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Schwere Gedanken
ОглавлениеEine freundliche Morgensonne schien auf Thlandian, die Hauptstadt des vereinten Königreichs Candona. Warm strichen ihre Strahlen durch die noch ruhigen Gassen und kitzelten die ersten Bewohner wach. Ihre Wärme erreichte auch die beiden hohen Türme, die wie eherne Wächter östlich und westlich der Königsburg emporragten. Die Türme selbst ähnelten sich vom Aufbau her sehr. Es gab den weithin sichtbaren zentralen Turm und rechts und links jeweils einen kleineren. Umgeben waren diese Bauwerke von einer gewaltigen Mauer, die auch Raum für Wohnungen und Stallungen bot. Doch die Bewohner der beiden Turmanlagen waren recht unterschiedlich. Der westliche Turm war Sitz des Magierrates und hatte mehrheitlich männliche Bewohner. Der Ostturm wurde ausschließlich von Frauen bewohnt. Hier lebten, lernten und arbeiteten die Weisen Frauen: Heilerinnen mit magischen Kräften und Bewahrerinnen des Wissens um die Heilkunde.
Als die Sonnenstrahlen die Spitze des östlichen Turms beleuchteten, schloss eine ältere Frau, welche im obersten Turmfenster saß, mit einem leisen Seufzer die Augen und genoss die Morgenwärme auf den Augenlidern. Ihre langen silbergrauen Haare schienen im zunehmenden Licht wie echtes Silber zu glänzen.
Janira, Erste unter den Weisen Frauen, ließ wie jeden Morgen nicht nur den Blick über Thlandian schweifen, sondern sammelte auch ihre Gedanken, um auf den kommenden Tag vorbereitet zu sein. Doch in der letzten Zeit wurden diese Gedanken von vielen Zweifeln und auch von Furcht durcheinander gewirbelt.
Die Weise Frau versuchte wie so oft ihre Überlegungen zu ordnen. Was war heute Morgen der Auslöser für ihre Furcht gewesen?
Ihr Träume!
Wieder hatte sie von dem kleinen, rothaarigen Mädchen mit diesen finsteren Visionen geträumt. Visionen und Bilder von Dämonen, schwarzer Magie und furchtbaren Morden. Bilder, die sie immer wieder durch die Nächte begleiteten und sie daran erinnerten, dass die Sonnenstrahlen trügerisch waren. Sie vermittelten Wärme, obwohl sich Kälte in ihr Herz schlich und sie spendeten Licht, obwohl dunkle Mächte aus dem Norden langsam ihre Schatten nach Süden schickten. Schatten in denen Dämonen lauerten und schreckliche Dinge geschahen.
Janira hatte nicht alle diese Träume des Mädchens Dai-Dai mit eigenen Augen gesehen. Die meisten Bilder kannte sie durch die geistige Verbindung mit Shendja Zweigesicht, einer jungen Heilerin aus den südlichen Wäldern.
Bei der Erinnerung an diese faszinierende Frau krochen erneut Sorge und Furcht in Janira hoch.
Shendja Zweigesicht war ein Mysterium, das keine Weise Frau wirklich begreifen konnte. Ihr Gesicht war in ihrer Kindheit von Halbdämonen grausig entstellt worden, so dass sie es unter einer Kapuze vor allen versteckte. Doch waren es vor allem ihre magischen Kräfte, die unter den Weisen Frauen für Unruhe sorgten. Diese Magie war mit dem normalen Wissen, das im Turm der Heilerinnen seit Jahrhunderten weiter gegeben wurde, nicht zu erfassen.
Shendja hatte Wunder bewirkt: Sie befreite eine Harpyie von einem Dämon und nahm diesen in sich auf ohne Schaden zu nehmen; sie schloss Freundschaft mit dem geflügelten Volk und heilte deren noch ungeborenen Kinder; sie besiegte Krankheiten und Verletzungen, die jede andere Heilerin überfordert hätten – und sie hatte eine tiefe Verbindung zu der kleinen Dai-Dai, die weit über das hinaus ging, was eine normale geistige Beziehung unter Magiern und Heilerinnen war.
Von solchen Kräften hatte Janira noch nie gehört und eigentlich müsste sie sich über eine solch mächtige Magie freuen. Doch Shendja’s Gabe erfüllte Janira mehr mit Besorgnis. Sie fürchtete um die junge Heilerin, denn eines wusste die oberste Weise Frau gewiss: Ruan gab seine Magie niemals umsonst. Jeder bezahlte für seine Magie auf die eine oder andere Weise, und je stärker die Gabe, umso höher der Preis.
Und auch um die kleine Dai-Dai sorgte sie sich. Dieses von fürchterlichen Visionen geplagte Kind war auch aus einem anderen Grund zum Mittelpunkt der Aufmerksamkeit aller Magier geworden: Dai-Dai war ein Medium, und wer Zugang zu ihrem Geist fand, oder sie gar berührte, konnte seine magischen Kräfte gewaltig steigern. Somit war sie der Auslöser für unschöne Machtkämpfe im Magierturm geworden.
Begonnen hatte es mit dem Schwarzmagier Tmarus, der ihr Talent entdeckt und für seine schwarzen Künste missbraucht hatte. Janira war froh, dass diese Machenschaften von dem alten Magiermeister Sorbus durchkreuzt worden waren, der das Kind in die vermeintliche Sicherheit des Magierturms gebracht hatte. Doch ihr Erscheinen weckte die Gier nach Macht und Dai-Dai’s Kräften auch in anderen Magiermeistern, und nun war Tmarus auf der Flucht, Dai-Dai plötzlich verschwunden und der ganze Magierturm in Aufregung.
Janira hoffte sehr, dass Dai-Dai in Sicherheit war. Aufgrund einer leisen und etwas rätselhaften Bemerkung der Königin vermutete sie, dass das Mädchen Schutz bei Shendja Zweigesicht gesucht hatte. Da auch eine Kriegerin namens Iva aus dem Hause Uncinais verschwunden war, hielt Janira es für sehr wahrscheinlich, dass die Kriegerin das kleine Mädchen auf der Flucht begleitete, und dies erleichterte sie sehr. Sie kannte diese Frau als sehr zuverlässig und zielstrebig.
Zumindest musste Dai-Dai keine Furcht mehr vor diesem flüchtigen Tmarus haben. Der Schwarzmagier war auf dem direkten Weg nach Norden, zumindest berichtete das Magiermeister Sorbus, der sich mit seinen beiden Magierschülern Bunias und Palio an seine Fersen geheftet hatte. Der Magierrat hatte Sorbus beauftragt, Tmarus zu folgen und möglichst auszuschalten. Janira kannte Magiermeister Sorbus erst seit kurzem und wusste nicht viel um seine Fähigkeiten. Sie konnte nur hoffen, dass er und seine Schüler dem Schwarzmagier gewachsen waren. Doch eigentlich spielte Tmarus nur eine kleine Nebenrolle in einem weitaus größeren Spiel.
Ihre Gedanken glitten wieder zu Shendja und deren Aufgabe. Janira selbst hatte zugestimmt, dass die junge Frau nach Norden geschickt wurde, um mehr Informationen über diese drohende Gefahr aus dem Norden zu sammeln. Begleitet wurde sie von einer bunt zusammengewürfelten Schar ungewöhnlicher Menschen.
Janira schauderte es unwillkürlich, wenn sie an die Schwertträgerin Delia dachte. Die Kriegerin selbst war ehrlich und geradlinig, doch das Schwert Krás, welches sie bei sich trug, war das pure Böse: Getränkt und erschaffen von schwarzer Magie nur für einen einzigen Zweck, der Vernichtung von Dämonen. Jeder, der diese Waffe berührte, verlor seine Seele und war verdammt auf ewig.
Es war schon merkwürdig, vielleicht sogar schicksalhaft, dass ausgerechnet Delia dieses Schwert gefunden hatte, denn sie war wohl der einzige Mensch auf Ruan, der es berühren konnte, ohne Schaden zu nehmen. Auch sie trug eine seltsame Gabe in sich, - wenn man es denn eine Gabe nennen konnte. Denn eigentlich fehlte ihr etwas: Keine Magie war in ihr, keine Magie konnte bei ihr etwas bewirken. Auch Janira, die es gewohnt war Menschen um sich herum mit ihren magischen Sinnen zu erfassen, fühlte sich in der Nähe von Delia beinahe unwohl. Doch die Absichten der Schwertträgerin waren lauter, davon war die Heilerin überzeugt. Was die Beweggründe ihrer Weggefährten anging, vor allem die Ziele des Dariers Mibor, darüber war sich Janira nicht ganz so klar. Sicher, der Darier wurde getrieben von Rache, denn immerhin war sein Mentor, der Magiermeister Zharg, von dieser unheimlichen Macht getötet worden. Doch das Volk der Darier war schon immer bekannt für seine Intrigen und Machtspiele. Zumindest schienen Delias Freunde, die beiden Krieger Siler und Mohar, vernünftige Männer zu sein. Janira wusste, dass sie sich auf ihre Menschenkenntnisse verlassen konnte, und gerade dieser Mohar wirkte intelligent genug, um mäßigend auf diese ungewöhnliche Reisegruppe zu wirken. Und das würde sicher nötig sein!
Janira musste unwillkürlich lächeln, als vor ihrem geistigen Auge das Gesicht des letzten Reisemitglieds erschien. Magiermeister Duwock war jung, ehrgeizig und nicht unbedingt der diplomatischste Mensch. Sie kannte ihn schon seit einigen Jahren und hatte seinen Werdegang im Turm der Magier mit Interesse verfolgt. Sie mochte diesen jungen Zauberer, aber sie wusste auch um seine Schwächen. Eine davon war eine gewisse Arroganz, und diese würde mit Sicherheit für Spannungen zwischen ihm und Mibor sorgen. Janira hoffte, dass dadurch das Ziel der Reisegruppe nicht gefährdet wurde, nämlich das Auffinden von Informationen über die Ardruan, dem Felsenvolk aus den Nordbergen.
Wie die meisten Menschen wusste die Heilerin nicht viel über das verschollene Volk, nur dass es über Felsenmagie verfügte, mit der es unter anderem auch menschliche Städte geformt hatte, und dass die Ardruan als die Bewahrer der Geschichte Ruan’s galten. Doch seit vielen Jahrhunderten war dieses Volk von der Erdoberfläche verschwunden und niemand wusste um sein Schicksal.
Erst die jüngsten Weissagungen der Drachen und auch die Visionen Dai-Dai’s wiesen auf die Existenz von noch einer Ardruan hin, und diese Prophezeiung sagte deutlich, dass die Letzte der Ardruan wichtig war, wichtig im Kampf gegen das Böse.
Doch wo sollten sie die Letzte der Ardruan finden? In Thlandian gab es keine Aufzeichnungen darüber. Daher hatten der Magierrat, der König und sie selbst beschlossen, die Informationen dazu im Norden zu suchen, also dort, wo die Ardruan in der Vergangenheit den engsten Kontakt zu den Menschen gehabt hatten.
Janira seufzte wieder und öffnete die Augen. Ihr Blick glitt über die Straßen Thlandians, in denen sich immer mehr Bewegung zeigte. Die ersten Stimmen wehten hinauf zum Turm und schienen einen ganz normalen Tag zu verkünden.
Ihr Blick wanderte unwillkürlich nach Norden und tastete die Ferne ab nach einem unsichtbaren Feind. Einem Feind, den noch keiner gesehen hatte, aber der durch den Mund des sterbenden Zharg zu ihnen gesprochen hatte. Er hatte sie verhöhnt und sein Kommen sowie seinen Sieg angekündigt. Und als Zharg starb, zweifelte niemand der Anwesenden mehr an seiner Existenz und seiner Macht.
Die Weise Frau erschauerte bei der Erinnerung an diese furchterregende Stimme, doch dann breitete sich Entschlossenheit in ihrem Gesicht aus. Sie stand auf, den Blick immer noch nach Norden gerichtet.
„Wer auch immer du bist und wie viele Dämonen oder andere Kreaturen der Finsternis du schicken magst: Wir werden nicht verzagen. Unser Volk hat schon vielen Tyrannen und Schwarzmagiern die Stirn geboten und wir existieren immer noch.“
Janira’s Stimme klang leise doch entschlossen, beinahe trotzig, durch die Morgenluft und verwehte in Richtung Norden.
Ermutigt durch ihre eigenen Worte trat die Heilerin vom Fenster zurück und wandte sich ihrem Tagesgeschäft zu. Erst am Abend würde sie wieder ins Grübeln kommen, doch dann würde sie eine ebenso besorgte wie intelligente Gesprächspartnerin haben, nämlich Königin Pallasea.