Читать книгу Ein Tropfen vom Glück - Antoine Laurain - Страница 6

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Die Ladenwerkstatt im Erdgeschoss war vom Abendlicht durchflutet. Auf dem Tisch lagen die zweihundertsiebenundsechzig Fragmente einer Keramikstatue, die vor ihrem Sturz auf den Marmorboden eines Wintergartens eine gut achtzig Zentimeter hohe Bacchantin dargestellt hatte. Magalie hatte die Bruchstücke gezählt, nach Farbfamilien sortiert und auf verschiedene Haufen verteilt. Die hübsche Statue aus dem neunzehnten Jahrhundert war buchstäblich in tausend Stücke zersprungen. Ihr Besitzer hatte instinktiv richtig reagiert: Er hatte einen Handbesen genommen, alle Stücke in einen Karton gepackt und war zu Magalie gelaufen. Die meisten Leute denken, ein derart zersplitterter Gegenstand sei endgültig verloren. Doch sie täuschen sich. Im Gegensatz zu Lebewesen können Gegenstände wiederauferstehen. In drei Monaten würde die schöne Bacchantin wieder an ihrem Platz unter den Pflanzen ihres Glashauses stehen, und niemand würde auf die Idee kommen, dass sie einmal in zweihundertsiebenundsechzig Scherben auf dem Boden lag. Natürlich würde man vorsichtig mit ihr umgehen müssen, aber das war alles. Sie wäre wieder da. Wie alle Gegenstände, die seit fünf Jahren durch Magalie Lecœurs Hände gegangen waren: glasierter Tonkrug, Elfenbeinfigur, Fayence-Tasse, Opalglasvase … »Sie sind eine Zauberin« – wie oft hatte Magalie diesen Satz aus dem Mund ihrer Kunden gehört, ob Privatleute oder Antiquitätenhändler, und das war das schönste Kompliment, das man ihr machen konnte.

Nach ihrem Abschluss im Fach »Restaurierung und Konservierung« an der École de Condé hatte Magalie sich in mehreren Werkstätten weitergebildet, ehe sie mit siebenundzwanzig Jahren ihren eigenen Betrieb eröffnete. Sie hatte den Laden des Teppichhändlers in der Rue Edgar-Charellier Nummer 18 übernommen. Monsieur Raffi, Spezialist für Teppiche aus dem Iran, der dreißig Jahre dort ansässig gewesen war, ging vorzeitig in den Ruhestand. »Niemand will mehr Teppiche haben, Mademoiselle, die neue Generation träumt von gewachsten Parkettböden. Ich habe den Eltern dieser Leute Teppiche verkauft, und wenn sie sie erben, dann bringen sie sie mir zurück! Ich will ja meine Teppiche gerne zurücknehmen, aber an wen soll ich sie dann verkaufen? Es ist wie die Katze, die hinter ihrem eigenen Schwanz herläuft, Mademoiselle, sie rennt immer schneller im Kreis, aber es hat keinen Sinn, sie wird ihn nie fangen. Und ich, Azar Raffi, laufe in meinem Laden im Kreis, ich habe genug, ich gehe.« Zu dem Laden gehörte ein großes Studio im sechsten Stock des Hauses, ein Zusammenschluss von mehreren Dienstbotenzimmern, das Monsieur Raffi als Lager benutzte. Magalie renovierte es und machte daraus ihre Wohnung.

Der Einzug der Restauratorin war im Haus nicht unbemerkt geblieben. Magalie übte zwar einen herkömmlichen Beruf mit einem Bezug zu Kunst und Museen aus, doch ihre Erscheinung ließ eher an Gothic Rock und die Filme von Tim Burton denken: blasser Teint, blutrote Lippen und mehrere Piercings im linken Ohr. Ihre Haare, die sie oft zu zwei hohen Zöpfen band, waren rabenschwarz gefärbt. Ihre Kleidung bestand hauptsächlich aus enganliegenden, mit Totenköpfen oder Katzen verzierten Teilen, und sie lief meistens auf unwahrscheinlich hohen Schuhen mit chromglänzenden Schnallen herum. Die alten Damen im Haus waren zunächst etwas erschrocken, hatten sie dann jedoch schnell ins Herz geschlossen, als sie ihnen angeboten hatte, für sie einzukaufen, ihre Briefe zur Post zu tragen, ihre Pflanzen zu gießen, wenn sie nicht da waren, oder auch Katzen, Hunde und Kanarienvögel zu füttern. Sie beklagten höchstens hinter vorgehaltener Hand, dass »ein so hübsches Mädchen sich so verschandelt«.

»Sagen Sie, Monsieur Larnaudie, darf ich Sie etwas fragen?«, hatte sie eines Tages in der Eingangshalle den Vorsitzenden des Verwaltungsbeirats gefragt.

»Ich bitte darum, wenn es das Leben in der Nummer 18 betrifft, sollte es in meinen Kompetenzbereich fallen«, hatte dieser geantwortet.

»Es betrifft das Leben in der Nummer 18, wie Sie sagen …« Magalie hatte auf die beschlagenen Spitzen ihrer Stiefel geschaut, ehe sie wieder zu ihm aufblickte: »Stimmt es, dass mich im Haus alle Abby nennen?«

Zur Zeit ihres Einzugs schlug die Serie Navy CIS am Freitagabend alle Einschaltquotenrekorde. Eine junge Wissenschaftlerin der Kriminalpolizei, hochbegabt und exzentrisch, radikal auf Gothic gestylt, gehörte zu den Hauptfiguren: Abby. Sie trug einen weißen Kittel, brachte ihre Zeit im Labor zu, hörte Techno-Musik und untersuchte Fingerabdrücke, Mikrofasern, iPhone-Platinen oder hochkomplexe DNS-Sequenzen, um ihren Kollegen bei den Ermittlungen zu helfen. Auch Magalie hielt sich von morgens bis abends in ihrer Werkstatt auf, hörte Musik, die niemand kannte, und reparierte mit wissenschaftlicher Genauigkeit unglaublich empfindliche Gegenstände. Die sowohl äußerliche als auch berufliche Ähnlichkeit war den anderen Eigentümern und Mietern des Hauses nicht entgangen, und sie hatten sie alsbald mit dem Vornamen der Figur bedacht.

An jenem Morgen hatte Hubert Larnaudie unbeholfen zu einer Antwort angesetzt: »Hören Sie, Abby, ich bin nicht über alle privaten Gepflogenheiten des Hauses im Bilde …«, um sofort abzubrechen und sich zu entschuldigen. »Dieser Spitzname ist keinesfalls als Spott gemeint, Mademoiselle Lecœur«, hatte er ernst erklärt. »Ich glaube, im Gegenteil, es ist ein Zeichen großer Zuneigung. Die Damen Lacaze und Baulieue, unsere Hausältesten, sind voll des Lobes über Sie, Sie haben diesen verschlafenen alten Laden neu belebt und außerdem Madame Da Silva erobert, unsere Concierge – was gewiss nicht einfach ist. Alle im Haus mögen Sie sehr, das sollen Sie wissen.«

Es entstand eine Pause, Magalie hatte genickt, und Hubert war es vorgekommen, als glänzten ihre Augen plötzlich etwas zu sehr. »Danke«, hatte sie gemurmelt. »Einen schönen Tag, Monsieur Larnaudie.«

Wenn ihr Erfolg bei den alten Damen auch unzweifelhaft war, so war es mit den Männern eine andere Geschichte. Der letzte war gegangen und hatte Magalie in einer Einsamkeit zurückgelassen, die lediglich mit kaputten Gegenständen bevölkert war, welche ihre Feenhände in ihren ursprünglichen Zustand zurückversetzen würden, doch sie war weit davon entfernt, diesen Zaubertrick auf ihr eigenes Leben anwenden zu können, das ihr seit kurzem vorkam wie ein gezinktes Puzzle, dessen Teile sich nicht zusammenfügen ließen.

Auf dem Tisch zitterten die Fragmente der Statue kaum merklich. Seit einer Woche war der Tunnelbohrer, der die Verlängerung der Métrolinie 14, genannt »Méteor«, aushob, auf der Höhe der Rue Edgar-Charellier angekommen. Die riesige Maschine mit ihrem Bohrkopf arbeitete sich zwanzig Meter unter der Erde voran, und seit zwei Tagen musste sie ganz in der Nähe der Nummer 18 sein, denn wenn man darauf achtete, konnte man ihre Vibrationen spüren. Die Fragmente beruhigten sich wieder, als die Klingel ertönte. »Ich komme!«, rief Magalie.

Sie legte eine letzte Scherbe auf den richtigen Haufen und ging dann zur Tür, um sie einem etwa dreißigjährigen Mann zu öffnen, der einen Strauß Veilchen in der Hand hielt.

»Ist es schon Zeit?«, fragte Magalie, bevor ihr Blick auf die Blumen fiel.

»Die habe ich unterwegs gefunden, sie sind für dich«, sagte Julien.

»Danke. Komm rein, ich muss schnell eine Vase für sie finden.« Magalie griff nach einem Opalglasgefäß mit angeschlagenem Rand, das ein Etikett trug. »Warst du schon mal auf einer Eigentümerversammlung?«, fragte sie, während sie Wasser in die Vase füllte.

»Nein, noch nie, ich war bisher immer Mieter«, antwortete Julien. »Du wirst sehen, es dauert ewig, ist aber manchmal auch lustig. Monsieur Larnaudie kümmert sich um alles, dieses Haus ist sein ganzes Leben. Ich wette, er wird uns von den Türen der Kelleröffnung erzählen, die seit drei Tagen kaputt sind, das verfolgt ihn. So, das ist sehr hübsch, danke, Julien«, sagte sie und trat einen Schritt zurück, um den kleinen Strauß auf ihrem Tisch zu betrachten.

»Bitte, es sollte … dir eine Freude machen«, stammelte Julien.

»Hat geklappt«, antwortete sie lächelnd. »Gehen wir?«

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