Читать книгу Hitlers "Mein Kampf" - Antoine Vitkine - Страница 12
Eine »Verschwörung am helllichten Tag«
Оглавление»Das […] weiß ich, wenn ich 1924 geahnt hätte, Reichskanzler zu werden, dann hätte ich das Buch nicht geschrieben.« Diese erstaunliche Eröffnung soll Hitler 1938 gegenüber einem seiner Getreuen, Hans Frank, gemacht haben, wie der in seinem nach dem Krieg veröffentlichten Tagebuch berichtet. Verschiedenen Zeugen zufolge scheint er diesen Gedanken nicht nur einmal geäußert zu haben.
Das mag einen überraschen, wenn man bedenkt, mit welcher Leidenschaft Hitler sein Buch in Angriff genommen und welchen Stolz er daraus gezogen hat. Aber es ist durchaus nachvollziehbar. »Ich wende mich dabei mit diesem Werk nicht an Fremde, sondern an diejenigen Anhänger der Bewegung, die mit dem Herzen ihr gehören und deren Verstand nun nach innigerer Aufklärung strebt«, schreibt der Führer im Vorwort seines Buches Mitte der 1920er Jahre. Verfasst in der Zurückgezogenheit einer Zelle, nach einer schmählichen Niederlage, ersonnen als ein politisches Projekt, dessen Verwirklichung fern und utopisch erscheinen mag, das die Ambitionen, die Vorstellungen, ja sogar die Strategien seines Autors offenlegt, könnte Mein Kampf jetzt, da die Macht so nahe ist, in den Händen seiner Feinde zu einer Waffe werden.
Mein Kampf ist tatsächlich eine »Verschwörung am helllichten Tag«, so die von dem französischen Philosophen Alexandre Koyré geprägte Formulierung.[32] In den Worten des Politologen Josselin Bordat ist »dieser Text, diktiert im Beisein einer Zuhörerschaft von ein paar Fanatikern, die ideologische Stütze eines totalitären Regimes. Es ist ein Text, der einen Plan zur Eroberung der Weltherrschaft enthüllt, wo solche Pläne doch gewöhnlich im Verborgenen geschmiedet werden. Hier aber handelt es sich um einen Plan zur Eroberung der Weltherrschaft, der von einem totalitären Regime in Millionen von Exemplaren verteilt wird.«[33] Seit sich die Machtfrage stellt, ist sich Hitler dieser Problematik sehr bewusst.
Hitlers Haltung zu dem Thema lässt sich mit folgendem Beispiel illustrieren: Nach der schweren Niederlage bei den Reichstagswahlen 1928 glaubt er sich von seinen Mitbürgern falsch verstanden und verfasst ein weiteres Manuskript, das später als »Hitlers Zweites Buch« bekannt werden wird. Auf rund 200 Seiten führt er noch eingehender als in Mein Kampf seine außenpolitischen Visionen aus, prophezeit einen Endkampf um die Weltherrschaft zwischen den Verbündeten Deutschland und England und den Vereinigten Staaten. Ebenso präzisiert er seine Absicht, im jüdisch-bolschewistischen Russland »Lebensraum« zu erobern. Zum ersten Mal spricht sich der Eher-Verlag gegen eine Veröffentlichung aus – mit dem Argument, ein weiteres Werk werde dem ersten schaden, das sich nur noch schleppend verkauft. Aber mit den Wahlerfolgen von 1930 geht es auch mit Mein Kampf wieder aufwärts, und nun schlägt der Verlag Hitler vor, den Text herauszubringen. Doch der lehnt ab: Die Aussicht darauf, eines Tages zu regieren, ist nicht mehr ganz unrealistisch, und er hat den Eindruck, bereits zu viel gesagt zu haben. Das Manuskript kommt also nie aus dem Safe heraus, wo es aufbewahrt bleibt, geschützt vor fremden Augen.[34] Genau wegen dieser Befürchtung, zu viel von seinen Absichten verraten zu haben, wird Hitler, als er Reichskanzler geworden ist, darum kämpfen, den Zugang zu seinem Text im Ausland zu beschränken. Hat er Grund zu der Befürchtung, durchschaut zu werden? Hätte eine ausreichend sorgfältige, aufmerksame Lektüre von Mein Kampf vor den erschreckenden Zielen seines Verfassers warnen können? Hätte sie diese »Verschwörung am helllichten« Tag enthüllen können?
Victor Klemperer, der zum Protestantismus übergetretene Philologe, der am Ende nur mithilfe seiner »arischen« Frau der Deportation entkommen kann, hat das ganze Dritte Reich hindurch im inneren Exil gelebt und dabei unermüdlich die Gedanken niedergeschrieben, zu denen ihn die entsetzliche Welt um ihn herum bewegte. 1947, als Ergebnis dieser einsamen Arbeit in den dunkelsten Stunden der Nazi-Herrschaft, veröffentlicht er ein Meisterwerk: LTI, Notizbuch eines Philologen. Darin schreibt er: »Es wird mir immer das größte Rätsel des ›Dritten Reiches‹ bleiben, wie dieses Buch in voller Öffentlichkeit verbreitet werden durfte, ja mußte, und wie es dennoch zur Herrschaft Hitlers und zu zwölfjähriger Dauer dieser Herrschaft kommen konnte, obwohl die Bibel des Nationalsozialismus schon Jahre vor der Machtübernahme kursierte.«