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Die Harpyie

Der Winter nahte schnell, und er wurde hart und kalt. Shendja hatte sich gut vorbereitet und so gelang es ihr, zu überleben. Aber ein paar Mal schneite ihre Höhle ein und sie schaffte es gerade noch, sich ins Freie zu graben, bevor sie erstickte. Einige Male traf sie auch auf hungrige Waldwölfe und konnte sich nur durch Flucht auf die Bäume retten. Viele Stunden hockte sie dann frierend im Geäst und fluchte leise vor sich hin. Aber auch diese Gefahren überstand sie, und schließlich zog der Frühling wieder ins Land.

Shendja nahm ihre Wanderungen wieder auf und durchforstete die weitere Umgebung. Auf diese Weise entdeckte sie, dass einige Meilen von ihrer Höhle entfernt ein alter Weg durch den Wald führte. Er war breit, sogar befestigt, schien aber selten benutzt, was Shendja nur recht war. Doch sie beschloss, diese Straße im Auge zu behalten. Man konnte ja nie wissen, was für Gefahren auf ihr daherkamen.

Im Sommer diesen Jahres sah Shendja das erste Mal in ihrem Leben eine Harpyie. Sie stolperte förmlich über sie, als sie auf der Suche nach Pilzen war. Erst wunderte sie sich über das dunkle Bündel auf dem Boden. War es ein verletztes Tier? Als sie es vorsichtig auf den Rücken drehte, traute sie ihren Augen kaum. Sie blickte in ein zerkratztes, aber menschliches Gesicht, das von langem schwarzem Haar umrahmt war, welches wirr und ungepflegt in alle Richtungen stand. Ungläubig betrachtete sie den Körper, der dazugehörte. Er war nicht viel größer als sie selbst, aber nackt. Nur der Rücken war mit schwarzem Flaum bedeckt - genauso schwarz wie die Flügel, die diese Kreatur statt der Arme trug. Sie war deutlich weiblich, da sie kleine Brüste trug wie eine Menschenfrau. Der Brustkasten war aber sehr muskulös und fast doppelt so breit wie Shendjas. Die Beine waren im Verhältnis zum Körper kurz und unterhalb der Knie ebenfalls mit schwarzem Flaum bedeckt. Sie endeten in vierkralligen Vogelklauen, die sehr scharf und gefährlich aussahen. Als Shendja wieder die Flügel betrachtete, bemerkte sie an deren Enden ebenfalls eine scharfe Klaue.

Shendja musste erstmal schlucken. So ein Wesen hatte sie noch nie gesehen. Sie kramte in ihrem Gedächtnis nach irgendwelchen Anhaltspunkten. Schließlich fiel ihr tatsächlich eine alte Erzählung ein, die von fliegenden Dämonen berichtete. Nun, wie ein Dämon sah dieses Geschöpf nicht unbedingt aus. Im Moment wirkte es eher zerrupft und hilflos. Shendja tastete vorsichtig den Körper ab. Der Brustkorb hob sich schwach aber regelmäßig. Allerdings schienen ein paar Rippen angeknackst zu sein, und der rechte Flügel war am Unterarm gebrochen. Shendja überlegte kurz. Hier konnte sie wenig für die Frau - Shendja hatte schon beschlossen, sie erstmal als menschlich anzusehen - tun. Irgendwie musste sie die Verletzte in ihre Höhle bringen, aber Shendja wusste nicht, ob sie die Geflügelte so weit tragen konnte. Vorsichtig hob sie die Vogelfrau auf ihre Arme. Überrascht stellte sie fest, dass sie sehr leicht war - nicht schwerer als ein Kind. Nun, das konnte sie wohl schaffen.

Nach einem anstrengenden Marsch hatte sie ihre Höhle erreicht und versorgte sorgfältig die Verletzungen. Auch die Kratzer und kleinen Fleischwunden, die den Körper bedeckten, behandelte sie. Fasziniert stellte sie dabei fest, dass die Fußklauen stark verhornt und schuppig waren wie bei einem richtigen Raubvogel, während die restliche Haut weich und fast haarlos wie bei einem Menschen war. Auch die Schamgegend dieser Frau war wie bei Menschen gestaltet. Als Shendja fertig war, lag die Frau sauber gewaschen und mit kleinen Verbänden, Kompressen und einem festen Verband um ihren Brustkasten ausgestattet vor ihr. Den rechten Flügel hatte Shendja an den Körper geklappt und festgebunden, nachdem ihr klar geworden war, dass sie aufgrund der Federn keinen Schienenverband anlegen konnte. Schließlich bettete sie die Vogelfrau auf ihre Liegestatt und hockte sich daneben. Sie machte sich darüber Sorgen, dass die Kranke noch bewusstlos war. Hoffentlich hatte sie keinen Schaden am Kopf erlitten. Oberflächlich abgetastet war nichts festzustellen. Wie konnte sie das nur herausbekommen?

Aufgeregt biss sie sich auf die Lippen. Vielleicht ... in ihr stieg die Erinnerung an ihre ersten Versuche der Heilkunde an Ara und der Krähe empor. Damals hatte sie das erste Mal und bis jetzt auch das einzige Mal mittels der Heilmagie die Krankheit eines Menschen erkundet. Seitdem hatte sie zwar immer die Wunden von Tieren geheilt, aber nur mit normalen Heilkünsten. Lediglich die Verletzungen dieser Tiere hatte sie immer sehr treffsicher diagnostiziert. Vielleicht hatte ihr dabei die Heilmagie geholfen, aber sie hatte sie nie bewusst eingesetzt.

Shendja entschloss sich schließlich, den Körper der Vogelfrau zu erforschen. Ihr war zwar nicht wohl dabei, immerhin war Ara nicht da, um sie vor Fehlern zu bewahren, aber was blieb ihr anderes übrig?

Sie legte die Hand auf die Stirn der Kranken und schloss die Augen. Sie versuchte sich an das Gefühl für die Gefühle zu erinnern. - Und plötzlich war der Übergang da. Abrupt stürzte sie in eine tiefe Leere. Angstvoll bemühte sie sich zu orientieren. Langsam nahm sie ihre dunkle Umgebung wahr. Es war - ein Nichts. Shendja fühlte sich äußerst unwohl. Ihr war klar, dass das nicht richtig sein konnte. Irgendwie war die Gefühlswelt, das ganze Wahrnehmungsvermögen der Frau wie weggeblasen. Vorsichtig tastete sie sich vorwärts. Was war hier falsch?

Shendja erforschte lange den Körper der Patientin. Schließlich kehrte sie an den Ausgangspunkt zurück und verharrte. Sie weigerte sich, einfach aufzugeben. Irgendetwas musste sie tun können. Shendja verlor jeglichen Zeitbegriff. Sie bekam gar nicht mit, wie sie langsam aber sicher in einen tiefen Trancezustand abglitt. Irgendetwas zog sie fort. Tief und tiefer. Shendjas Geist fiel in eine unendliche Schwärze. Eine Schwärze, die immer präsenter wurde und sie immer mehr zu umklammern schien. War es diese Gewalt, oder war es einfach die böse Präsenz, die ihren Trancezustand durchbrach? Shendja wurde sich plötzlich ihres Zustandes bewusst. Diese Schwärze, sie war wie ein Mantel, der alles erstickte. Shendja versuchte ihren Geist zu befreien und merkte, wie sie sich noch mehr verstrickte. Verzweifelt hielt sie inne. Was konnte sie tun? Sie war Heilerin, nicht Kriegerin. Sie kannte keine Kampfmagie, hatte nie kämpfen wollen. Sie wollte heilen, nichts anderes. - Was hatte Ara zu ihr gesagt?

Wenn du mit Magie heilst, so ist das als würdest du die Krankheit in dich aufnehmen. Du durchlebst und durchleidest sie. Das Überleben ist die eigentliche Kunst. Schwere Krankheiten können nur von großen Heilerinnen überstanden werden. Das, was man als Heiler lernen muss, ist die eigenen Grenzen wahrzunehmen. Überschreitet man sie, so stirbt man. Es gibt viele, die sich überschätzt haben und einen qualvollen Tod erlitten. Das ist der Grund, warum auch gute Heilerinnen jegliche Magie nur im Notfall einsetzen.

Shendja hatte Ara damals nicht genau verstanden, aber jetzt ahnte sie, was damit gemeint war. Das Schlimme war, dass sie ihre Grenzen überhaupt nicht kannte - und diese Krankheit erst recht nicht. Es schien auch gar keine Krankheit zu sein - eher etwas abgrundtief Böses.

Aber sie wollte nicht aufgeben - nicht wenn sie dieser armen Kreatur vielleicht helfen konnte. Außerdem blieb ihr auch gar nichts anderes mehr übrig. Sie war schon zu tief in der Schwärze verstrickt. Die junge Heilerin gab sich einen Ruck und ließ sich fallen. Weit öffnete sie ihren Geist und nahm die Schwärze in sich auf. Sie spürte wie sie langsam von ihr ausgefüllt wurde. In ihr war diese ganze Leere, dieses zähe dichte Gespinst. Es weitete sich in ihr aus und schien zu wachsen, sich von ihr zu nähren, aber Shendja schirmte einen winzigen Teil ihres Selbst gegen diese Schwärze ab. Und plötzlich spürte sie, wie nicht nur Schwärze in sie floss. Da war Leben, ein Gefühl des Entsetzens und der Schmerzen. Shendja schottete sofort ihren Geist ab. Ihr Körper saß starr neben der Frau und ihre Hand glitt kraftlos von deren Stirn.

Die Vogelfrau öffnete verwirrt die Augen. Schwarze Pupillen standen in gelben Raubvogelaugen und registrierten beunruhigt die fremde Umgebung. Als sie Shendja erblickte, entfuhr ihr ein raues Krächzen wie ein Aufschrei. Starr musterte sie die Gestalt, deren Gesicht von einer schwarzen Kapuze in tiefe Schatten gehüllt wurde. Als die Gestalt sich nicht rührte, versuchte die Frau sich aufzurichten. Dabei stellte sie fest, dass sie überall Verbände trug und ihr rechter Flügel fest an ihren Körper gebunden war. Ein leichter Schmerz im Unterarm sagte ihr, dass ihre Knochen gebrochen waren. Vorsichtig sank sie wieder zurück und behielt das dunkle Wesen misstrauisch im Auge. Als ihr Blick auf die menschliche Hand fiel, musste sie sich auf ein Neues beherrschen. Hass und Angst brodelten gleichzeitig in ihr hoch. Ein Mensch! Einer ihrer schlimmsten Feinde. Wie viele Geschichten erzählten von menschlichen Grausamkeiten und menschlicher Heimtücke. Auch sie, Skreeh, war schon mit Menschen zusammengetroffen und trug in sich schmerzliche Erinnerungen daran. Skreehs Mund verzog sich zu einem entschlossenen Strich. Dieser Mensch sollte nur versuchen, ihr etwas anzutun - sie hatte immer noch ihre Klauen. Aber dann dachte sie daran, wie sorgfältig sie behandelt worden war. Sogar sauber gewaschen war sie. Und sie erinnerte sich an ihr Erlebnis vor dieser - Schwärze. Sie war auf dem Weg zu ihrem Nest gewesen. Ihre Jagd war erfolgreich verlaufen und sie hatte ein kleines Rehkitz zwischen den Klauen gehalten. Ihre Clan-Brüder und -Schwestern wären zufrieden gewesen. Dann war da plötzlich dieser eisige Luftzug. Unruhig flog sie ein Stück niedriger, aber diese Kälte folgte ihr und umhüllte ihren Körper, lähmte ihre Glieder. Und plötzlich begriff sie: Ein Luftdämon. Panikerfüllt schrie sie auf und ließ ihre Beute fallen. Und dieser Schrei war ihr Fehler gewesen. Er drang in ihre Lunge, in ihren Blutkreislauf, durchzog ihren Körper und griff dann gierig nach ihrem Geist. Skreeh wusste genug von Luftdämonen, um zu wissen, dass sie verloren war. Diese Geschöpfe nährten sich von der Lebensenergie anderer Lebewesen. Zwar waren sie äußerst selten und ein Mensch oder auch eine Harpyie langten ihnen für viele Jahrzehnte, aber dafür war das Opfer verloren. Und wenn es nicht das Glück hatte vorher zu sterben, dann lag es bis zum Tod lange Jahre in Bewusstlosigkeit.

Das letzte was Skreeh wahrgenommen hatte, war der Sturz in die Tiefe. Dann umhüllte sie eine tiefe Leere.

Skreeh wurde plötzlich klar, was dieser Mensch getan hatte. Atemlos betrachtete sie ihn. Er hatte diesen Dämon übernommen. Skreeh krächzte erheitert auf. Dieser Dummkopf! Offensichtlich hatte er nicht gewusst was er tat. Ihr Blick fiel wieder auf die Hände dieses Menschen. Jetzt bemerkte sie wie klein und glatt sie waren. Bei allen Winden, das musste noch ein halbes Kind sein. Skreeh erhob sich ächzend und streckte den gesunden Flügel aus. Vorsichtig stieß sie gegen die Kapuze bis diese zurückglitt und Shendjas Gesicht freigab.

Skreeh starrte fassungslos auf das zweigeteilte Antlitz. Sie erkannte sofort, dass nur Klauen diese Narben hervorgerufen haben konnten. Schließlich hatte sie selber ihre Krallen bereits häufig genug eingesetzt. Aber eine solche Zerstörung, so systematisch - so gründlich - hatte sie noch niemals gesehen. Dagegen war die zweite Gesichtshälfte tatsächlich hübsch.

Die Augen des Mädchens waren weit geöffnet und völlig leer.

Skreeh schauderte. Fast tat ihr die Kleine leid, aber um nichts in der Welt wollte sie wieder mit ihr tauschen. Sie überlegte, was sie jetzt tun sollte. Fliegen war im Moment unmöglich und Laufen war für eine Harpyie äußerst schwierig. Die Klauen waren dafür überhaupt nicht geeignet.

Skreeh blieb wohl erst einmal nichts anderes übrig, als abzuwarten. Ein weiterer Blick in die Runde zeigte ihr, dass genügend Essvorräte in Form von getrockneten Früchten, Pilzen und essbaren Pflanzen vorhanden waren, um einige Tage zu überleben. Ihr Blick fiel wieder auf das Mädchen. Vielleicht sollte sie die Kleine töten - es wäre eigentlich nur barmherzig. Aber sie bezweifelte ob sie sich überwinden könnte, Menschenfleisch zu essen. Außerdem widerstrebte es ihr zum Mörder an ihrer Retterin zu werden. Die Kleine war zwar ein Mensch, aber sie hatte sich trotzdem bemüht ihr zu helfen. Und wer wusste, was der Dämon nach ihrem Tod tun würde? Wäre er in der Lage, erneut in Skreeh zu fahren?

Skreeh verbrachte die folgenden Stunden, indem sie immer wieder in einen erschöpften Schlaf fiel, aus dem sie dann plötzlich hochschreckte - in Erwartung einer eisigen Kälte und Leere. Die Erinnerung an dieses hilflose Gefühl ließ sie nicht los, und die kleine starre Gestalt neben ihr war für sie fast unerträglich.

Irgendwann fuhr sie wieder hoch. Mittlerweile war ein neuer Tag angebrochen und einige Sonnenstrahlen erhellten die Höhle. Skreeh sah sich nach etwas Essbarem um, als sie plötzlich sah, was sie geweckt hatte.

Das Mädchen hatte sich aus seiner Starre gelöst und war zu Boden gesunken. Sie lag jetzt neben Skreeh, ihr hübsches Gesicht nach oben gewandt. Die Augen waren geschlossen und ihr Gesichtsausdruck war friedlich. Sie sah aus, als würde sie schlafen.

Skreeh wusste nicht, was sie davon halten sollte. War das nun ein gutes oder schlechtes Zeichen? Doch dann schüttelte sie ärgerlich den Kopf. Niemand konnte dem Luftdämon entrinnen. Wie denn auch?

Skreeh rückte etwas mehr von dem Mädchen ab. Das Ganze war ihr zu unheimlich. Schließlich siegte aber ihr Hunger und sie kroch so gut sie konnte zu den nächsten Nahrungsmitteln. Geschickt spießte sie mit ihrer Flügelkralle ein paar Früchte auf und verschlang sie hungrig. Ein Geräusch ließ sie schnell den Kopf wenden.

Das Mädchen hatte sich auf den Rücken gedreht und murmelte etwas. Schließlich verstummte es wieder. Skreeh war fast ein Pilz im Hals stecken geblieben. Das Gesehene war mehr als ungewöhnlich - es war unmöglich. Ein Dämonbesessener bewegte sich einfach nicht – niemals! Skreeh erstarrte vor Schreck, als sich das Mädchen plötzlich aufrichtete und sie mit einem verwirrten Blick ansah.

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