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Zur Entstehung des Ichs

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So klar es ist, dass zwischen dem zweiten und dritten Lebensjahr ein Kind die Erfahrung des Ich-Seins macht, so wenig glaube ich, dass es die Folge der Erziehung oder eine „angelernte Theorie“ (Kruse 24) ist.

Dass und warum es zum Ich kommt, halte ich für außerordentlich geheimnisvoll, aber eines glaube ich nicht, dass es in diesem Leben erworben wurde. Da ist die geballte Macht des Ichs viel zu ungeheuerlich, als dass sie durch eine Erwerbung in diesem Leben erklärt werden könnte. Mag sein, dass es bei einem Kind noch nicht so in Erscheinung tritt, weil es eben erst kurz in dieses Erdendasein eingetreten ist, sich sozusagen noch in einer träumenden Unschuld befindet. Aber auch wenn es sich erst im Laufe der ersten Lebensjahre herausbildet, muss eine Basis dafür schon vorhanden sein. Natürlich lernt es dann, in diesem Leben „ich“ zu sagen, aber mit dieser Bezeichnung müsste überhaupt nicht das einhergehen, was sich als getrennte Wesenheit erfährt, und das ist es, was das Ich ausmacht und was die ganze Problematik zur Folge hat.

Ichbewusstsein hängt zwar mit dem Menschsein aufs engste zusammen und ist tief in ihm verankert, aber es ist nicht mit ihm identisch, denn sonst könnte es nicht aufgelöst werden. Wenn das Ich ausgelöscht ist, hört der Mensch deshalb nicht auf zu existieren.

Wenn man die Entstehung des Ichs im Laufe dieses Lebens, also aus den Bedingungen in den ersten Lebensjahren, zu erklären versucht, dann wird das Ich-Problem als psychologisches Problem gesehen, das dann auch in einer Therapie durch Auflösung des Falschen Kerns und des Falschen Selbst (Wolinsky) zu beheben ist. Es ist einfach zu schön, alles, was schief läuft im Leben des Menschen, auf eine „narzisstische Kränkung“, die in den ersten Lebensjahren stattgefunden hat, zurückführen zu können. Da hat man etwas, was man aufarbeiten kann. Es ist so stimmig und so unwiderleglich, dass man diese Theorie so lieb gewinnt, dass man für eine andere Erklärung gar nicht mehr zugänglich ist.

Die Ich-Problematik ist aber kein psychologisches, sondern ein geistiges oder existenzielles Problem. Zwar kann sich die Ich-Problematik sehr wohl mit einer psychologischen Problematik – z. B. Traumata in der Kindheit oder auch in späterem Alter – verbinden. Die Ich-Problematik kann durch eine psychologische Problematik derart überlagert werden und zu einer so unlöslichen Verbindung werden, dass mit der Behebung des psychologischen Problems auch die Ich-Problematik gelöst ist, denn oft gehen therapeutische Behandlungen mit großem Schmerz und tiefen Erschütterungen einher und nur durch Schmerz, Erschütterung und Verzweiflung kann die Ich-Problematik gelöst werden. Andererseits kann aber eine psychologische Problematik gelöst oder kaum vorhanden sein, und dennoch ist die Ich-Problematik unabweislich gegeben. Das war bei mir der Fall.

Dabei muss man über diese dargelegten Hintergründe überhaupt nicht Bescheid wissen; man braucht nichts zu wissen, um es zu erleben, man braucht keine Kenntnis von diesen Zusammenhängen zu haben, um von ihnen betroffen zu sein.

Ich erlebe das Ich als eine massive Gestalt, eine Mächtigkeit, die dermaßen rabiat an sich selbst festhält, dass sie durch nichts und niemanden davon abzubringen ist. Nur der Tod des Ichs kann aus dieser Ausweglosigkeit herausführen, und den führt kein Ich selbst herbei. Wäre das Ich in diesem Leben, durch Einwirkung der Eltern oder anderer Umweltfaktoren entstanden, müsste es erstens relativ leicht sein, den Ich-Zustand zu überwinden, und zweitens müsste durch eine günstige Erziehung nur wenig Ich aufgebaut worden sein. Was ich sehe ist, dass quer durch alle Milieus, quer durch fast alle Kulturen, quer durch den gesamten Lauf der menschlichen Geschichte der Mensch von seinem Ich beherrscht ist. Inzwischen hat man festgestellt, dass es sogar im Primatenbereich kriegerische Auseinandersetzungen gibt – im menschlichen Bereich eine klare Behauptung des Egos. Ich bin überzeugt, dass das, was sich im Menschen als Ich zeigt, im Leben insgesamt die Selbstbehauptung des Individuums darstellt, die seit Beginn des Lebens wirksam ist. Im Menschen wird die dem Individuum eigene Selbstbehauptungstendenz zur Ich-Behauptung.

Das Ich entsteht unter allen Bedingungen, aber es ist nicht identisch mit dem Menschsein. Das Ich, durch das die Trennung in die Welt kommt, ist nicht primär, also nicht unabdingbar mit dem Menschsein verbunden; nur deshalb kann es überwunden werden. Aber es ist meiner Überzeugung nach nicht durch Erziehung bzw. durch die Gesellschaft bewirkt, sondern eine Grundgegebenheit des Menschseins.

Mir leuchtet am meisten ein, dass das Ich die im Menschen zu Bewusstsein gekommene Selbstbehauptung in der Natur ist. Leben will überleben, und dazu haben sich Mechanismen im Laufe der Evolution herausgebildet, die das Überleben sichern. Und diese Sicherung und Erhaltung des Lebens beruht auf zwei fundamentalen Faktoren: der Sexualität und der Selbstbehauptung. Während aber Selbstbehauptung im Tierreich völlig problemlos zu sein scheint – der Löwe reißt die Gazelle sicher ohne schlechtes Gewissen – entsteht im Menschen das Bewusstsein, dass der andere auch ein Lebensrecht hat. Und damit gerät der Mensch in einen ganz großen Konflikt. Das ist ein Punkt, in dem ich das Vorwärtsdrängen der Entwicklung sehe, denn es ist ja nicht ein bewusstes Tun, das nun die Lebensberechtigung des anderen Menschen sieht; der Mensch hat ja größte Probleme damit, dem gerecht zu werden. Darin liegt ja das Problem, dass sich alles im Menschen dagegen wehrt, den anderen als gleichwertig anzusehen. Es steht sozusagen Natur gegen Natur.

Der Prozess der Selbstwerdung ist deshalb so schwierig, weil es im Grunde ein Prozess gegen die Natur ist. Auf der einen Seite gibt es in der Natur die beharrende Tendenz, das Bewährte zu bewahren, und auf der anderen Seite enthält sie die Tendenz zum Neuen hin, eine über sich selbst hinaustreibende Kraft. Das von der Natur aus Gewordene wird von der Natur zerstört, damit etwas Neues entstehen kann. Beide Kräfte sind Inhalte des Unbewussten, und beides sind außerordentlich starke Kräfte, und genau aus diesem Grund hat der Mensch, der noch im Ich steht, aber die Tendenz spürt, über sich hinauswachsen zu sollen, aus dem Ich heraus keine Chance dazu. Er braucht eine Kraft, die jenseits seiner selbst liegt.

Es ist die in der Entwicklung enthaltene Tendenz zu höherem Bewusstsein, wenn man so will, und sie besteht darin, dass nun ein Individuum nicht mehr nur sich selbst lebt, sondern gezwungen wird, auch das Lebensrecht anderen Lebens anzuerkennen.

Ich würde den Vorgang der Ich-Entstehung aber nicht mit Schuld in Zusammenhang bringen. Es ist keine Frage von Schuld. Die Entstehung des Ichs ist ja keine Schöpfung des Menschen, sondern ein Schritt in der Evolution und damit wohl eine notwendige Durchgangsphase. Sie ist verknüpft mit einer ganz wichtigen Eigenschaft, die sich in der Evolution entwickelt hat: der Fähigkeit, durch Denken und Wollen sein Leben nach seinen eigenen Vorstellungen und Wünschen gestalten zu können. Damit kann der Mensch über die Dinge verfügen, und das ist nur möglich, indem er Distanz zu den Dingen, aber auch zur Natur, zu der er gehört und zu seinen Mitmenschen hat. Diese Distanz bedeutet Trennung, Trennung von der Natur, den anderen Menschen und von sich selbst. Es ist das, was Karl Marx als Entfremdung bezeichnet hat. Im Ich ist der Mensch von sich selbst und seiner Welt entfremdet. Das erlaubt ihm großartige Möglichkeiten der Weltbeherrschung, es ist aber erkauft durch die Trennung und damit durch Beziehungslosigkeit. Der Mensch im Ich lebt in einem Gefängnis, in einem abgeschlossenen Raum, aus dem es kein Entrinnen gibt. Ego-Tunnel wird das von der heutigen Gehirnforschung genannt (Metzinger).

Man kann das Ich als Fehlentwicklung ansehen, aber vielleicht ist es gar keine Fehlentwicklung, sondern eine notwendige Phase, um zu einem Selbstbewusstsein zu gelangen. Es wäre die zweite Phase eines Bewusstseins, eben ein Ich-Bewusstsein, nachdem die erste Phase sicher schon im Tierreich – vielleicht schon im Pflanzenreich - gegeben ist. Und diese Phase muss dann transzendiert werden, man muss über das Ich hinausgelangen. Dann könnte man sagen, dass sich das Bewusstsein in einer dritten Phase jetzt ohne Vermittlung durch ein Ich sich seiner selbst bewusst wird. Vielleicht ist das das angestrebte Ziel des Unternehmens „Schöpfung“ überhaupt. Ein Leben aus dem transzendierten Ich wäre das Paradies auf Erden. Es würde der Zustand eintreten, den alle endzeitlichen Erwartungen zum Ausdruck bringen: ein neuer Himmel und eine neue Erde.

Spiritualität - ganz ohne Spiritualität

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