Читать книгу Ein Tropfen vom Glück - Antoine Laurain - Страница 7

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Während sie Seite an Seite die Straße entlanggingen, betrachtete Julien Magalie verstohlen von der Seite und bekam kein Wort von dem mit, was sie ihm über den Ablauf der jährlichen Eigentümerversammlungen erzählte. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen. Julien erinnerte sich an die ersten Minuten ihrer Begegnung, vier Monate zuvor, als hätte sie eben erst stattgefunden. Zu der 35-Quadratmeter-Wohnung, die er gerade mit einem Kredit über 20 Jahre zu 1,6 % Zinsen gekauft hatte, gehörte ein kleiner Keller, der neben dem großen des Restaurierungsladens lag. Julien war hinuntergegangen, um ein paar Sachen dort abzustellen. Der Keller des Gebäudes war der einzige Ort, an dem sich seit der Erbauung unter Napoléon III. nichts geändert hatte. Die nummerierten Holztüren, die man mit großen Eisenschlüsseln aufschloss, der mit abgetretenen Teppichen bedeckte gestampfte Lehmboden, die Inschriften auf den Wänden, sorgfältig hingepinselt von Malern, die noch vor Anbruch der Vierten Republik das Zeitliche gesegnet haben mussten (»Kohle – Vorrat«, »Kellertür zur Straße«, »Gemeinschaftskeller«, »Maschinenraum Fahrstuhl«) – das alles gemahnte an eine versunkene Zeit, aus der dieser Pariser Keller das einzige Überbleibsel zu sein schien.

»Guten Tag, sind Sie der neue Eigentümer im Erdgeschoss? Ich bin Magalie Lecœur, aber man nennt mich im Haus wegen einer dämlichen amerikanischen Serie Abby.« Und da war die Welt ins Wanken geraten. Die Augen waren zu grün, der Mund zu rot, das Lächeln zu breit, die Haut zu perlmuttschimmernd. Magalie hatte ihre Hand in seine geschoben, um sie zu schütteln, und bei diesem Hautkontakt war in Juliens Kopf etwas mit der Gewalt einer mehrere Megatonnen schweren Bombe explodiert. Es war ihm vorgekommen, als hätte sich vor seinen Augen die gesichtslose Frau materialisiert, die seit seiner Jugend durch all seine Träume geisterte.

Julien war mit einer unbezähmbaren Schüchternheit geschlagen, wenn es darum ging, einem Mädchen den Hof zu machen, und hatte nur dann etwas Selbstvertrauen, wenn er einen Shaker in der Hand und die weiße Barmannschürze um die Hüften hatte. In der Hotelfachschule hatte er schnell gemerkt, dass der Tischservice nicht seine Sache war. Sätze wie: »Madame, Monsieur, hier die Ente vom Grill mit Morchelravioli an einer weißen Pfeffersauce. Guten Appetit«, würden seine Abende nicht lange begleiten. Er stammte aus dem Beaujolais und war im Respekt vor guten Weinen aufgewachsen. Wenn seine Eltern die Weinberge ihrer Vorfahren auch verlassen hatten, um sich in der Stadt niederzulassen, waren sie doch der Tradition treu geblieben, bei Festen und Geburtstagen einen guten Tropfen zu trinken.

Während eines Praktikums in einem Vier-Sterne-Lokal in der Provinz fiel sein Blick eines Tages auf die frisch renovierte Bar. Die Flaschen standen zu Dutzenden aufgereiht auf den Regalen, geschickt zur Geltung gebracht durch das farbige Licht der LED-Leuchten. Der Anblick hatte etwas Sanftes, Beruhigendes, das mit diesem Licht zu tun hatte und mit den breiten Ledersesseln, die auf dem Teppichboden der Bar standen. Das Mahagoni des sorgfältig polierten Tresens und dessen Messingsäulen kamen ihm vor wie eine Landebahn, auf der funkelnde Gläser mit raffinierten Inhalten aufsetzen würden. Zwei Gäste unterhielten sich auf einem Sofa, während der Barmann, ein dünner Mann mit weißem Bürstenschnitt und Halbmondbrille, Flüssigkeiten aus mehreren Flaschen in den Shaker goss: Gin, Kirschlikör, Preiselbeersaft, Rosenlikör … Wie hypnotisiert ging Julien auf ihn zu. Der Barmann, dessen Vorname »Gérard« in Rot auf seine weiße Schürze gestickt war, blickte auf und betrachtete ihn durch seine Brille. »Praktikant?«, murmelte er.

»Ja, Monsieur«, antwortete Julien.

»In der Küche?«

»Im Service.«

Der Barmann zog mitleidig eine Augenbraue hoch. »Wir sind hier an der Bar, das ist ein anderes Universum.« Er nahm den Shaker, schüttelte ihn elegant über seiner Schulter und öffnete ihn dann. Die geschüttelten Eiswürfel hatten das Chrom mit Reif überzogen, und »Gérard« verteilte den Inhalt tropfengenau in zwei trichterförmige Gläser, die er mit einer Kirsche und einem Zweig frischer Minze garnierte. »Golden Jaipur, eine Eigenkreation«, erklärte er, ehe er die Gläser auf ein Silbertablett stellte und zu seinen Gästen trug.

In diesem Augenblick wurde Julien klar, was er im Leben machen wollte. Besser noch: wo sein Platz war. Hinter einem Tresen, mit einer weißen Schürze, die mit seinem Vornamen bestickt war, mit Tausenden von Cocktails im Kopf, die er auf Verlangen mixen könnte, wenn er sie nicht sogar selbst erfand.

Einen Monat später verfasste Monsieur Gérard einen Brief, der mit den Worten begann: »Monsieur Julien Chauveau ist mit Abstand der begabteste Praktikant, der mir in meiner langen Karriere untergekommen ist.« Nach drei Jahren Schule erwarb er mit Leichtigkeit seinen Abschluss als Bartender und Mixologe. Am Abend vor seiner Abreise nach London, wo er seine erste Stelle antreten würde, lud er seinen Bruder, seine Schwester und seine Eltern in eines der besten Restaurants von Lyon ein. Sein Vater hob sein Glas und verkündete schlicht: »Dein Urgroßvater wäre stolz auf dich gewesen.« Es entstand eine Stille, die Julien durchbrach: »Ich bin mir sicher, dass er uns sieht … von da oben«, worauf niemand einging, außer vielleicht seine jüngere Schwester, die müde seufzte. Dann tranken sie einen ausgezeichneten Juliénas.

Pierre Chauveau blieb das Rätsel der Familie. Wenn Julien auch zehn Jahre nach seinem Verschwinden 1978 geboren wurde, hatte ihn die Geschichte von Väterchen Untertasse doch von klein auf fasziniert. Unablässig hatte er seinen Vater und seine Tante über jenen Abend ausgefragt, an dem sie den Film von Spielberg gesehen hatten und sein Urgroßvater im Kino laut gesagt hatte, das Mutterschiff sehe genau aus wie das Ufo, das er 1954 gesehen habe. Julien hatte Recherchen über dieses Jahr angestellt, das in einschlägigen Kreisen auch als das »Jahr der fliegenden Untertassen« bezeichnet wurde. Im Lauf der Zeit hatte er eine beeindruckende Dokumentation über Ufo-Sichtungen zusammengestellt, deren Herzstück eines der seltenen Exemplare des 1955 im Selbstverlag erschienenen Buchs Besuche und Phänomene aus dem Weltall war, verfasst von dem legendären Astronomen Charles Arpajon. Ein Kultbuch, in dem der Autor die Hypothese eines Zusammenhangs zwischen fliegenden Untertassen und Zeitreisen aufstellte.

Er hatte auch am eigenen Leib erfahren, wie ausschließlich männlich dieses Hobby war. Offenbar glaubten Frauen nicht an fliegende Untertassen und hielten Männer, die sich dafür interessierten, für verträumte, wenig verlässliche, ja infantile Typen. Wenn er gegenüber seinen wenigen Eroberungen seine Leidenschaft für Ufos erwähnte, spürte Julien jedes Mal, dass er Glatteis betrat. Fortan vermied er es, mit Menschen des anderen Geschlechts darüber zu reden, und begnügte sich mit Internetkontakten zu Ufologen aus fünf Kontinenten. Für Julien war die Erfahrung seines Vorfahren etwas Außergewöhnliches und sein Verschwinden zwingend damit verbunden. Für seine Familie dagegen hatte Väterchen Untertasse nie irgendetwas gesehen, und für seine unwahrscheinliche Vision war allein der Alkohol verantwortlich, den er mit seinen Kumpanen im Wirtshaus Zum roten Wiesel zu sich genommen hatte. Seine Aussage bei der Gendarmerie hatte nur dazu geführt, dass er zum Gespött der Leute wurde. Was sein Verschwinden betraf, so lag die Erklärung für das Rätsel, wenn es denn ein Rätsel gab, auf dem Grund eines Teichs, den abzusuchen man versäumt hatte.

An all das dachte Julien auf dem Weg zu seiner ersten Eigentümerversammlung, und an Magalie, deren tintenschwarzes Haar in der Abendbrise flatterte. Sein enzyklopädisches Wissen über Cocktails und Ufos half ihm nicht im geringsten dabei, ihr seine Liebe zu erklären. Vier Monate lang hatte er sie mit einem blonden blassäugigen Mann gesehen, der ihm vom ersten Moment an zuwider gewesen war. Dieser Mann durfte sie in den Armen halten, küssen, am Wochenende mit ihr an den Strand fahren, bei Sonnenuntergang händchenhaltend am Wasser entlangspazieren und anschließend mit ihr in ein Hotelzimmer gehen. Es war vollkommen ungerecht. Doch nun hatten sich, wie er zugeben musste, neue Möglichkeiten aufgetan: Seit drei Wochen hatte er sie mit niemandem mehr gesehen.

An der nächsten Kreuzung blickte Julien zu einer Werbetafel auf. Ein großes Plakat warb für die »Tage des Kulturerbes«, die am nächsten Tag begannen. Auf dem Bild unter dem flotten Slogan »Morgen beginnt gestern!« sah man öffentliche Verkehrsmittel und Autos aus vergangenen Zeiten vor symbolträchtigen Orten wie dem Sitz der Nationalversammlung oder dem Élysée-Palast, die zu diesem Anlass »Tage der offenen Tür« veranstalteten und von Parisern und Touristen besichtigt werden konnten. Die öffentlichen Verkehrsbetriebe RATP organisierten wie jedes Jahr Schnitzeljagden für die Kinder und holten alte Autobusse mit offener Heckplattform und Metrowaggons mit Holzbänken hervor.

»Wie wär’s mit einer Fahrt in einem alten Autobus morgen?«, versuchte Julien sein Glück und zeigte auf das Plakat.

»Ja, warum nicht«, antwortete Magalie lächelnd. »Aber er müsste uns wirklich in die Vergangenheit bringen! Ich wäre gern einmal in den Halles gewesen, den echten Halles, die Baltard-Pavillons mit den Metzgern und den Gemüsehändlern. Man sagt, dass sich da nachts alle trafen: Metzger, feine Leute, amerikanische Touristen, Filmschauspieler …«

Julien nickte lächelnd. Er konnte sich sehr gut vorstellen, mit Magalie an einem dieser lauten, fröhlichen Tische zu sitzen, zwischen Tellern mit Bœuf Bourguignon und knallenden Champagnerkorken. »Vorsicht!«, sagte in dem Moment Magalie und legte ihm die Hand auf den Unterarm – die Ampel sprang auf Grün, und ein Motorroller war schon angefahren.

Die Berührung ihrer Hand ließ sein Herz höherschlagen, holte ihn aber auch in die Wirklichkeit zurück: Sie waren im Jahr 2017, und kein Autobus würde sie zum Abendessen in die Vergangenheit bringen.

Ein Tropfen vom Glück

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