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Die Zeit vor dem Krieg Die »Nazi-Bibel« I Die Entstehung eines Buches Die Ursprünge von Mein Kampf
ОглавлениеMünchens historische Altstadt ist im Zweiten Weltkrieg durch Luftangriffe zwar weitgehend zerstört, aber in den Folgejahren größtenteils originalgetreu wiederaufgebaut worden, so auch das Hofbräuhaus am Platzl. Die bereits im 16. Jahrhundert gegründete Brauerei, Ende des 19. Jahrhunderts zum Gasthaus umfunktioniert, beim Bombardement Münchens 1945 schwer getroffen, wurde penibel rekonstruiert. So erscheinen Name und Fassade wie in den 1920er Jahren, als zahlreiche Gruppen und Vereinigungen, von denen es in der brodelnden Weimarer Republik nur so wimmelte, dort ihre politischen Versammlungen abhielten. Die Dekoration im Saal ist typisch bayerisch. Auf beiden Seiten lange Tische, Gäste in traditionell bayerischer Tracht mit Gamsbarthüten, dazwischen Touristen. Bierkrüge balancierend, bahnen sich die Kellner ihren Weg, untermalt von lauten Stimmen und schallendem Gelächter. Kaum zu glauben, dass in dieser Bierhalle Hitler zu Hitler wurde und dass in dieser Bierhalle auch Mein Kampf seinen Ursprung hat.
Herbst 1919. Aus dem Heeresdienst entlassen, ohne Habe, ohne Familie und ohne Arbeit, schleppt der Gefreite Adolf Hitler seine Misere durch Münchens Straßen, von der Kneipe zum Bierkeller. Eigentlich sehnt er sich nach dem Krieg und den Schützengräben zurück. Dem gescheiterten Kunstmaler, dem heruntergekommenen Außenseiter, der vergebens versucht, seinem Leben einen Sinn zu geben, hat der Erste Weltkrieg eine erhebende Erfahrung geboten: »[…] die unvergeßlichste und größte Zeit meines irdischen Lebens« (1/172), wie er in Mein Kampf schreibt. Der Krieg hat den Österreicher Hitler von dem schweren, giftigen Elixier namens Nationalismus kosten lassen und so einen glühenden Verteidiger der deutschen Nation aus ihm gemacht. Um sich in diesem Sinne weiterhin betätigen zu können, bietet der ehemalige Gefreite seine Dienste der militärischen Abwehr in München an. »Er glich einem müden, streunenden Hund, der nach einem Herrn suchte«, wird Jahre später Hauptmann Karl Mayr[3] erzählen, der ihm den Auftrag erteilt, die ultranationalistische Szene zu beobachten. Die Reichswehr will wissen, was sich da zusammenbraut, auch um diese neuen Gruppierungen eventuell nutzen zu können.
Und so macht Hitler 1919 Bekanntschaft mit der DAP, der Deutschen Arbeiterpartei: eine neu gegründete rechtsradikale Gruppe, deren Ruf kaum über die Stadtgrenzen hinausreicht; eine von zahllosen Splittergruppen, die für extremen Rassismus und Nationalismus stehen. Dieser Partei tritt Hitler also wie befohlen bei, ganz im Interesse der Abwehr. Sein Mitgliedsausweis trägt die Nummer 555.[4]
Dann jedoch wird dem Spitzel Adolf Hitler schnell bewusst, dass die Ideen und Parolen der DAP das zum Ausdruck bringen, was er selbst denkt, aber bisher nie hat artikulieren können. Eines Tages, während einer Versammlung, wagt er es, von ganz hinten im Saal das Wort zu ergreifen. Und entdeckt in sich ein Talent und eine Berufung zum Redner.
24. Februar 1920. An diesem Abend hält die DAP eine »Massenversammlung« im Hofbräuhaus ab. 2000 Menschen haben sich versammelt, angelockt durch eine riesige Plakataktion. Sie entdecken einen Unbekannten: Adolf Hitler, 30 Jahre alt. Der junge Mann steht noch ganz im Schatten der Parteigründer, des ehemaligen Werkzeugschlossers Anton Drexler und des Sportjournalisten Karl Harrer, doch als er das Wort ergreift, beweist Hitler sein außerordentliches rhetorisches Talent, mit dem er die Zuhörer sofort in den Bann zieht. Dazu kommt die Heftigkeit seiner Worte, insbesondere, wenn er sie gegen die Juden richtet. »Auch hier wissen wir genau, daß die wissenschaftliche Erkenntnis bloß die Vorarbeit sein kann, daß aber hinter dieser Erkenntnis die Organisation kommen muß, die einst zur Tat übergeht und die Tat bleibt uns unverrückbar fest, sie heißt: Entfernung der Juden aus unserem Volke«, donnert er. An diesem Abend bringt Hitler laut Zeugenaussagen das Publikum auf Hochtouren. »Und wir verzagen am wenigsten, wenn wir heute noch vielleicht einsam dastehen. Wenn wir überall, wohin wir kommen, wohl Anhänger sehen, aber nirgends den Mut zu einer Organisation – das soll uns nicht irre machen, wir haben den Kampf gewagt und müssen ihn auch gewinnen«, verkündet er mit einer Überzeugungskraft, die selbst die abgebrühtesten Kampfgenossen erschüttert.
Man muss sich Adolf Hitler vorstellen, in dunklem Hemd, auf einem improvisierten Podest. Er spricht zu einem bunt zusammengewürfelten Publikum aus Veteranen und einfachen Bürgern, die schwer unter den Auswirkungen der Ereignisse der letzten Jahre leiden: der Niederlage von 1918, dem demütigenden Versailler Vertrag mit den Reparationsleistungen und Gebietsverlusten, dem Systemwechsel von autoritärer Monarchie zur parlamentarischen Demokratie, der Wirtschaftskrise, der Inflation, den Kommunisten, die Unruhe verbreiten,[5] den Parteien, die sich in die Haare geraten, den dekadenten Künstlern, die provozieren; der Zeitgeist schürt ihre Entrüstung und ihren Hass. Und dann diese Juden, ehemals diskriminiert und mit einem strengen Numerus clausus belegt, der ihnen den Zugang zu vielen Berufen versperrte, die aber nun, den antisemitischen Agitatoren zufolge, überall sind, sogar in der Regierung. Aus all diesen Gründen finden die Verfechter der Reaktion, des Autoritarismus und der xenophoben Abkapselung ein wachsendes Publikum.
An diesem 24. Februar 1920 ist Hitler außerdem beauftragt, das Programm der Partei zu verlesen. In 25 Punkten fordert es ein Großdeutschland, die Beschränkung der Staatsbürgerschaft auf Menschen »deutschen Blutes«, während die Juden unter Fremdengesetzgebung gestellt werden sollen, die Aufhebung der Waffenstillstandsverträge sowie einige antikapitalistische Maßnahmen. Es ist, kurz gesagt, ein zugleich nationalistisches und sozialistisches Programm. Deshalb wird zum Abschluss der Versammlung verkündet, dass die DAP ihren Namen in NSDAP ändert, Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei. Hitlers Erfolg an diesem Abend im Hofbräuhaus bleibt nicht folgenlos. Im Juli 1921 wird er Chef der NSDAP, der »Führer«, während länger gediente oder höherrangige Parteisoldaten das Nachsehen haben. Ein rascher Aufstieg, wenn man bedenkt, dass dieser Mann als Spitzel im Dienst der Reichswehr zur NSDAP-DAP gekommen ist. Doch seine rednerische Begabung erlaubt es ihm, die Karten in seinem Sinn zu mischen. »Die breite Masse eines Volkes besteht weder aus Professoren noch aus Diplomaten. Das geringe abstrakte Wissen, das sie besitzt, weist ihre Empfindungen mehr in die Welt des Gefühls. Dort ruht ihre entweder positive oder negative Einstellung« (1/357), doziert er in Mein Kampf.
1923 wird ein schweres Jahr für Deutschland. Im Versailler Vertrag war das Land dazu verurteilt worden, 269 Milliarden Goldmark an die Siegermächte des Weltkriegs zu entrichten, was wegen der darniederliegenden Wirtschaft nicht gelingen konnte. Um sich die vereinbarten Sachleistungen zu sichern, besetzen im Januar französische und belgische Truppen das Ruhrbecken, das industrielle Zentrum des Landes. Das bedeutet eine unerträgliche Demütigung. Überall im Land kommt es zu Protesten, zu Streiks. Die Zahl der Entlassungen vervielfacht sich, die Preise explodieren, die Mark stürzt ab. Es herrscht größte politische Instabilität. Am 26. September ruft Reichspräsident Ebert den Notstand aus.
Hitler und seine Leute haben den Eindruck, die Weimarer Republik sei in die Knie gegangen. Hat denn nicht jetzt die Stunde des Handelns geschlagen? Hat es denn nicht im Vorjahr jenseits der Alpen ein gewisser Benito Mussolini geschafft, mit einem aufsehenerregenden Marsch auf Rom die italienische Demokratie zu stürzen? Warum sollte so etwas nicht auch in Deutschland möglich sein?
Aber Hitler ist nicht nur der fanatische Parteiredner, der weiß, wie man die Massen packt, sondern kann auch mit guten Manieren glänzen, wenn er von den reaktionären Kreisen des Münchner Bürgertums anerkannt werden will. Auch darin liegt eine seiner Stärken und einer der Gründe dieses rasanten Aufstiegs. So schafft es der junge Chef der neuen Partei, den einstigen kaiserlichen Generalmajor und nach wie vor einflussreichen General Ludendorff zu überzeugen, sich mit ihm zusammenzutun, um einen Gewaltstreich zu wagen.
Auch am 8. November 1923 wird in einer Münchner Bierhalle Geschichte gemacht, diesmal im Bürgerbräukeller. Prominente Vertreter aus Bayerns Regierung, Behörden und Wirtschaft versammeln sich hier vor 3000 Menschen, hauptsächlich aus dem Bürgertum, die beunruhigt über die Lage sind. Bayern, unzufrieden mit der Regierung in Berlin, droht ernstlich mit Abspaltung und hat seinen eigenen Notstand ausgerufen. Plötzlich stürmt ein kleiner Pulk in den Saal: Hitler, flankiert von Anhängern der NSDAP und der SA[6] in eilig zusammengestoppelten braunen Uniformen, dabei auch ein Held der Luftfahrt, Hermann Göring. Und schließlich erscheint General Ludendorff im vollen Glanz seines Ruhmes. Hitler besteigt das Podium mit gezücktem Revolver und fordert die versammelte Politprominenz auf, ihm in einen Nebenraum zu folgen.
Dort verlangt er, ihm die Macht zu überlassen.
Um die Situation zu entschärfen, geben die Herren vage Zusicherungen ab und verlassen dann eilig die Lokalität. Hitler beginnt zu begreifen, dass die erhoffte Macht nur eine Luftnummer ist. Daher beschließt er am nächsten Morgen mit seinen Getreuen, das bayerische Innenministerium einzunehmen. Ist erst einmal Bayern gewonnen, glaubt man auch die Hauptstadt Berlin erobern zu können. Die Verschwörer marschieren also zum Odeonsplatz. Der junge Mann, der die Fahne der NSDAP trägt, heißt Heinrich Himmler. Vor der Feldherrnhalle steht bereits eine Hundertschaft Polizei, ordentlich bewaffnet, die über den geplanten Putsch informiert ist. Nach verbalen Scharmützeln fallen Schüsse. Sechzehn Tote werden aufseiten der Nazis verzeichnet, vier bei den Ordnungskräften. Hitler erleidet eine leichte Verletzung an der Schulter. Später wird er Mein Kampf den sechzehn Toten der Feldherrnhalle widmen. Und in der Nazi-Propaganda wird aus diesem gescheiterten Putsch, diesem erbärmlichen Fiasko, die Eingangsszene des Hitler-Epos werden.
Doch zunächst laufen die Aufrührer auseinander, und der Führer schlüpft im noblen Landhaus seines Freundes Ernst Hanfstaengl[7] unter. Dort findet ihn die Polizei zwei Tage später, niedergeschlagen, mutlos. Überzeugt davon, dass er erledigt ist, hat er sein politisches Testament verfasst.
Aber dank des unerschütterlichen Glaubens an die günstigen Fügungen des Schicksals gewinnt Adolf Hitler seine Fassung zurück, ja schöpft vielleicht sogar wieder Hoffnung. Während der Lastwagen, der ihn ins Gefängnis bringen wird, über die kleinen bayerischen Landstraßen rattert, kann er sich gewiss sein, dass dank dem »Bürgerbräu-Putsch«, der die Schlagzeilen der Zeitungen beherrscht, von nun an ganz Deutschland seinen Namen kennt. Besiegt und berühmt im selben Moment. Aber wird dieser plötzliche Ruhm die Haft überdauern, die ihn in Landsberg erwartet? Wird seine politische Zukunft zu Ende sein, wenn sich die schwere Tür der Festung hinter ihm schließt?