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Die Alte

Shendja wanderte weit. Sie zog am Wald entlang von Dorf zu Dorf, aber überall wurde sie abgewiesen. Manchmal mit Steinen, manchmal nur mit harten Worten. Ab und zu warf man ihr etwas Essbares vor die Füße. Das reichte gerade so aus, um sie auf den Beinen zu halten. Es war überhaupt ein Wunder, dass sie, allein und hilflos wie sie war, die Wanderung unbehelligt überstand. Doch es war nur noch eine Frage der Zeit, wann sie vor Hunger und Erschöpfung sterben würde.

An einem grauen Nachmittag suchte Shendja vor dem Nieselregen in einem Busch Schutz. Erschöpft und frierend ruhte sie sich aus. Sie wusste, dass sie dringend etwas zu Essen und Wärme brauchte. Längst war sie schwer erkältet und jederzeit konnte Fieber hinzukommen. Shendja war klar, dass dies ihren Tod bedeutete. Aber mittlerweile war sie so schwach, dass ihr der Gedanke zu Sterben kaum noch Furcht bereitete.

Plötzlich sah sie durch den Wasserschleier eine leichte Bewegung. Angestrengt starrte sie durch das Blattwerk und sah eine kleine, gebeugte Gestalt aus dem Wald treten. Shendja konnte das Gesicht nicht erkennen, aber irgendwie spürte sie, dass in dieser kleinen Gestalt eine mächtige Kraft ruhte. Ängstlich kauerte sie sich zusammen und versuchte mäuschenstill zu sein. Aber, wie das meistens so ist, genau in diesem Moment spürte sie ein Kitzeln in der Nase und ehe sie es unterdrücken konnte, nieste sie mit voller Lautstärke. Shendja erstarrte vor Angst. Die kleine Gestalt wendete sich augenblicklich in ihre Richtung und kam auf sie zu. Shendja hatte keine Kraft mehr fortzulaufen. Zitternd und voller Entsetzen erwartete sie die Ankunft des Fremden. Schließlich bückte sich das Wesen und starrte durch den Busch in ihr Gesicht. Shendja blickte in zwei lebhafte schwarze Augen, die in einem alten runzligen Gesicht saßen und sie jetzt aufmerksam betrachteten. Shendja schlug die Hände vors Gesicht.

„Geh weg“, wimmerte sie. „Bitte, geh weg!“

Da spürte sie eine Hand sanft über ihr Haar gleiten.

„Kleines Mädchen“, murmelte eine alte, aber weiche Stimme. “Ich glaube, du brauchst etwas Warmes zu essen und eine Menge Schlaf. Meinst du nicht auch?“

Shendja zitterte.

„Hab keine Angst, Kleines. Ich heiße Ara und will dir bestimmt nichts Böses. Wenn du es schaffst aufzustehen und zu laufen, gehen wir beide zu mir, und dort kannst du dich ausruhen. Nun, was meinst du?“

Shendja senkte langsam die Hände und blickte furchtsam in das alte Frauengesicht.

„Aber ich bin hässlich“, flüsterte sie. „Siehst du? Alle haben Angst davor und mögen mich nicht.“

Ara strich sanft über die entstellte Gesichtshälfte.

„Was ist schon ein hässliches Gesicht? Du magst äußerlich entstellt sein, aber innerlich bist du ein hübsches Mädchen - und nur das zählt. Komm Kleines - lass uns nach Hause gehen.“

Sie wendete sich ab und humpelte wieder auf den Wald zu. Shendja zögerte erst, aber dann rappelte sie sich hoch. Dies waren die ersten freundlichen Worte nach langer Zeit gewesen und sie spürte, dass die Alte ihr nichts Böses antun würde. Hastig eilte sie hinter Ara her.

Die alte Frau führte das Kind durch den Wald tief ins Unterholz. Ab und zu blieb sie stehen und wartete auf Shendja, um ihr ermutigende Worte zuzusprechen. Das kleine Mädchen biss tapfer die Zähne zusammen und war fest entschlossen durchzuhalten.

Nach einiger Zeit gelangten sie an eine kleine Holzhütte, die direkt neben einem Waldsee stand. Sie war alt und etwas baufällig, bot aber Schutz vor Wind und Wetter.

Innen zündete Ara sofort ein Feuer an, welches den Raum in ein warmes Licht tauchte.

Shendja war erschöpft zu Boden gesunken und sah zu, wie Ara ein kleines Lager aus Stroh und Decken herrichtete.

„So mein Kind, jetzt leg dich hierhin. Aber vorher zieh dich aus, sonst machst du noch alles schmutzig. An dir scheint der Dreck von halb Ruan zu hängen.“

Ara lächelte ihr freundlich zu. Shendja gehorchte und krabbelte dann unter die Decken, wo sie sich zusammenrollte.

Die alte Frau machte sich an einigen Töpfen und Tiegeln zu schaffen. Das Mädchen versuchte erst ihr zuzusehen, aber bald fielen ihm die Augen zu und es sank in einen leichten Schlummer.

Ara rührte in ihren Töpfen bis es brodelte und warf ab und zu nachdenkliche Blicke auf das kleine menschliche Bündel. Dieses arme Wesen schien Entsetzliches durchgemacht zu haben. Nach der Art der Verletzungen zu urteilen war sie von einem ausgesprochen bösartigen Wesen so entstellt worden - und es gab nur eine Art von Lebewesen in dieser Gegend, die mit dieser Handschrift arbeitete. Ein Wunder, dass die Kleine noch lebte. Ara beugte sich über das schlafende Kind und legte vorsichtig eine Hand auf dessen Stirn. Verwundert lauschte sie auf die Schwingungen, die ihr entgegenströmten. Kein Zweifel. In der Kleinen schlummerte eine große Kraft, von der sie noch nichts ahnte. Aber war es eine Kraft des Heilens - oder des Zerstörens? Nun, es gab nur eine Möglichkeit, um das herauszufinden. Zumindest hatte Ara nur eine Möglichkeit. Sie musste das Kind bei sich behalten.

Sinnend betrachtete sie noch einige Zeit die zwei Gesichter des Mädchens. Ihr rechtes Gesicht war sanft und entspannt und strahlte eine friedliche Ruhe aus. Es war tatsächlich sehr hübsch. Das linke Gesicht aber war selbst im Schlaf zur Fratze verzerrt und schien zu leben. Zuckungen liefen darüber hinweg und an einigen Stellen nässte es. Das Auge starrte lidlos ins Ungewisse. Irgendwie gelang es dem Kind trotz des Lichteinfalls zu schlafen.

Ara zog sich zurück und kümmerte sich wieder um ihre Töpfe. Später schüttelte sie Shendja wach und reichte ihr eine Schale mit heißer Suppe.

„Trink, Kind! Das wird dich stärken und deine Erkältung lindern.“

Shendja trank schläfrig die Suppe und spürte, wie sich plötzlich ihre Sinne wieder schärften. Neugierig sah sie sich um. Die Hütte bestand aus einem einzigen Raum, der voll gestopft war mit Regalen und Schränken, Töpfen und Tiegeln, Säckchen und Kräutern.

„Du bist eine Heilerin, nicht wahr?“ fragte sie schließlich. Ara nickte.

„Kannst du...“ Shendja zögerte. „Kannst du mich nicht wieder heil machen?“ Sie sah flehend in Aras Augen. Diese schüttelte traurig den Kopf und ergriff ihre Hände.

„Nein mein Kind. Dafür ist es jetzt zu spät. Wenn ich von Anfang an hätte Hand anlegen können - vielleicht. Aber leider sind meine Heilkräfte nicht die besten und ich glaube, selbst die weisen Frauen im Rat hätten mit einer solchen Verletzung Schwierigkeiten. Weißt du, wir Heilerinnen können Wunden heilen und Knochen flicken, Krankheiten vertreiben und den Geist stärken. Aber das können wir nur, indem wir die Selbstheilung unterstützen und vielleicht korrigieren. In deinem Fall ist die Heilung beendet. Ich müsste dich erneut schwer verletzen, aber es ist fraglich, ob du eine solche Behandlung überstehen würdest. Es wäre ein zu großes Risiko.“

Shendja senkte den Kopf.

„Niemand wird mich mehr sehen wollen, und alle haben Angst vor meinem Gesicht. Ich wünschte ich wäre tot.“

Endlich weinte sie. Schluchzend umklammerte sie die Hände der Heilerin und weinte all ihr Leid der letzten Wochen hinaus. Ara spürte ihre Verkrampfung und hielt ruhig die kleinen Hände in ihren runzligen Fingern. Nach einiger Zeit beruhigte Shendja sich wieder.

„So“, meinte Ara. „Genug der Weinerei. Was hältst du davon, wenn du mir deinen Namen verrätst? Meinen kennst du ja schon.“

„Ara“, erinnerte sich Shendja. „Ich ... ich heiße Shendja.“

„Shendja. Ein hübscher Name. Nun Shendja, möchtest du mir deine Geschichte erzählen oder magst du damit noch warten?“

„Ich ... ich möchte lieber nicht“, flüsterte Shendja. Ara nickte verständnisvoll.

„Gut. - Wie wäre es, wenn du dich und deine Kleider jetzt wäschst? Und dann kannst du mir helfen, diese Kräuter dort zuzubereiten.“

Shendja gehorchte eifrig. Die Erkältung nahm sie kaum mehr wahr. Diese alte Heilerin war vielleicht der einzige Mensch auf der Welt, der sich vor ihrem Gesicht nicht fürchtete. Shendja war bereit alles zu tun, um bleiben zu dürfen.

Zweigesicht

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