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Delirium

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Das Tanzlokal war bereits brechend voll. Auch die Luft war stickig und feucht. Während Peter, wie nicht allzu selten, gleich bei der ersten Mädchengruppe hängen blieb, kämpfte sich Rolf durch die Menge zur Bar. Dort angekommen, bestellte er sich eine „Club Cola“ mit einem Schuss Zitrone. Damals trank Rolf prinzipiell keinen Alkohol. Für ihn war es wichtig, stets hundert Prozent die Kontrolle zu bewahren. Alkoholisierte Menschen waren für ihn ein Graus. Er wollte mit diesen „Trunkenbolden“, wie er sie zu nennen pflegte, nichts zu tun haben. Er stellte sich, mit dem Rücken zur Wand lehnend, in die Nähe der Bar. So ließ er sich von den schrillen Klängen der Musik berieseln, bevor er in seine Gedanken versank. Für Rolf gab es immer nur das Eine: Der Untergrund. Seine Organisation befand sich gerade mitten im Aufbau. Viele Dinge mussten geplant und koordiniert werden. Doch jetzt war er hier, um sich mit seinem Freund zu amüsieren. So konzentrierte er sich wieder auf das aktuelle Geschehen. Mit der Zeit jedoch, wurde ihm zunehmend langweiliger. Er sinnierte schon darüber, wie lange er wohl heute noch hierbleiben würde. Seiner Meinung nach schien auch die Band an diesem Abend nicht gerade ihren besten Tag zu haben. So spielte er sich mit dem Gedanken das Lokal zu verlassen. Unentschlossen, ob er Peter das wirklich antun wollte, wandte er sich in Richtung Ausgang. Verblüfft stellte er fest, dass der vordere Eingangsbereich schon geschlossen wurde. Durch die kleinen Fenster, neben dem Eingang, sah er, dass sich außen etliche Jugendliche an der geschlossenen Tür drängten. Peter stand immer noch bei den Mädels gleich gegenüber von der zweiten Bar. Dem Anschein nach schien sein Freund eine recht interessante Unterhaltung zu haben. Von den drei Frauen, die um ihn herumstanden, war Rolf besonders die Schwarzhaarige aufgefallen. Sie schien völlig abwesend zu sein.

Woran sie wohl gerade denkt?“

Während sich Claudia wiedermal über ihre Verehrer lustig machte, schwebte Maria in ihrer eigenen Fantasiewelt und nuckelte genüsslich mit dem Strohhalm an ihrer Wodka Cola. Wie aus heiterem Himmel stand plötzlich dieser Typ in ihrer Mitte und beteuerte ihnen, dass er glaube, im siebenten Himmel gelandet zu sein, weil er solchen „einzigartigen Schönheiten“ wie ihnen begegnet wäre. Maria runzelte die Stirn und nuckelte unbeeindruckt weiter an ihrem Plastikröhrchen. Claudia hingegen riss ihre Augenlider hoch und war sofort wieder in ihrem Element. Beide begannen sich oberflächliche Floskeln auszutauschen. Der Typ stellte sich den Mädels als Peter vor. Er sei nur „rein zufällig“ mit einem Freund hierhergekommen. Jedoch ging dieser Teil in Claudias Geschnatter unter. Maria war nicht die Einzige, die das Gefühl hatte, dass der junge Mann zunehmend nervöser wurde. Man konnte es auch an der Zigarette erkennen, die er in seiner rechten Hand zwischen Daumen und Mittelfinger hielt. Die er nun unaufhörlich mit seinem Zeigefinger antippte, um die Asche abzuklopfen. Endlich sprach Bettina ihn darauf an. Sie fragte ihn was denn mit ihm los sei, warum er so nervös herum trat.

Wie von Maria richtig vermutet, fühlte sich Peter von den drei Frauen tatsächlich sichtlich überfordert. Aus diesem Grund wünschte er sich Rolf an seine Seite. „Ich würde euch gerne meinem Freund vorstellen. Wenn die Damen erlauben würden?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, ließ er nun seinen Blick durch den Saal schweifen, woraufhin die Blicke der Mädels ihm folgten. Da sah er ihn verloren auf der Tanzfläche stehen. „Rolf!“, schrie er lauthals durch den großen Saal. Erschrocken hielten sich die Mädels ihre Ohren zu.

„Rooooolf, komm mal her hier!“

„Fresse halten!“, antwortete eine verärgerte Stimme hinter ihm. Sobald Rolf seinen Namen durch den Tanzsaal schreien hörte, musste er unwillkürlich zusammenzucken. So war er nun einmal - der gute alte Peter. War Rolf mit ihm unterwegs, dann musste er ständig damit rechnen, hin und wieder ungewollt auf dem Präsentierteller der Öffentlichkeit zu landen. Um weiteres Aufsehen zu vermeiden, reagierte er sofort, indem er seinen Arm rasch in die Höhe hob. Er errötete augenblicklich, als er bemerkte, dass Peter die Aufmerksamkeit der Gäste auf ihn gelenkt hatte. Wollte er Schlimmeres vermeiden, dann musste er schleunigst dafür sorgen, dass Peter endlich damit aufhörte so herumzuschreien. Geschickt schlängelte er sich durch die tanzende Meute zu seinem Freund, der im vorderen Bereich vom Saal im Halbkreis mit den Mädels zusammenstand und ihm noch immer zuwinkte. Glücklicherweise verlor der größte Teil der Gäste schnell wieder das Interesse an den beiden, denn ein Gast nach dem anderen wendete sich allmählich wieder seinem eigenen Vergnügen zu. Mit viel Mühe hatte sich Rolf durch die dichte Menschenmenge gewühlt, bis er endlich zwischen Peter und den Frauen stand. Höflich entschuldigte sich Rolf bei den Damen für seinen Freund sowie auch für diesen „äußerst unangenehmen Vorfall“. Noch immer an ihrem Trinkröhrchen nippend, musterte Maria den fremden Mann, der ihr nun direkt gegenüberstand. Dabei pendelte sie mit ihren Schultern hin und her. In seiner Körpergröße überragte er sie um nahezu zwei Köpfe. Und er war schlank. Sie ging ihm gerade einmal bis zur Brust. Als sie nun neugierig zu ihm heraufschaute, trafen sich zum ersten Mal ihre Blicke. Für Maria fühlte es sich so an, als würde sie in ein ihr noch unbekanntes Universum blicken. Dann kam diese angenehme Hitze, die sich wie ein Orkan in ihrem Unterleib ausbreitete. Auch Rolf spürte sofort den Zauber der Liebe. Beide standen sie sich wortlos gegenüber und schauten sich tief in die Augen. „Haaallo“, hörte Rolf seinen Freund Peter plötzlich wie aus weiter Ferne rufen. „Erde an Mond!“ Doch Rolf und Maria befanden sich in einer ihm bisher noch fremden, fernen Welt. „Darf ich Sie zum Tanz bitten, gnädige Frau?“ Daraufhin verbeugte sich Rolf vor ihr, so wie es sich für einen richtigen Gentleman gehörte. „Sind Sie schon liiert?“, fragte Maria während sie abwechselnd von ihren Zehenspitzen auf ihre Fersen trippelte. Der junge Mann konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. „Keineswegs, Gnädigste.“ So etwas war ihr bisher noch nie passiert. Noch nie war es jemandem so schnell gelungen in ihr derart-intensive Gefühle auszulösen. Und schon gar nicht ein Wildfremder, mit dem sie bisher kaum ein Wort gewechselt hatte. Willenlos hielt sie ihm ihre Hand entgegen. Rolf legte sie auf seinen Arm. Sofort spürte er, wie ihre Wärme ihn durchflutete. Noch vor wenigen Minuten hatte sie geglaubt, sie wäre auf alles vorbereitet gewesen. Bis sie der Mann, der sich ihr soeben mit Rolf vorgestellt hatte, sie eines Besseren belehrte und sie zum Tanzen aufforderte. In ihren Augen stellte dieser Fremde alle anderen Männer im Saal in den Schatten. Noch nie war sie einem „so charmanten und schönen“ Menschen begegnet, der so gut tanzen konnte. Seine Bewegungen waren geschmeidig und galant. Ihre ineinandergreifenden Hände wippten im Takt der Musik, ihre Körper begannen zu schwitzen. Beide pulsierten in unerschütterlicher Gewissheit, bis in alle Ewigkeit für einander bestimmt zu sein. Sie tanzten noch bis tief in die Nacht hinein, während sie in unerreichbaren Dimensionen schwebten.

So kam es, dass sich Maria und Rolf ineinander verliebten. Sie trafen sich von nun an immer immer häufiger. Der Umstand, dass sie um drei Jahre älter war als er, störte keinen der beiden. Zuerst war es nur wilde Leidenschaft, in die sich stürzten. Dann aber kamen die gemeinsamen Träume. So hatte Maria sich eines Tages dafür entschieden, dass der Zeitpunkt gekommen sei, Rolf über ihren Sohn Mainor aufzuklären. Schon Wochen zuvor holte sie sich Rat von ihrer Freundin Bettina, die ihr dabei geholfen hatte, die richtigen Worte dafür zu finden. Denn Claudia konnte man solche Dinge einfach nicht fragen. Da könnte man sich eher bei einem Straßenschild nach dem Wetter informieren. Sie hatte immer nur Männer oder Mode im Kopf. Sie war das genaue Gegenteil von Bettina. Denn Bettina hatte ihr gleich geraten, von Anfang an bei der Wahrheit zu bleiben: „Früher oder später wird er es ja doch erfahren. Sprich es einfach an und dann wirst du ja schon sehen was passiert“, beschwichtigte sie ihre Freundin. Das klang für Maria nur logisch. Also hatte sie sich vorgenommen, ihm an diesem Tag reinen Wein einzuschenken.

Für vierzehn Uhr hatten sie sich in der Eisdiele, gleich neben Marias Haus, verabredet. Da Walter ja ein sehr guter Freund ihrer Mutter war, erledigte sich die Reservierung der kleinen Sitzecke ganz vorn am Fenster, für den kommenden Freitag wie von selbst. Rolf kam extra mit dem O-Bus aus Rotstadt angereist. Als der Bus eintraf, wartete Maria bereits an der Haltestelle. Galant sprang er von der letzten Stufe des Busses. Nach einer ausgiebigen Begrüßung schlenderten sie Hand in Hand zu Walters Eisdiele. Während sie ihn dabei beobachtete, wie er in Gedanken verloren die Eiskarte studierte, stieg in ihr das Gefühl auf, dass jetzt der richtige Moment gekommen sei. Ihr pochte das Herz fast bis zum Hals hinauf. Schließlich gestand sie ihm mit flüsterndem Ton, dass sie etwas Wichtiges mit ihm zu besprechen hätte. Er blickte auf und erwiderte ihren Blick. „Dann schieß Mal los!“ Maria streckte ihm ihre Hände entgegen. Behutsam nahm er ihre kalten Finger in seine warmen Hände. Während sie weitersprach suchte sie in seinen Augen nach einem Zeichen. „Ich habe ein Kind. Einen zweijährigen Sohn. Er hört auf den Namen Mainor.“ Zwischen ihnen trat eine kurze Stille ein. Für einen kurzen Augenblick zog sich ihr Herz schmerzhaft zusammen, denn sie sah die Überraschung in seinem Blick. Darauf war er nicht vorbereitet. Doch nur eine Sekunde später hatte er seine Sprache wieder gefunden.

Warum nicht?“, dachte er.

Er war erst achtzehn Jahre und bisher hatte er sich noch nie

Gedanken über ein Kind gemacht.

Aber was konnte es ihm Schaden, von einem Moment auf den nächsten in eine Vaterrolle zu schlüpfen? Mainor war zwar nicht sein Kind, doch allein die Erfahrungen würden es sicherlich wert sein.

Natürlich hatte er ursprünglich ganz andere Pläne. Aber Rolf hatte einen Sinn dafür, dass die Dinge letztendlich völlig anders verlaufen würden, als erwartet. „Wie heißt denn der Kleine?“, fragte er sie jetzt. Maria fiel ein Stein vom Herzen. Im ersten Moment befürchtete sie, Rolf würde sofort aufspringen und gleich darauf ohne ein weiteres Wort das Lokal verlassen. Dann würde sie ihn nie wieder sehen. Stattdessen wusste sie nun instinktiv, dass er sie wirklich liebte, dass er ihre Beziehung wegen ihrem Kind nicht aufgeben würde. Lächelnd beugte sie sich über den Tisch und drückte ihren Geliebten fest an sich. Schließlich lösten sie sich voneinander. Mit dem Ärmel ihrer etwas zu groß geratenen Jacke wischte sie sich schüchtern ihre Tränen vom Gesicht. Ein Anblick, der ihm das Herz schmelzen ließ. „Dann sind wir ja jetzt schon drei“, lächelte er ihr liebevoll zu. Dann küsste er sie zärtlich auf den Mund.

Von diesem Tag an brachte sie ihren kleinen Mainor des Öfteren zu ihren Verabredungen mit. Johanna erfreute sich an dem Glück ihrer Enkelin, sodass sie ihr schließlich ein gemeinsames Mittagessen vorschlug, bei dem sie Marias „Prinzen“ kennenlernen wollte. Rolf und Johanna verstanden sich auf Anhieb. Wie sich herausstellte teilten sie viele gemeinsame literarische und philosophische Interessen. Noch in der folgenden Woche ließ Johanna ihre Kontakte spielen und besorgte Rolf eine günstige Unterkunft ganz in der Nähe ihres Hauses, in der er und Maria von nun an ihre gemeinsamen Wochenenden verbrachten. Jeden Freitag - gleich nach der Arbeit, nahm er immer den Bus nach Brohmern. Maria blieb dann stets bei ihm, bis er am Sonntag Abend mit dem letzten Bus wieder zurück nach Rotstadt fuhr.

Die Monate verflogen. Zunehmend kamen sich Rolf und Maria einander näher. Anfänglich sprach er oft über literarische und poetische Kunst. Wenig später erzählte er ihr, dass seine Mutter im Westen sei, dass er sie und seine Tanten vermisste und er sie gerne wiedersehen wollte. Schließlich spürte er, dass er Maria Vertrauen konnte. So verriet er ihr auch von seinen Plänen und von seiner Arbeit in einer Untergrundbewegung. Er berichtete ihr von den Gleichgesinnten. Er sprach von den Kontakten, die sie im Westen hätten. Auch, dass sie von „denen“ mit Devisen unterstützt würden. Im Gegenzug würden ihre „Botschafter“ in unbestimmten Abständen vertrauliche Informationen in den Westen schmuggeln. „Wir ziehen das ganz große Ding durch. Wir werden den Ulbricht stürzen und dann das Land wieder in unsere eigenen Hände nehmen.“ Maria erschrak. Zumal doch ihre Mutter eine hundertprozentig überzeugte Genossin war. Sie flehte ihn an, sich seine Handlungen gut zu überlegen. Jetzt wo sie eigene Kinder haben wollten, sei das doch viel zu gefährlich. Letztendlich und um des Friedens Willen versprach er ihr, von nun an seine Kraft „lebenswichtigeren Dingen“ zuzuwenden. In Wahrheit wusste er aber, dass es für ihn keine Alternative gäbe. Allein im Widerstand sah er die einzige Lösung. Dieser Kampf war seine Bestimmung. Er war bereit, alles dafür zu opfern.

Inzwischen hatten Rolf und Johanna eine freundschaftliche Beziehung aufgebaut. Regelmäßig lud sie ihn an den Sonntagen zu Mittag ein. Während des Essens überredete sie ihn oft, doch noch bis zum Kaffee zu bleiben, bevor um sechzehn Uhr der letzte Bus nach Rotstadt fahren würde. Maria hatte bisher den Kontakt zwischen ihm und ihrer Mutter bewusst vermieden, denn sie kannte Cecilia. Mittlerweile kannte sie aber auch Rolf. Eine unglücklichere Konstellation hätte man sich wirklich kaum vorstellen können. Sie war jedoch intelligent genug, um zu erkennen, dass - wenn sich etwas Ernsthafteres zwischen ihr und Rolf entwickeln sollte, eine Konfrontation der beiden unausweichlich wäre.

Rolf war sich sicher. Er liebte diese Frau, die ihn so gut verstand, mit der er über viele Dinge reden konnte. Sie war nicht nur schön, sondern auch intelligent. Und sie hatte ihr Herz am richtigen Fleck. Maria trug alle Eigenschaften einer Frau in sich, die er so sehr begehrte. So entschied er sich, bei einer ihrer Verabredungen, um ihre Hand anzuhalten. Dazu wählte er den Smoking, mit dem er sie auf dem Ball kennengelernt hatte. Dabei wusste Rolf noch nicht einmal, ob sie ihm überhaupt ihr „Ja“ - Wort geben würde. Doch er hatte ein gutes Gefühl im Bauch. Darum fragte er bereits Wochen vor seinem Heiratsantrag in einem der Rotstädter Schmuckgeschäfte nach Hochzeitsringen an. Marias Fingergröße herauszufinden war für ihn ein Kinderspiel. Er fragte sie einfach, ob er sich ihren Ring für einige Tage als Glücksbringer ausleihen dürfe, denn er stände kurz vor den Zwischenprüfungen. Bereits drei Wochen später lagen die Ringe zum Abholen bereit. Wie gewöhnlich holte Maria ihn am Freitag Nachmittag vom Bus ab. Ihr war sein schicker Aufzug sofort aufgefallen. „Hallo, schöner Mann“, staunte sie, während sie auf Rolf zutrat. Nach dem rituellen Begrüßungskuss steuerten sie Hand in Hand auf seine angemietete Unterkunft zu. Instinktiv spürte sie, dass er irgendetwas vor ihr zurückhielt. Auch weil er sie heute unbedingt zum Essen ausführen wollte. Jedoch hatten sie ihrer Kenntnis nach noch kein Tisch reserviert. Im Ort gab es nur zwei Restaurants, wobei der „Anker“ zwar das vornehmere Lokal war, dafür aber zumeist geschlossen hatte.

So kam es, dass Rolf Maria zu einem kurzen Umweg überredete, um kurz in der Adolf-Henecke-Straße beim „Stern“ vorbeizuschauen. Am Eingang bat er sie, vor dem Gasthaus zu warten, während er für diesen Abendeinen Tisch reservieren würde. Danach betrat er das Restaurant, stellte sich brav an den Empfang und hoffte darauf, möglichst bald von einem der Bediensteten angesprochen zu werden. Rolf wartete geschlagene zehn Minuten, als endlich ein hagerer Kellner älteren Jahrgangs Erbarmen zeigte und auf ihn zutrat: „Wir sind leider voll.“

„Nein, ich würde nur gerne einen Tisch für heute Abend reservieren“ Als der Kellner das hörte, lachte er laut: „Hahaha, junger Mann. Sie gefallen mir. Wir sind bis Ende nächster Woche ausgebucht. Ich kann ihnen aber gerne einen Tisch für den ...“, jetzt holte er ein schäbiges Büchlein aus seiner dunklen Ledertasche, die er an seinem Hosengurt trug. Rolf fuhr dem Kellner dazwischen: „Nein, ich brauche den Tisch für heute Abend.“

„Das ist völlig ausgeschlossen!“, protestierte der Kellner. „Könnte Sie das hier vielleicht umstimmen?“, fragte Rolf, indem er ihm einen Fünfzig-Mark-Schein vor die Nase hielt. Fast beleidigt wollte sich der Kellner soeben unbeeindruckt von seinem Gast wegdrehen. Doch insgeheim hatte Rolf schon mit dieser Reaktion gerechnet. Aufgrund seiner Kontakte hatte er stets die nötige „klassenfeindliche“ Währung mit, die ihm hin und wieder dabei half, seine Interessen durchzusetzen. Nun ließ er die kleine Ecke eines zehn D-Mark Scheines aus seiner geschlossenen Hand blitzen. Erschrocken vergewisserte sich der Kellner, dass sie niemand beobachtet hatte. Danach wandte er sich wieder seinem Gast zu. Nun hatte Rolf seine volle Aufmerksamkeit. Die Augen des Kellners funkelten gierig auf den hervorlugenden Geldschein. Dann holte er noch einmal sein Notizbuch hervor, begann darin herumzublättern und rümpfte sich die Nase: „Hmmm ... tjaaa.... o .... hmmmm...“. Nach einer Weile schaute er mit traurigen Augen zu Rolf: „Tut mir leid, aber heute Abend geht wirklich nichts mehr. Für morgen könnte sich aber noch etwas machen lassen“, fügte er eifrig hinzu, wobei er wieder gierig auf den Geldschein schielte. „So um achtzehn Uhr?“, fragte Rolf. „Ja, das könnten wir einrichten“, erwiderte der dünne Kellner eifrig. Rolf teilte den D-Mark Schein in der Mitte, gab dem Kellner die eine Hälfte und versprach ihm die andere Hälfte zu geben, sobald er morgen Abend zu besagter Zeit mit seiner zukünftigen Gemahlin wirklich einen Tisch zugewiesen bekommen würde. Dankend nahm der Kellner die erste Hälfte des Scheines entgegen. Im Anschluss fragte er ihn, auf welchen Namen er denn reservieren solle. Als Rolf vom Restaurant auf die Straße trat, empfing ihn Maria mit einem strahlenden Lächeln. „Was für ein Prachtweib“, fuhr es ihm durch den Kopf.

Es war Samstagabend. Elegant führte Rolf seine Angebetete zum reservierten Tisch. Anschließend studierten sie die Karte. Beide bestellten sie sich ein „Ragout Fin“ als Vorspeise. Während Rolf sich einen „Kassler mit Petersilienkartoffeln und Sauerkraut“ gönnte, stand Maria an diesem Tag eher auf leichtere Kost. So bestellte sie für sich nur einen „Bröselsalat“. Glücklicherweise waren ihre Portionen groß genug, dass sie davon ausgiebig gesättigt waren. Als Begleitgetränk ließen sie sich eine Flasche „Grauer Mönch“ - eine beliebte ungarische Spätlese - servieren.

Als sie wieder einen sauber abgeräumten Tisch vor sich hatten, berichtete Maria von ihrer Arbeit und von ihren Kollegen. Sie war inmitten ihrer Erzählung, da ließ sich Rolf plötzlich vor ihr auf die Knie nieder: Maria stieß einen erschrockenen Laut aus und hielt sich ungläubig die Hände vor den Mund. „Maria“, begann Rolf seinen Antrag, „Ich liebe dich von ganzem Herzen. Ich will mit dir alt werden. Möchtest du mich heiraten?“ Die Angebetete wurde von einer Lawine an Gefühlen überwältigt. Sie konnte ihr Glück kaum glauben.

Passiert das jetzt wirklich gerade?“

Unkontrolliert kullerten nun dicke Tränen über ihre Wangen. Da war sie wieder, diese anmutige Bewegung, die er so an ihr liebte. Während sie sich mit ihrem Ärmel schüchtern über das Gesicht wischte, wartete er geduldig auf ihre Antwort. Endlich hatte sie sich wieder gefasst. Schweigend griff sie nun zu ihrem Glas und nippte daran. Dann schaute sie ihm in die Augen, schlug ihre Beine übereinander und beugte sich weit zu ihm herüber: „Unter einer Bedingung!“ Diese Antwort hatte er nicht erwartet. Überrascht fragte er sich, was sie wohl jetzt von ihm verlangen würde. „Und das wäre?“, fragte er argwöhnisch. Mit einem besänftigendem Lächeln strich sie ihm sanft über den Kopf: „Du wirst zu uns ins Haus nach Brohmern ziehen.“

„Da sage ich natürlich Ja!“, frohlockte er erleichtert und küsste sie zärtlich auf die Lippen.

An diesem Abend wartete auf das junge verliebte Paar eine sternenklare Nacht. Als sie das Lokal verließen, begrüßte Maria lächelnd den goldenen Halbmond, der mittlerweile hoch über ihnen zwischen den Sternen schwebte. Auf ihrem Heimweg schlenderten sie glücklich die dunklen Gassen entlang. Irgendwann schlang sie ihren Arm um seine Hüfte und lehnte ihren Kopf an seine Schulter. Dann sah sie zu den Sternen hinauf: „Was meinst du? Wen sollten wir deiner Meinung nach zu unserer Hochzeit einladen?“

Engelstränen

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