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Vorwort Der vergessene Bestseller

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»Das hört nicht auf. Nie hört das auf.«

Günter Grass, Im Krebsgang

»Name: Hitler. Vorname: Adolf. Beruf: Schriftsteller.« Diesen Beruf gibt der Führer der NSDAP seit 1925 in seiner Steuererklärung an, die das zuständige Finanzamt all die Zeit über sorgfältig aufbewahrt hat. Adolf Hitler – Schriftsteller: Die Verbindung wirkt unpassend. Chef einer ultranationalistischen und rassistischen Partei mit einem Faible für Gewalt und Handstreiche, Volkstribun, gescheiterter Künstler und Schulabbrecher – nein, der zukünftige Diktator hat so gar nichts von einem Literaten an sich.

Doch als er 1923 für einen Putschversuch zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wird, die er in der Festung Landsberg absitzt, nutzt er diese dreizehn Monate Haftzeit, um einen langen Text zu verfassen, der schon bald unter dem Titel Mein Kampf veröffentlicht werden wird. Indem er sich als »Schriftsteller« bezeichnet, verbindet er seine Geschicke mit dem kürzlich vollendeten Werk.

Mein Kampf, dieses gewaltstrotzende Plädoyer mit apokalyptischen Anklängen, das ein größenwahnsinniger Agitator an der Spitze eines Häufleins Desperados in einer schlichten Zelle niedergeschrieben hat, wird eines der meistverkauften politischen Bücher aller Zeiten werden. Schon vor 1933, vor dem Aufstieg seines Autors zur Macht, findet es Hunderttausende von Käufern. Dem Dritten Reich drückt es seinen Stempel auf. Es findet eine ungeheure Verbreitung: Man geht von zehn bis zwölf Millionen Exemplaren aus. Mein Kampf, die »Nazi-Bibel«, wird allen Brautpaaren überreicht, in den Schulunterricht aufgenommen, in Auszügen und Zusammenfassungen, auch bebildert, mit den neuesten Reklametechniken beworben, ja sogar in Blindenschrift herausgebracht.

Mein Kampf ist aber nicht nur ein deutsches Buch für deutsche Leser. Im Laufe der 1930er Jahre wird es in über 20 Sprachen übersetzt und zum globalen Bestseller. Das Buch des Führers fasziniert, verführt oder schockiert die Öffentlichkeit überall auf der Welt. In Frankreich wird Mein Kampf zum Gegenstand einer Verlegerschlacht, bei der es sogar um das Schicksal des Landes im Blick auf Hitlerdeutschland geht.

Der Untergang des Dritten Reiches und der Tod seines Führers haben nichts daran geändert: Mein Kampf ist ein Bestseller geblieben. Seit 1945 ist das Standardwerk des Nationalsozialismus millionenfach in aller Welt vertrieben worden, sicherlich weit über die Mengen zu Nazi-Zeiten hinaus. Laut der amerikanischen Zeitschrift Cabinet werden jährlich 20000 Exemplare in englischer Sprache abgesetzt. In Frankreich verkauft es ein Verleger wie zu alten Zeiten – und das ganz legal. In mehreren Ländern erscheint es auf den Listen der meistverkauften Bücher: In der Türkei fand es in einem einzigen Jahr 80000 Käufer; in Indien ist ein beispielloser Hype darum entstanden. Ob in Russland, in Indonesien, in Ägypten oder im Libanon: Sein Erfolg lässt sich nicht leugnen. Und zu Zeiten von E-Book, iPad, Kindle, Amazon verhilft das Internet dieser Brandschrift namens Mein Kampf, die auf einer altmodischen Schreibmaschine in einer alten bayerischen Festung entstand, zu einem neuen Leben und einem neuen Boom. Man mag das unerträglich finden, aber es ist die Wahrheit: Neunzig Jahre nach seiner Entstehung, siebzig Jahre, nachdem die Welt von den NS-Todeslagern erfuhr, findet Mein Kampf immer noch sein Echo.

Das Werk ist aus den Schaufenstern unserer Buchhandlungen verschwunden und bleibt dennoch präsent, wie unter Quarantäne. Rasch aus dem Kopf verbannt, eingereiht ins Regal der unheimlichen Bücher, die man zu kennen glaubt und zu öffnen sich weigert, faszinierend und abstoßend zugleich. Wie eine böse Erinnerung, die sich nicht verjagen lässt und sich uns ganz aktuell durch ein nicht unwesentliches Ereignis aufdrängt: Mit Beginn des Jahres 2016 wird Mein Kampf gemeinfrei. Wie es das Autorenschutzrecht vorsieht, könnte das Buch dann theoretisch von jedermann herausgebracht werden, genau wie die Klassiker der Literatur. Die praktischen und rechtlichen Auswirkungen dieses Ereignisses sind begrenzt, wenngleich ganz real, doch seine Symbolwirkung wird wohl niemandem entgehen.

Umso erstaunlicher, dass die Geschichte dieses so einflussreichen Werkes, ersonnen vom Urheber beispielloser Verbrechen, weitgehend unbeachtet geblieben, sein Weg durch die Zeit mit vielen Schatten gesprenkelt ist. Der Inhalt von Mein Kampf wurde natürlich schon viele Male behandelt, analysiert, entziffert. Aber seine Entstehung, die Kommentare, die seine Veröffentlichung begleitet haben, sein Einfluss auf den Aufschwung der nationalsozialistischen Bewegung und auf das Dritte Reich, seine Resonanz, seine internationale Verbreitung im Ausland, sein Weg nach dem Krieg, ja selbst die simple Frage, ob das Buch, das immerhin Millionen Deutsche besaßen, auch gelesen wurde: Das alles ist bislang kaum untersucht worden. Die meisten Historiker haben diesen Aspekt unberücksichtigt gelassen, und die Öffentlichkeit hat den Blick abgewandt.[1]

Unsere Untersuchung hat nicht den Anspruch, einen Beitrag zu den historiographischen Debatten zu leisten, die sich die Geschichte des Nationalsozialismus vorgenommen haben, sondern will eine Lücke füllen, indem sie das Schicksal dieses Buches erzählt.

Das ist eine ebenso historische wie moralische und vielleicht auch politische Herausforderung. Denn die Geschichte von Mein Kampf hält wertvolle Lehren für die heutige Zeit bereit. Sich mit diesem Buch auseinanderzusetzen heißt allerdings, sich zwei Fragen von ziemlicher Bedeutung zu stellen.

In Mein Kampf hatte Hitler einen Großteil seiner zukünftigen Verbrechen angekündigt. Mit seinen politischen Axiomen Terror, Rassismus, Totalitarismus, mit dem deutlich bekundeten Willen, die Weltherrschaft zu erringen, war dies nie ein unverständliches oder hermetisches Werk. Hätte Mein Kampf – der Öffentlichkeit vorgestellt, seit 1925 in den Buchhandlungen erhältlich – die Welt vor der Bedrohung warnen können, ja müssen, der Hitler die gesamte Menschheit aussetzte? Diese Frage quälte den deutschen Philologen Victor Klemperer, einen ohnmächtigen Zeugen der nationalsozialistischen Unterdrückung: »Es wird mir immer das größte Rätsel des ›Dritten Reiches‹ bleiben, wie dieses Buch in voller Öffentlichkeit verbreitet werden durfte, ja mußte, und wie es dennoch zur Herrschaft Hitlers und zu zwölfjähriger Dauer dieser Herrschaft kommen konnte, obwohl die Bibel des Nationalsozialismus schon Jahre vor der Machtübernahme kursierte.«[2]

Die zweite Frage ist ebenfalls höchst brisant: Ist die Weltanschauung von Mein Kampf immer noch virulent? Was schwelt da noch? Enthält Mein Kampf wirklich ein Gift, wie die alliierten Soldaten glaubten, die es bei der Befreiung für alle Ewigkeit verbannen wollten?

Wenn mich diese Fragen umtreiben, dann deshalb, weil alle Menschen im Westen – manche, wie ich, vielleicht stärker als andere – den Eindruck haben, dass dieser Teil der Geschichte noch unabgeschlossen ist: »Das hört nicht auf«, um Günter Grass zu zitieren. Dieses Buch ist meinen Großeltern gewidmet. Alle vier litten unter den Folgen des verbrecherischen Abenteuers, das der Verfasser von Mein Kampf befohlen hatte, alle vier mussten für das in seinem Buch beschriebene Vorhaben bluten. Der eine Großvater, Franzose und Jude, hat in der Résistance gegen die nationalsozialistische Besatzungsmacht gekämpft und seine Familie in den Todeslagern verloren. Der andere hat mit der britischen Armee in der libyschen Wüste und in Italien gegen die Wehrmacht gekämpft. Die eine Großmutter war, bevor sie meinen Großvater kennenlernte, mit einem jungen Piloten verheiratet, der, im Einsatz für das gaullistische Freie Frankreich, am Steuer eines Flugzeugs der Staffel Normandie-Njemen über Russland abgeschossen wurde. Und die andere ist meine Großmutter Annemarie, geboren in Fürth, in der Nähe von Nürnberg. Mit ihr spreche ich oft über diese Zeit. Und immer erzählt sie mir dann von ihrem Vater, meinem Urgroßvater Robert Löwensohn.

Alles beginnt mit dem Ersten Weltkrieg, dieser Matrix für die kommende Tragödie, diesem so grausamen wie verklärten Krieg, der Hitler hervorbringen wird, Mein Kampf, das deutsche Ressentiment, die Todeslust einer Generation, die Krise der 1930er Jahre, das Dritte Reich. Diesen Krieg haben der zukünftige Führer und mein Urgroßvater verblüffend ähnlich erlebt.

»So, wie wohl für jeden Deutschen, begann nun auch für mich die unvergeßlichste und größte Zeit meines irdischen Lebens […] Eine einzige Sorge quälte mich in dieser Zeit, mich wie so viele andere auch, ob wir nicht zu spät zur Front kommen würden« (1/1721), schrieb Hitler in Mein Kampf. Auch Robert Löwensohn erlebt beim Kriegseintritt Deutschlands patriotische Gefühlswallungen und wünschte sich sehnlich, mit dabei sein zu können. Gleich nach der Kriegserklärung bricht der damals Neunzehnjährige seinen Sprachaufenthalt in England ab und kehrt nach Deutschland zurück. Als er im Hamburger Hafen von Bord geht, treibt ihn nur eine Sorge um: dass der Krieg aus sein und er die Chance vertan haben könnte, daran teilzunehmen. Er fährt auf schnellstem Wege in seine bayerische Heimat, um sich als Freiwilliger zu melden. Am 6. August 1914 wird er in München ins 11. Bayerische Infanterie-Regiment aufgenommen. Am Vortag, dem 5. August, hat sich in derselben Stadt ein gewisser Adolf Hitler ebenfalls freiwillig zum Dienst in der Armee gemeldet.

Der junge Löwensohn kämpft in Russland, in Serbien und schließlich in Frankreich. Er wird zweimal verwundet, genau wie der Gefreite Hitler. Letzterer bekommt das Eiserne Kreuz verliehen. 1916 bietet man Robert Löwensohn, der sich im Kampf ausgezeichnet hat, die Wahl zwischen einem Eisernen Kreuz und einem Offiziersgrad an. Beides zusammen sei allerdings zu viel für ihn, gibt man ihm zu verstehen. Für ihn? Für einen Juden, versteht er ganz richtig. Aber egal, er ist gehörig stolz darauf, Offizier in Kaiser Wilhelms Heer zu werden. 1917 befinden sich mein Urgroßvater und Adolf Hitler am selben Abschnitt der Westfront, im Artois, zwischen Vimy und Arras. Ich könnte mir durchaus vorstellen, dass sie sich dort begegnet sind, dass der Meldegänger Hitler, ständig unterwegs zwischen Regimentsstab und Bataillonsstäben, sich auch einmal beim Leutnant Löwensohn, dem Führer eines MG-Schützenkommandos, einstellte. In Mein Kampf, wo er diesen Krieg zur prägenden Zeit seiner Ideologie erklärt, schreibt er trotzdem, er sei von der Feigheit der Juden befremdet gewesen und »staunte über die Fülle von Kämpfern des auserwählten Volkes« (1/203), die er in den Schreibstuben im Hinterland vorgefunden habe: »Die Spinne begann, dem Volke langsam das Blut aus den Poren zu saugen« (1/203), wo doch selbst zu seinem eigenen Regiment zahlreiche Juden gehörten, angefangen mit dem Offizier, dem er sein Eisernes Kreuz verdankte.

Beide, Hitler und mein Urgroßvater, erleben die Niederlage als schwere Kränkung, beide verurteilen die Unruhen, die sie im Land auslöst. In München beteiligt sich Leutnant Löwensohn ohne Bedenken an der bewaffneten Niederschlagung des Aufstands der Räte im April 1919. Viele Anführer dieser subversiven kommunistischen Bewegung sind Juden, was den Hass der nationalistischen Rechten schürt. Mein Urgroßvater bekämpft also den Aufruhr an der Spitze seiner Leute, während Hitler vorsichtshalber alles Weitere in seiner Kaserne abwartet. Doch kaum sind die Räte besiegt, wird er zu einem Aufklärungskursus für »staatsbürgerliches Denken« kommandiert, um antikommunistische und damit zwangsläufig antisemitische Propaganda in seinem Regiment zu betreiben. Und da entpuppt er sich als politisches Talent … Fünf Monate später tritt er in die DAP, die Deutsche Arbeiterpartei ein; vier Jahre später, in Landsberg, beginnt er mit der Abfassung von Mein Kampf. Im selben Jahr, in einer anderen bayerischen Stadt, wird Robert Löwensohn, der wieder im familieneigenen Kinderbuchverlag arbeitet, Vater einer kleinen Tochter, meiner Großmutter Annemarie.

Die politischen Ereignisse beschäftigen ihn kaum. Meine Großmutter erinnert sich, dass er nie über Politik gesprochen hat, sich aber unermüdlich über seinen Weltkrieg auslassen konnte, voller Stolz auf seinen Rang als deutscher Offizier, als der Herr Leutnant, der für sein Vaterland gekämpft hatte.

Dann kommt das Jahr 1933, und noch begreift er nicht, dass die Machtübernahme seines Kameraden vom Artois eine tödliche Bedrohung für ihn und seine Familie bedeutet. Wie viele ihrer Glaubensgenossen meinen die Löwensohns, die Nazis würden sich auf Diskriminierungen beschränken, und eines Tages werde alles zur Normalität zurückkehren. Schlägt Hitler nicht schon moderatere Töne an, seit er Reichskanzler geworden ist? So ein 20 Jahre früher geschriebener Text zeuge doch eher von der Wahnhaftigkeit seiner antisemitischen Obsession, seiner Weltanschauung, in der die Auslöschung der Juden und der Krieg eine zentrale Rolle spielten. Mein Kampf? Weder Robert Löwensohn noch irgendwer in seiner Umgebung hat das Buch gelesen. »Wir fanden es zu vulgär«, erzählt mir meine Großmutter. »Wir hielten uns nicht für betroffen, wir als deutsche Bürger und Patrioten.« Sie erinnert sich, dass nur die Dienstmädchen die Hetzreden des Führers im Radio hörten. Eine von ihnen sollte übrigens meine Großmutter, Leutnant Löwensohns Tochter, darüber aufklären, was ihr mit zehn Jahren höchstens undeutlich bewusst gewesen war: Sie ist Jüdin, ihre Familie ist jüdisch.

1938, allzu spät, macht sich Robert Löwensohn mit seinen Angehörigen schließlich auf nach Paris. Als die Deutschen in Frankreich einmarschieren, bringt er seine Tochter in Sicherheit, denkt aber nicht daran, sich selbst zu verstecken. Was hat er schon vonseiten der Deutschen zu befürchten, er, der Leutnant des Königlich Bayerischen 11. Infanterie-Regiments? Auf jeden Fall trennt er sich nicht von seinem Militärpass. 1940 wird dem Veteranen trotzdem, per Verordnung, die deutsche Staatsangehörigkeit aberkannt. Erst 1942 begreift er, in welcher Gefahr er schwebt, bereitet noch die Flucht in den Süden vor, wird aber bei einer großangelegten Razzia festgenommen. Er weist darauf hin, wer er ist, was ihm nur einen kurzen Aufschub verschafft, bevor er nach Auschwitz deportiert wird, seinen kostbaren Armeepass im Gepäck. Dort hält er noch drei Jahre durch und kommt schließlich auf den Todesmärschen im Januar 1945 um.

Zweifellos hat er bis zuletzt nicht recht verstanden, warum der Gefreite Adolf Hitler, der Meldegänger vom Artois, ihn aus Deutschland verjagt und seiner Staatsbürgerschaft beraubt hatte, um ihn schließlich zu ermorden. Er hatte Mein Kampf nicht gelesen. Und wenn er das Buch gelesen hätte, hätte er seine tiefe Bedeutung verstanden? Hätte das etwas an seinem Schicksal geändert? Diese Fragen bleiben unbeantwortet, aber sie verdienen es, gestellt zu werden.

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