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Das unsichtbare Mädchen

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Das letzte was Maria heute noch gebrauchen konnte, war dieser „blöde“ Tanzabend. Zugleich wusste sie auch, dass es dieses Mal für sie keine Ausrede geben würde. Denn zu oft schon hatte sie ihren Freundinnen abgesagt. Ihre Unlust resultierte aus dem Streit von soeben.

Vor etwa einer halben Stunde hatten sich ihre Mutter Cecilia und ihre Großmutter Johanna wieder einmal in die Haare bekommen. Wie unzählige Male zuvor, flüchtete ihre Mutter auch nach dieser Auseinandersetzung laut schimpfend und Türen krachend aus dem Haus. Cecilia war da, weil sie wieder einmal finanzielle Hilfe benötigte. Doch Johanna wollte ihr nichts geben. Immer wieder endeten ihre Auseinandersetzungen mit dem gleichen Szenario. Maria hatte sich die Ohren zugehalten, um sich vor dem betäubenden Lärm der in die Rahmen fallenden Türen zu schützen. Gleich nachdem Cecilia aus dem Haus verschwunden war, hatte sich Großmutter mit unverständlichem Gemurmel in die Küche zurückgezogen. Jetzt meldete sich Marias kleiner erschrockener zweijähriger Sohn Mainor mit einem markerschütternden Geschrei. Schnell rannte sie in das Schlafzimmer, um ihn gleich darauf in ihre Arme zu nehmen. Mit beschwichtigenden Worten und Streicheleinheiten beförderte sie den Kleinen schnell wieder ins Reich der Träume zurück. Abschließend stieß sie einen tiefen Seufzer aus, lehnte sich gegen die Wand, rutschte in die Hocke und hielt sich schützend Ihre Handflächen vor das Gesicht. Die Tränen brannten ihr in den Augen, während sich ihr Magen schmerzhaft zusammenkrampfte. Es war nicht das erste Mal, dass sie laute Flüche gegen ihre Mutter in den leeren Raum stieß. Marias Familienkonstellation könnte man eher als ungünstig bezeichnen:

- Rückblick -

Am sechzehnten November 1945 erblickte Maria in Brohmern das Licht der Welt. In ihrer Kindheit genoss das schwarzhaarige Lockenköpfchen ein sehr gutes Verhältnis zu ihrem Vater. Wegen ihrer großen braunen mandelförmigen Augen sowie auch wegen ihrer Lebendigkeit nannte er sie „Rehlein“. Johanna, Marias Großmutter, gefiel dieser Kosename. So kam es, dass sie ihn schnell übernahm. Zu Marias Erleichterung interessierte sich ihre Großmutter nicht für die Politik. Aufgrund ihrer alten Erziehung fühlte sich Johanna weder zum Christentum, noch zum Katholizismus hingezogen. Doch glaubte sie aus tiefstem Herzen an die Bibel. Allein das Wort Gottes war ihr wichtig. Wenn sie danach gefragt wurde, antwortete sie stets, dass sie an Gott glaubte, „aber nicht an sein Bodenpersonal“. Als sie einmal mit ihrer Tochter Cecilia darüber argumentierte, fragte sie diese, ob sie ihr die Stelle in der Bibel zeigen könnte, in der Jesus Christus seine Prediger dazu ermutigt hätte, sich in goldene Gewänder zu werfen, um Geld und Ländereien von ihren Gläubigern zu „ergaunern“.

“Wo steht denn geschrieben, dass die Kirche im Namen Gottes ganze Kulturen ausrotten soll? An welcher Stelle steht über die Erbauung prunkvoller Kathedralen aus dem Blut des Volkes? Zeig mir die Stelle, in der geschrieben steht, dass sich seine Anhänger bereichern sollen, während die Welt in Armut und Elend versinkt!“ Doch anstatt ihr zu antworten, drehte Cecilia ihr den Rücken zu und verließ den Raum.

Maria litt unter dem dauerhaften Konflikt der zwei Frauen. Daher kam es leider nur selten vor, dass sie ihre Großmutter besuchen durfte. Vielleicht war auch die Entfernung ein weiterer Grund dafür. Denn Johannas Haus lag fast am gegenüberliegenden Ortsende. Hinzu kam auch, dass sie eine so unheimlich viel beschäftigte Frau war. Johanna hatte nämlich einen eigenen kleinen Friseursalon mit separatem Eingang. Dieser war direkt in ihrem Haus integriert. Das dreistöckige Gebäude auf der Rotstädter Straße vierundsechzig verfügte sogar über einen eigenen, vor neugierigen Blicken geschützten, Innenhof. Ihr Anwesen befand sich bereits seit vielen Generationen im Familienbesitz. Johanna liebte ihre Arbeit sehr. Von ihrer Kundschaft erfuhr sie so ziemlich alles über den alltäglichen Ortstratsch. Dies war jedoch nicht der einzige Grund, warum sie ihre Arbeit so liebte. Nicht selten erhielt sie hier und da kleine Aufmerksamkeiten. „Das ist für Sie und für Ihre hinreißende kleine Enkelin“, wie Kunden oft zu sagen pflegten. Wegen ihrer Hilfsbereitschaft und wegen ihrer Gutmütigkeit war Johanna sehr beliebt im Ort. Während der Öffnungszeiten war der Friseursalon immer bis auf den letzten Platz mit Kundschaft gefüllt. Maria nahm jede Möglichkeit wahr, ihrer Großmutter einen Besuch abzustatten. Als Kind liebte sie es, Johanna bei der Arbeit zuzusehen. Zumeist saß sie hierzu still auf einem der hölzernen Drehstühle, die im hinteren Teil des Salons in einer Reihe neben Johannas kleinem Büro, standen. Nicht selten erntete das „bezaubernde Lockenköpfchen“ bewundernde Worte von der Kundschaft ihrer Großmutter. Wenn Maria einmal am Wochenende zu Besuch bei ihr schlafen durfte, war der Tisch stets reichlich gedeckt. Manchmal gab es auch Schokolade „aus dem Westen“. Einmal erhielt das junge Mädchen sogar eine ganze Kiste voller bunter Süßigkeiten. „Kundengeschenke“, schmunzelte Johanna stets, wenn sie ihre kleine Enkelin mit diesen seltenen Naschereien überraschte. Danach hielt sie sich stets verschwörerisch den Zeigefinger vor ihren Mund: „Pssst, nicht der Mama sagen!“

Das Verhältnis zwischen Maria und ihrer Mutter hingegen war vom völligen Gegenteil geprägt. Oft fragte Maria sich, wie es möglich war, dass Cecilia und Großmutter so gegensätzlich sein konnten. Sie hatten absolut nichts gemeinsam. Verständlicherweise war das damals zehnjährige Mädchen entsetzt und völlig vor dem Kopf gestoßen, als sie erfuhr, dass ihre Mutter wie aus heiterem Himmel die Scheidung eingereicht hatte. Nur wenige Wochen danach stellte ihr Cecilia Albert als ihren neuen Partner vor. Maria konnte ihn nie als Vater akzeptieren. Nicht nur, weil er im Vergleich zu ihrem leiblichen Vater wesentlich älter war, sondern auch weil sie bereits vom ersten Tag an spürte, wie gleichgültig er sich ihr gegenüber verhielt.

Nach der Scheidung erzählte ihr die Mutter aufgeregt Geschichten über ihren neuen Schwarm. Die Musik war es, die Cecilia und Albert zusammengebracht hatte. Neben ihrer Arbeit als Sekretärin, spielte sie leidenschaftlich gern Klavier. „In einer musikalischen Begegnung“ seien sie „aufeinandergetroffen“, schwärmte Cecilia oft. Da sah sie ihn, diesen „stattlichen Mann mit seiner Zieharmonika.“ Es sei „Liebe auf den ersten Blick“ gewesen. Später erfuhr Maria, dass Albert der eigentliche Scheidungsgrund gewesen war. Obwohl Cecilias Verhalten zur damaligen Zeit eher noch für „unangebracht“ galt, stand ihr Entschluss zur Scheidung fest.

Albert kämpfte bereits im ersten Weltkrieg unter den deutschen Alliierten. Dort fing er sich einen Granatsplitter ein, der in seine Schädeldecke eindrang. Daraufhin hatte er mehrere Wochen in einem Lazarett verbringen müssen. Es dauerte nur wenige Monate, bis der tapfere Kämpfer dann erneut an die Front zurückgekehrt war. Bei seinem zweiten Einsatz geriet er in die Hände des Feindes. So kam es, dass er in ein russisches Kriegsgefangenenlager verschleppt wurde, wo er für einige Monate zusammen mit unzähligen Kameraden in einem Keller hausen musste. Aufgrund der Schmerzen, die ihm seine Kopfverletzung zusetzte, war Albert die meiste Zeit schlecht gelaunt. Vielleicht hatte es auch etwas damit zu tun, dass seine Albträume, die er aus den beiden Weltkriegen mitbrachte, ihn nicht eine einzige Nacht durchschlafen ließen. Des Öfteren wurde Maria durch seine lauten Schreie aus dem Schlaf gerissen.

Es dauerte nur wenige Wochen, bis Albert das erste Mal seinen Gürtel aus der Hose zog, um damit auf das kleine Mädchen loszugehen. Dementsprechend kühler wurde auch das Verhältnis zwischen ihm und Maria. Cecilia stand da vielmehr auf der Seite ihres Mannes. Schließlich hatte er, ihrer Meinung nach, aufgrund seines reifen Alters viel mehr Lebenserfahrungen, von denen sie alle „nur profitieren“ konnten. „Wovon sollte ich denn da profitieren können?“, protestierte Maria zornig, „Soll ich etwa lernen, wie man Krieg spielt? Wie man mit einer Waffe herumfuchtelt und wildfremde Leute mit Munition abknallt, die vielleicht die Brüder der Gefallenen unter Zwangsarbeit produzieren mussten? Und das alles nur weil irgendwelche Idioten behaupten, dass die anderen unsere Feinde sind?“ Kein Jahr war seither verstrichen, da trug Cecilia auch schon Alberts Kind im Bauch. Spontan reagierten die Zwei und gingen von einem Tag auf den anderen den Bund der Ehe ein. Aus der „Familie Brandt“ wurde nun die „Familie Schneider“. Nur Maria weigerte sich ihren Namen zu ändern. Sie wollte den alten Familiennamen ihres Vaters beibehalten.

Obgleich Johanna ihre Tochter mit bestem Wissen und Gewissen erzogen hatte, trat sie dennoch in die Partei ein, um ihr bis zum Ende treu zu dienen. Cecilia war fest davon überzeugt, dass jeder Querdenker, der ihr sozialdemokratisches System kritisierte - wie damals die Ketzer - „auf das Schaffott“ gehöre. Zu dieser Zeit war man stets darauf bedacht, den Menschen die kommunistische Ideologie als den einzigen wahren Glauben zu vermitteln. Um so verständlicher war die eher unfreiwillige Billigung der Kirche durch den Staat. Hatte man alleine das Wort „Bibel“ in den Mund genommen, musste man selbst bei den Kindern damit rechnen, ausgelacht zu werden. Würde man unter Gleichaltrigen noch hinzufügen, dass man ein Gläubiger Gottes sei, konnte es leicht vorkommen, dass unter lautem Gelächter auch diverse Beleidigungen auftauchten.

Mit der Geburt des zweiten Kindes Mattis, Marias jüngerem Bruder, nahm für Maria die Situation unerträgliche Ausmaße an. Während nun das Neugeborene ins Zentrum des glücklichen Elternpaares rückte, geriet sie gänzlich ins Abseits des Familienlebens. Mattis hier, Mattis da. Mattis sollte es nie an irgendetwas fehlen. Die stolzen Eltern lasen ihm förmlich die Wünsche von den Lippen ab. Bereits im frühen Alter von fünf Jahren hatte Mattis seine eigene Instrumente, inklusive privaten Musikunterricht, bekommen. Mattis war ihr ganzer Stolz. Er war das Symbol ihrer Ehe. Ganz gleich, was er wollte - Seine Eltern konnten es nicht erwarten, ihm seine Bedürfnisse zu erfüllen. So wuchs Maria unter Vernachlässigung und unter dem ständigen Druck ihrer Mutter heran. Wie oft schon musste sie sich ihre Predigten anhören, dass sie sich baldmöglichst eine Arbeit suchen sollte, damit sie endlich auf eigenen Beinen stehen könnte. Für gewöhnlich gab Cecilia ihrer Tochter gerne noch einen kleinen emotionalen Magenhieb obendrauf. Wie zum Beispiel: „Schmarotzer können wir hier nicht gebrauchen“, oder „Manchmal muss ich mich schon dafür schämen, dass du meine Tochter bist“. Obwohl das Verhältnis zu ihrer Mutter bereits schon seit vielen Jahren gestört war, trat Maria dennoch in ihre Fußstapfen und begann ebenfalls eine Karriere als Sekretärin im „VEB Chemiekombinat in Kosslau“. Die Ironie des Schicksals wollte es, dass Mutter und Tochter, auf unterschiedlichen Etagen voneinander getrennt, im gleichen Gebäude arbeiteten. Der Grund hierfür war, dass Maria nicht viel berufliche Möglichkeiten für sich sah. Ausgenommen sie wäre in der Partei und vielleicht sogar systemfördernd engagiert. Doch mit der Politik wollte sie sich - nach dem Vorbild ihrer Großmutter - nicht einlassen. Das war ihr zu kompliziert.

Und außerdem: Für derlei Dinge gibt es ja schließlich das Politbüro, dass vom Volk bezahlt wird, die Bürger des Landes in Frieden zum Wohlstand zu verhelfen.

Jedenfalls, am gleichen Tag an dem Maria ihr achtzehntes Lebensjahr erreichte, zog sie in das Haus ihrer Großmutter ein. Nur wenige Wochen darauf, bezogen Cecilia und Albert eine neue - ihnen zugeteilte - Unterkunft in der Adolf-Hennecke-Straße Nummer drei, einem Ortsviertel das zum Großteil den Genossen, Genossinnen und den Günstlingen der SED vorbehalten war. Albert und Cecilia bezogen eine geräumige Vierraumwohnung im Erdgeschoss, mit einem gemütlichen Garten gleich hinter dem Haus, in dem eine kleine Holzscheune stand.

Während die Eltern sich gut in ihrem neuen Zuhause einlebten, wollte Maria ihre erlangte Freiheit auskosten. So kam es, dass sie sich regelmäßig mit ihren Freundinnen zum Tanzen traf, um mit Männern zu flirten oder um einfach nur sie selbst sein zu dürfen. Seit Längerem pflegte sie ein intimes Verhältnis zu Erwin, einem jungen Minenarbeiter, gleich aus dem Nachbarort Dringendorf. Da die Kohleminen ihren Heimatort fast gänzlich umringten, war jeder dritte männliche Einwohner dieser Kleinstadt in einer dieser Gruben tätig. Ob gewollt oder nicht - Eines Morgens wachte sie auf und erkannte, dass sie ein Kind von Erwin erwartete. In einer für heutige Verhältnisse dünn besiedelten Ortschaft machte die Neuigkeit von ihrem unehelichen Kind schnell die Runde. So brauchte es auch nicht lange, bis eines Morgens ihre Mutter vor dem Haus stand und so laut schrie, dass man ihre Flüche über die gesamte Straße hören konnte. Lauthals wünschte sie ihrer Tochter, dass sie doch für ewig in der Hölle schmoren sollte. Dass sie - ihre Mutter - sich dafür schämen würde, eine derartig „gewissenlose Hure“ zur Tochter zu haben.

Nach einem Gespräch mit Johanna schien ihr plötzlich, wie aus heiterem Himmel, ihre neue Rolle als Großmutter bewusst geworden zu sein. So sorgte Mainor bereits in frühem Säuglingsalter für den einstweiligen Familienfrieden. Da jedoch Cecilia ihren Waffenstillstand an die Bedingung knüpfte, dass ihre Tochter zukünftig den Kindesvater zu meiden hatte, war bereits eine erneute Auseinandersetzung vorprogrammiert.

Schon seit Beginn ihrer Beziehung, wusste Maria, dass Erwin „nicht in hundert Jahren“ ihr Herz gewinnen würde. Dafür war er ihr viel zu einfach „gestrickt“. Dennoch war er der Vater ihres Kindes. So traf sie sich auch weiterhin mit ihm. Erwartungsgemäß bekam Cecilia irgendwann Wind davon. Umgehend schnappte sie sich ihr Fahrrad und fuhr damit zum Haus ihrer Mutter, Johanna. Noch im Vorhaus stehend, rastete sie völlig aus. Sie schrie herum, stampfte wütend die Treppen in den Wohnbereich hinauf und ließ die Türen so stark in die Rahmen krachen, dass die Fensterscheiben zitterten. Diese ewigen Zankereien sollten Cecilia dennoch nicht davon abhalten, auch weiterhin ihrem Enkelsohn Mainor ihre Aufwartung zu machen. Wenn auch nicht so häufig wie zuvor. Fast jedes Mal, wenn sie zu Besuch kam, gab es Streit. Denn von fortan hatte Cecilia ihre Feindseligkeit auf Erwin, Mainors Vater, gerichtet. Zumeist ging es darum, dass Maria den „Hurensohn“ oder „Säufer“ endlich verlassen und ihm einen Tritt in den Hintern geben sollte. Sie hegte einen solch unglaublichen Hass auf den Mann, der ihre Tochter „geschändet“ hatte, dass sie sich Zeit ihres Lebens weigerte, je seinen Namen auszusprechen. Wenn sie sich einmal den Mund über ihn zerredete, sprach sie stets nur in der dritten Person von ihm. Ein weiterer Grund für ihre regelmäßigen Besuche war das Geld, dass sie sich von ihrer Mutter erbat. So wie das auch an diesem Abend der Fall gewesen war.

- Rückblick Ende -

Das klickende Geräusch eines Steines, der gegen das Glas schlug, ließ Maria hochschrecken. Als sie sich aus dem Fenster beugte, lugten ihre beiden Freundinnen lächelnd unter ihren Regenschirmen hervor. „Kommst du?“

„Ja, einen Moment bitte! Ich bin gleich unten.“ Sie schloss eilig das Fenster, um nur einen Augenblick später im Badezimmer zu verschwinden. Schnell spritzte sie sich einen Tupfer Zahnpasta auf die Fingerspitze, um sich gleich darauf mit hektischen Bewegungen ihre gesunden, strahlend weißen Zähne zu massieren. Als sie damit fertig war, wusch sie sich flüchtig ihr bleiches Gesicht. Danach strich sie sich noch schnell mit den Fingern durch ihre schwarze Löwenmähne, die ihr bis zu den Schultern reichte. Bevor Maria das Badezimmer verließ, knotete sie ihre Haare hastig zu einem Zopf zusammen. Dann schlüpfte sie schnell in ein neues Kleid und vergewisserte sich, dass der kleine Mainor auch wirklich schlafen würde. Das Tanzlokal war nicht einmal einhundert Meter vom Haus entfernt. Da war es für sie kein Problem, zwischendurch mal kurz über die Straße zu huschen, um nach ihrem Sohn zu schauen. Zum Abschied streichelte sie ihren kleinen Mainor sanft über den Kopf und küsste ihm zärtlich auf die Stirn. Dann schloss sie die Tür hinter sich. Bevor sie jedoch die Haustür öffnete, hielt sie noch ein letztes Mal kurz inne und strich sich nervös über ihr Kleid. Dann stieß sie einen leisen Seufzer aus. Ohne zu wissen, dass dieser Abend ihr Leben für immer verändern würde, griff sie zur Klinke und öffnete die Haustür. Als sie auf der Straße stand, hakte sie sich links in Bettinas und rechts in Claudias Ellenbeuge ein. Bettina hob ihren Regenschirm schützend über Marias Kopf. Gemeinsam überquerten nun die drei jungen Frauen kichernd die Straße.

Bettina und Maria pflegten bereits seit ihrer Kindheit eine schier unzertrennliche Freundschaft. Maria war elf Monate jünger als ihre Freundin. Viele Jahre zuvor hatten sich die Zwei auf dem Schulhof kennengelernt. Seither trafen sie sich regelmäßig um gemeinsam zu lernen und sich die Zeit zu vertreiben. Nach ihrem zehnjährigen Schulabschluss begann sie eine Ausbildung als Küchengehilfin in der Hauptkantine im „VEB Chemiekombinat Kosslau“, in der sie bis zu ihrer Rente im Zweischichtbetrieb tätig sein sollte.

Claudia hatte nie Schwierigkeiten bei Männern gut anzukommen. Sie war hoch gewachsen und ihr blondes Haar reichte ihr fast bis zu den Hüften. Sie liebte es, ihre Nägel zu maniküren, sich zu schminken, sich zu kleiden. Einmal, während Maria und Bettina geduldig nebeneinander auf der Couch gesessen hatten und gelangweilt in Claudias Klatschmagazinen herumblätterten, verschwand sie für über eine Stunde lang im Bad. Claudia war eine schöne Frau. Sie wäre das perfekte Model gewesen. Doch leider waren ihre Großeltern während des Winters 1962 mit gefälschten Pässen in den Westen geflüchtet. Da konnte sie vom Glück reden, dass sie dennoch ihr Abitur beginnen durfte. Denn ohnedem befand man sich - auch in der DDR - auf einer niedrigen Gesellschaftsstufe. Nachdem Claudias Antrag für ein Musikstudium, dann für ein Kunststudium und letztendlich sogar für ein Lehramt abgelehnt worden war, blieb ihr letztendlich nichts weiter übrig, als eine „Karriere“ im Konsum zu beginnen. Als hätte es das Schicksal so gewollt, befand sich der Laden, indem sie angestellt wurde, gleich gegenüber der Straße von Marias Haus. So hatten sie sich damals auch kennengelernt: Das erste Mal, als Maria vor ihr an der Kasse stand, spürten sie beide sofort ihre gegenseitige Sympathie und wurden daraufhin gute Freunde. Den Männern schien es nichts auszumachen, dass Claudia „nur“ eine Verkäuferin war, denn sie lagen ihr reihenweise zu Füßen.

Glücklicherweise war unter Claudias Verehrern auch der Betreiber des Tanzlokals zu finden. So wurden sie von den Sicherheitsleuten elegant - an der langen Warteschlange vorbei - in das Lokal geführt. Nachdem ihre Freundinnen sie zum Dank dafür zu einem Getränk eingeladen hatten, stellten sie sich gleich in die Nähe der Eingangstür. Denn dort war die Luft nicht so verbraucht und stickig. Außerdem konnte man von hier aus die eintretenden Gäste viel besser beobachten.

Engelstränen

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