die nächste Seite. Der Übergang zu der Krähe war abrupt. Plötzlich empfing sie eine Welle des Schmerzes und der Angst. Erschrocken prallte Shendja zurück, taumelte in Ara hinein. Dabei verlor sie die Orientierung und stürzte tief. Ara bemerkte ihre Not und fing ihren Geist mit sanftem Griff. Vorsichtig zog sie Shendja wieder ins Bewusstsein.

Shendja öffnete langsam die Augen und starrte Ara an.

„Du bist krank“, flüsterte sie. „Ich habe es gesehen, da unten. Es war schwarz, schwarz und böse. Es wird dich töten. Oh Ara, das darf nicht sein, bitte mach dich gesund.“

Sie warf sich weinend in Aras Arme. Die alte Heilerin wiegte sie tröstend hin und her.

„Kleine Shendja“, murmelte sie. „Es tut mir leid, dass du das gesehen hast. Es hätte nicht sein dürfen - und ich habe nicht geahnt, dass du bereits beim ersten Mal das Vermögen dazu hast. - Ich kann mich nicht heilen. Was du gesehen hast, war der Tod. Aber der Tod ist nicht böse. Er nimmt das, was ihm zusteht. Sieh, ich bin alt - sehr alt sogar, und das ist meine Krankheit. Nichts kann den Tod aufhalten. Nichts außer schwarzer Magie, und selbst diese hält ihn nicht auf, sondern bedient sich seiner nur. Aber habe keine Angst Kind. Ich habe noch ein, zwei Jahre vor mir, und diese werden wir beide gut nützen. Ich möchte, dass du in diesen Jahren alles Praktische lernst, was ich weiß. Ich bin beileibe keine Weise Frau, nur eine kleine alte Waldheilerin, aber ich werde mein Bestes tun, um dich auszubilden. Du bist begabt Shendja, und wenn du nur willst, wirst du eine gute Heilerin werden.“

Und so geschah es.

Ara unterrichtete Shendja nach bestem Vermögen und Gewissen. Shendja lernte in den nächsten Monaten die Grundzüge der praktischen Heilkunst und zumindest die Theorie der magischen Heilkraft kennen. Da sie eine aufmerksame und begabte Schülerin war, machte sie rasche Fortschritte.

Von den Rhusen war in dieser Gegend nichts mehr zu hören und zu sehen. Sie schienen sich wieder in den Wald zurückgezogen zu haben, und die Menschen vergaßen ihre Existenz nur zu gerne. Auch Shendja verdrängte ihre Erinnerungen, und die Zeit bei der Heilerin gehörten mit zu der Glücklichsten in ihrem bisherigen Leben.

Nur ab und zu trübte ein Schatten ihren Lerneifer. Das waren die Tage, an denen Ara sie mit in die umliegenden Dörfer nahm, um dort die Dorfheilerinnen bei der Arbeit zu unterstützen. Das war mitunter nötig, da die gewöhnlichen Heilerinnen über keine oder nur sehr geringe magische Kräfte verfügten. Ara wurde manchmal zur Retterin in letzter Not. Ab und zu wurde sie von Boten hergebeten, aber häufig schien sie auch zu spüren, wann und wo sie gebraucht wurde.

Shendja hasste die Aufenthalte im Dorf. Sie kamen zwar selten vor, prägten sich aber tief in ihr Bewusstsein ein. Das erste Mal endete fast in einem Fiasko. Shendja wurde angestarrt wie ein Dämon und nur die energische Hand von Ara konnte verhindern, dass Steine geworfen wurden. Ara war selbst schockiert über das Verhalten der Dörfler. Sicher, Shendjas zweites Gesicht war kein schöner Anblick, aber dass die Menschen so heftig reagierten, hatte sie nicht erwartet. Sie vergaß dabei, dass sie in Shendja eine völlig andere Persönlichkeit sah und sich an deren Anblick gewöhnt hatte.

Doch dieses erste Mal war Ara eine Lehre. Da sie nicht einsah, Shendja allein zu Hause zu lassen, fand sie eine andere Lösung. Aus einem alten schwarzen Stoff nähte sie einen Umhang mit einer weiten Kapuze, die Shendja sich tief ins Gesicht ziehen konnte. Die Farbe schwarz war dabei vielleicht etwas unglücklich, aber Ara besaß nichts anderes.

Shendja machte die Farbe überhaupt nichts aus. Sie war froh über ihr neues Kleidungsstück, und dieses war so groß, dass sie wohl ohne Probleme noch hineinwachsen konnte. Auch ihr war dieses Erlebnis im Dorf eine weitere bittere Lehre gewesen. Insgeheim beschloss sie, dass sie nie wieder irgendeinem Menschen ihr Gesicht zeigen würde. Jedenfalls nicht freiwillig.

Ara ahnte nichts von ihrem Entschluss. Aber auch wenn sie es gewusst hätte - was hätte sie dagegen sagen sollen?

Die weiteren Dorfbesuche verliefen einigermaßen ruhig. Zwar erregte die kleine Shendja in dem schwarzen großen Umhang einiges Aufsehen, aber Ara war eine anerkannte Persönlichkeit, die respektiert wurde. Wenn sie die kleine Gestalt in die Lehre nahm, musste das wohl seine Richtigkeit haben.

Auf diese Weise sah und lernte Shendja auch ein bisschen über die Heilkunst am Menschen. Allerdings bekam sie nie die Gelegenheit, einen Menschen selber zu heilen. Dazu war das Misstrauen der Leute gegenüber dieser gesichtslosen Gestalt mit den Kinderhänden doch zu groß. Ara war zudem der Meinung, dass eine Heilung am Menschen noch zu früh sei.

Viel zu selten waren die Gelegenheiten zum Lernen gegeben.

Und schließlich war es für eine solche Unterweisung zu spät.

Es war ein nebliger und kühler Frühlingstag. Shendja war, wie schon so oft, als erste auf den Beinen um Feuer zu machen und Tee aufzusetzen. Als sie Ara wecken wollte, sah sie, dass diese schon erwacht war. Mit trüben Augen starrte die alte Frau zur Decke.

„Ara“, sagte Shendja leise. „Willst du nicht aufstehen?“

Ara wendete ihr langsam den Blick zu und betrachtete sie einige Minuten still. Schließlich flüsterte sie.

„Kleine Shendja, nun ist es wohl so weit. Ich werde dich verlassen müssen.“

Shendja schluckte krampfhaft und sank neben der Heilerin auf den Boden. Angstvoll umklammerte sie die alte runzlige Hand auf der Bettdecke.

„Nein“, flüsterte sie.

Ara lächelte müde. „Doch Shendja, es muss sein. Oder möchtest du, dass ich altersschwach und hilflos im Bett liege, abhängig von anderer Leute Hilfe und Gnade? Du bist noch zu jung, um für zwei zu sorgen. Fast befürchte ich, noch zu jung um dich selber am Leben zu erhalten. Ich wäre nur eine Belastung für dich.“

„Niemals“, rief Shendja verzweifelt. „Bitte lass mich nicht alleine. Bitte! Du musst mir noch soviel beibringen ... und ... und ...“

„Ruhig Shendja“, flüsterte Ara. „Natürlich könnte ich dich noch einiges Lehren, aber dazu fehlt mir leider die Zeit. Doch du trägst eine starke Begabung in dir und diese wird dir den rechten Weg zeigen. Ich selber war in jungen Jahren eine ziemlich missratene Schülerin und meine Lehrerin war auch nicht die Beste, deswegen mag ich dir ungern Rat für deinen Lebensweg geben. Aber vielleicht nehmen dich die Weisen Frauen aufgrund deiner Begabung in die Lehre - vielleicht. Ich kann dir das natürlich nicht versprechen, doch du solltest es versuchen.“

„Aber wie soll ich zu ihnen finden?“

„Nun, ich denke mir, die Zeit wird dir deinen Weg weisen. Die Weisen Frauen findest du in Thlandian. Und wie gesagt, ich weiß nicht, ob sie dich für eine weitere Ausbildung aufnehmen würden. Aber du musst mir eines versprechen, Shendja. Egal was die Menschen, auch die Weisen Frauen, dir sagen oder antun, verurteile deswegen nicht alle. Versprich es mir.“

Shendja senkte den Kopf. „Ich verspreche es“, flüsterte sie. Ara nickte zufrieden und streichelte Shendjas Wange.

„So ist es recht. Begrabe meinen Körper neben der alten Eiche hier am Haus, das bitte ich dich noch. Mit meiner Habe kannst du tun, was du willst. Es gehört jetzt alles dir. Kleines - lebe wohl. Und vergiss nicht, dass ich dich sehr liebe und für dich da sein werde, wann immer ich es vermag.“

Ara schloss die Augen und ihr Gesicht entspannte sich. Sanft glitt sie in das Reich der Toten hinüber.

Shendja saß lange bei dem leblosen Körper und starrte auf das liebe alte Gesicht. Tränen rannen in dicken Bahnen über ihre Wangen. Es sollten die Letzten für eine lange Zeit sein.

Zweigesicht

Подняться наверх