Читать книгу Engelstränen - AR Wolff - Страница 9

Der Idealist

Оглавление

Rolf blieben noch dreißig Minuten. Peter, sein bester Freund, hatte ihn gebeten, pünktlich an der Haltestelle zu sein, damit er keinesfalls den O-Bus verpassen würde.

Vor vier Jahren hatte es Rolf weit an den nordöstlichen Außenring, nach Ströttern verschlagen. Peter wohnte gleich nebenan in Mandern, dem letzten Rotstädter Außenposten. So kam es, dass er auf ihren gemeinsamen Ausflügen stets eine Haltestelle mehr in Kauf nehmen musste, als Rolf. Die zwei Freunde hatten noch eine lange Anfahrt nach Brohmern vor sich. Zudem wollten sie unbedingt noch eine Eintrittskarte für den hiesigen und allmonatlichen Tanzabend bekommen. Ihr Ziel lag ungefähr fünfundzwanzig Kilometer von Rotstadt entfernt. Um nach Brohmern zu gelangen, mussten sie den Linienbus „F 211“ erreichen, der fast am gegenüberliegendem Ende vom Rotstädter Zentrum seine Fahrt zu ihrem Zielort aufnahm. Das Lokal war wegen seiner guten Bands auch in der Rotstädter Szene in aller Munde. Jeder wollte dahin. Aufgrund der schwierigen Verkehrsanbindungen, standen den beiden noch zwei geschlagene Stunden Anfahrtszeit bevor. Dennoch war das nichts im Vergleich zu den Leuten, die sogar aus dem siebzig Kilometer entfernten Tranntal angereist kamen. Und das nur, um dieser Veranstaltung beiwohnen zu können.

Rolf stand - vergnügt vor sich hin pfeifend - in seinem Badezimmer, sah in den mit Zahnpasta bespritzten Spiegel und überprüfte seine Frisur mit einem kritischen Blick. Dabei wendete er seinen Kopf einmal nach rechts und einmal nach links. Es war vor fast einem halben Jahr, dass er das letzte Mal zusammen mit Peter ausgegangen war. So lange war das her. Deshalb freute er sich darauf. Er fühlte sich an diesem Abend so lebendig, wie schon seit Monaten nicht mehr. Würde sich ihm heute eine Gelegenheit bieten, eine schöne Frau kennenzulernen, dann wäre dies der perfekte Tag. Ohne Zögern würde er sie ergreifen. Da war er sich so sicher „wie der Zirkel vor dem Hammer steht“. Diese Metapher hatte er von seinen Kollegen aus dem Büro übernommen. Rolf war der Annahme, dass man sich damit auf das Wahrzeichen dieses Landes bezog. Der Hammer stand für die Arbeiterklasse, der Zirkel war der Wissenschaft und der Ährenkranz, der sich klauenartig um diese beiden Symbole legte, war der Bauernschaft des Landes gewidmet. Mit verachtender Ironie grinste - das dem Volk geweihte Wappen - spöttisch vom schwarz-rot-gelben Hintergrund der Nationalflagge auf seine Landsleute herunter.

In seinen Gedanken war Rolf jetzt wieder bei seiner Mutter und bei seinem Bruder Jens. Für nur einen kurzen Moment konnte er das traurige Lächeln in seinem Spiegelbild erkennen, das im nächsten Augenblick wieder einem breiten Grinsen gewichen war. Heute wollte er aber nicht mehr an derlei Dinge denken und sich dadurch vielleicht sogar noch die Laune verderben lassen. Heute wollte er es so richtig „krachen lassen“. Zuletzt rückte er noch hastig seine Krawatte zurecht. Gerade wollte er sich vom Spiegel wegdrehen, da sah er es:

Ist das schon wieder ein neuer Pickel?“

Er wischte sich mit der Hand über das Gesicht und spürte, wie ihm die Reste von seinem Abendessen vom Kinn fielen. Rolf hasste es, seine Wohnung hungrig zu verlassen. Denn besonders um diese Uhrzeit hatten nur noch die wenigsten Lokale etwas für den schnellen Hunger zu bieten. Für eine letzte Kontrolle stützte er sich vorsichtig mit seinen Händen an den seitlichen Rändern vom Waschbecken ab. Dann beugte er seinen Oberkörper weit nach vorne, sodass er mit seiner Nasenspitze beinahe den Spiegel berührte. Als er sich selbst betrachtete, hielt er kurz inne und starrte in seine leuchtend grünen Augen. Völlig in seinen Gedanken verloren, formten sich unwillkürlich seine Lippen: „Koomuuniismuus, Vaandaallliissmuus, Voolkssveerraat, Aateentaat“ Dabei zog er schrille Grimassen und erzeugte abstrakte Geräusche, die er in der Öffentlichkeit wohl besser niemals von sich geben sollte. Schließlich wollte er ja nicht nach Plösau eingewiesen werden.

- Exkurs -

Plösau assoziierten die meisten Rotstädter mit einem Ort, der allein den „Verrückten“ und den „Bekloppten“ vorbehalten war. Das kam daher, dass die größte Fläche des besagten Stadtteils zu einer riesigen Nervenheilanstalt ausgebaut wurde. Zwei Drittel vom Gelände wurden dabei völlig von der Außenwelt isoliert. Auch nur annähernd mit Plösau in Verbindung gebracht zu werden, war für viele „ehrenwehrte“ Bürger mehr als nur unangenehm. Menschen mit Behinderungen waren auf Gedeih und Verderb dem Gespött der allgemeinen Bevölkerung ausgeliefert. Ganz klar, dass schreckliche Gerüchte herumkursieren mussten. Einmal hörte Rolf sogar jemanden sagen, dass eine Person, die es dorthin verschlagen würde, ohne Zweifel früher oder später ihren Verstand verliert. Doch über derartige Übertreibungen konnte er nur schmunzeln: „Sollen sie doch reden was sie wollen.“ Schuld darin sah er in der mangelnden Aufklärung.

Wie hätten sie denn wissen sollen, dass diese - ihrer Meinung nach - ,total bescheuerten Leute´- genauso empfinden, wie jeder ,normale´ Mensch auch?“

Rolf begegnete bisher nur Wenigen, die bereit waren ihr vorgehaltenes Weltbild zu verlassen und die Gewaltbereitschaft in diesem Land zu hinterfragen. „Sie glauben ja alles, was in der Zeitung geschrieben steht, was ihnen das Radio erzählt und was ihnen der Fernseher zeigt. Auf allen Kanälen ertönen kommunistische Lobreden und Lobgesänge. Zur gleichen Zeit hat man das Volk - wie Schafe - hinter meterdicken Mauern, hinter Tretminen, hinter Selbstschussanlagen und hinter tödlichem Stacheldraht eingesperrt. So sieht die Wahrheit aus!“

- Exkurs Ende -

Als sich Rolf endlich vor seinem Spiegelbild ausgetobt hatte, musste er über sich selbst lachen. Danach wandte er sich vom Waschbecken ab und verließ schmunzelnd das Badezimmer. Auf dem Flur stolperte er etwas tollpatschig, weil die Jacke, die er im Vorbeigehen lässig vom Haken nehmen wollte, sich dann doch irgendwie mit dem Regenschirm verhedderte.

Nur wenig später, nachdem er die zwei Etagen förmlich hinuntergesprungen war, stand er auf der Straße: „Verdammte Scheiße“, fluchte er. Es regnete in Strömen. Unwillig schlenderte er nun zur Haltestelle, die nicht einmal hundert Meter weit vom Haus entfernt war. „Hoffentlich kommt dieser Scheiß-Bus heute mal ausnahmsweise pünktlich“, knurrte er, woraufhin er sich den Kragen seines Mantels über die Ohren klappte. Da stand er in der Dunkelheit, dicht mit dem Rücken an einer Eingangstür gepresst, um sich so besser vor dem Regen zu schützen. Immer noch sah er weit und breit keine Spur vom O-Bus. Hier und da quoll schmutzig-gelbes Licht aus den ansonsten schwarzen Fenstern in die Dunkelheit der Nacht hinaus.

- Rückblick -

Im Jahr 1948 erblickte Rolf als zweites Kind der Familie in Rotstadt das Licht der Welt. Während seiner Kindheit hatte sich sein zwei Jahre älterer Bruder Jens hingebungsvoll um ihn gekümmert. Zuvor waren die zwei Geschwister in einer alten und strengen Erziehung aufgewachsen. Als Rolf zehn Jahre alt war, wanderte sein Vater aufgrund eines lukrativen Stellenangebotes, dass er von der NASA bekam, in die USA aus. Der Familie versprach er, dass er sie nachholen würde sobald in Amerika alles geregelt sei. Letztendlich war dieses leere Versprechen das Einzige, was er seiner Familie hinterlassen hatte. Nie wieder sollten sie von ihm hören. Stattdessen gründete er in den USA eine neue Familie. Dort genoss er seinen Ruf als angesehener Ingenieur. Es sollte noch viele Jahrzehnte dauern, bis Rolf letztlich von den vielen Auszeichnungen seines Vaters erfuhr. Sein Name soll angeblich noch bis heute unter den NASA-Ingenieuren ein

Begriff sein. Doch Helene, Rolfs Mutter, konnte den „Verrat“ ihres Mannes, so wie sie es nannte, nie wirklich überwinden. Dank ihrer selbstlosen Aufopferung lebte die kleine Familie auch ohne ein männliches Familienoberhaupt harmonisch miteinander. Zudem hatten Rolf und Jens zwei Tanten und einen Großvater, von denen sie des Öfteren Besuch erhielten oder die sie besuchten. Für die Kinder war es auch völlig normal, wenn sie einmal unerwartet bei ihren Gastgebern übernachten mussten. Weihnachten und Neujahr zum Beispiel, nutzten sie für ihre Familientreffen. Dann besuchten sie einander und feierten ausgiebig. Bis zu ihrem Lebensende sollte Helene nie wieder den Bund der Ehe eingehen. Sie wollte fortan nur noch für ihre Kinder da sein.

Vor nunmehr fünf Jahren, genauer gesagt im achten Monat des Jahres 1961, wurden er und Jens durch die Grenzschließungen von ihr getrennt. Zu dieser Zeit war er gerade einmal dreizehn Jahre alt. Wie gewöhnlich bekam die kleine Familie auch im besagten Jahr wieder eine Einladung für die geplante Geburtstagsfeier zu Tante Friede nach Passau. In jenem Jahr sollte es sogar ein Runder werden. Keiner konnte es daher Helene verübeln, dass sie zu diesem Anlass dem „Schwesterchen“ ihre Glückwünsche höchstpersönlich überbringen wollte. Außer Franz - Tante Friedes Bruder - würden sie alle da sein. Denn zu ihrem Fünfzigsten wartete auf die gesamte Familie ein zehntägiger Aufenthalt in einem vornehmen Hotel im Schwarzwald. Sogar Tante Berta, die nur ungern aus ihren vier Wänden hervorkam, nahm sich, nach vielem zureden ihrer Geschwister, extra Urlaub. Auch Jens und Rolf freuten sich schon sehr darauf. So erwartete sie endlich einmal wieder einen Tapetenwechsel - und das gleich für zwei volle Wochen.

Wie es das Schicksal aber wollte, erkrankten die beiden Kinder fast gleichzeitig an einer schweren Erkältung. Hinzu kam noch das hohe Fieber. Tante Berta nutzte die Gelegenheit und erklärte sich daraufhin bereit zu bleiben. Sie wollte sich lieber um die Zwei kümmern, bis sie wieder genesen wären. Im Grunde genommen war sie froh, dass sie doch noch einen Vorwand hatte, Zuhause zu bleiben. Denn alleine mit dem Gedanken an die lange Reisezeit konnte sie sich nie wirklich anfreunden. „Ich habe so ein ungutes Gefühl“, gab Jens am Abschiedstag seiner Mutter zu bedenken. „Ach du immer mit deinen Schwarzmalereien“, lenkte sie beschwichtigend ein. „Was soll mir denn schon passieren? Ich werde schneller zurück sein, als du dich umsehen kannst.“ Dabei strich sie ihm noch einmal über den Kopf und gab ihren Söhnen einen letzten Kuss.

Nachdem ihre Mutter zur Geburtstagsfeier ihrer Schwester in den Westen aufgebrochen war, besuchte Tante Berta die Kinder fast täglich. Sie kochte für sie und half ihnen im Haushalt. Für alle war es wie ein harter Faustschlag ins Gesicht, als sie nur wenige Tage nach Mutters Abreise im Radio über „Deutschlandfunk“ - Tante Bertas Lieblingssender - von den Grenzschließungen erfuhren. Sie war gerade am Mittagessen kochen. Es würde Kartoffelmus mit Zwiebeln und Spinat geben. Zum Nachtisch gab es wieder einmal Vanillepudding mit Schokoladensoße. Sie hätte gerne noch Rosinen hinzu gefügt, jedoch hatte ihr „irgend so ein blödes Weib“ die letzte Tüte direkt vor ihrer Nase weggeschnappt. Aber über solcherlei Dinge ärgerte sie sich schon längst nicht mehr.„Sie passieren eben.“

Tante Berta stampfte gerade hingebungsvoll ihren Kartoffelmus, da vernahm sie die Worte des Nachrichtensprechers aus dem Radio:

In Berlin sind heute von der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik beschlossene Maßnahmen wirksam geworden, die den Schutz der DDR vor westlicher Wühlarbeit gewährleisten und auch die Sicherheit der Staaten des sozialistischen Lagers garantieren werden. Im Einzelnen ordneten das Innen- und das Verkehrsministerium sowie der Magistrat von Großberlin an, dass zur Unterbindung der feindlichen Tätigkeit revanchistischer und militaristischer Kräfte an den Grenzen der DDR, einschließlich der Grenze zu den Berliner Westsektoren eine solche Kontrolle eingeführt wird, wie sie an den Grenzen jedes souveränen Staates üblich ist.“ *1

wusste sofort, was das für die beiden Kinder bedeutete und erfror mitten in ihrer Bewegung. Minutenlang starrte sie ins Leere. Dann flossen ihre Tränen. Als Rolf und Jens wenig später erfuhren, dass ihre Mutter für eine unbestimmte Zeit wohl nicht mehr zu ihnen zurückkommen würde, brach in ihnen eine Welt zusammen. Denn Tante Berta kannte ihre Schwester lange genug. Sie wusste, dass ihre Angst vor einer ewigen Gefangenschaft in einem kommunistischen Land weitaus größer war, als ihre Liebe zu den Kindern. Am Ende sollte sie auch Recht behalten. Um den Schmerz der beiden Kleinen zu lindern, hatte sie ihnen erzählt, dass ihre Mutter zu ihnen zurückkehren wollte und dass ihr die Staatsgrenze den Heimweg versperrte. Aufgrund dessen, dass die zurückgebliebene Familie nie wieder in irgendeiner Form von Helene hören sollte, verfestigte sich in den Köpfen der Kinder die Version der verstoßenen Mutter. Tante Berta sprach nie von selbst über ihre Schwester. Ausgenommen sie wurde von den Kindern danach gefragt. Somit verschwand Rolfs Mutter in nur wenigen Monaten völlig aus dem Leben der beiden Brüder.

Die weiteren Jahre bis zu ihrer Volljährigkeit verbrachten die zwei Jungs fortan ohne Eltern. Glücklicherweise besuchten sie die gleiche Schule. Zumindest hatte der Verlust ihrer Mutter auch eine gute Seite, denn seit der Trennung von ihr hielten die Zwei zusammen wie Pech und Schwefel. Tante Berta besuchte die beiden weiterhin regelmäßig zweimal die Woche. Dabei tauschte sie stets die schmutzige Wäsche gegen saubere ein, kochte für sie und half den Jungs dabei, den Haushalt in Schuss zu halten. Einmal hatte Rolf seinen Bruder gefragt, warum sie denn nicht zusammenziehen würden, da doch jetzt das Schlafzimmer ihrer Mutter freistehen würde. Jens war derjenige, der sich gegen diese Idee gewehrt hatte. Er argumentierte seinen Unwillen damit, dass er mit fünfzehn Jahren bereits alt genug sei, um auf sich selbst aufpassen zu können.

Ein schreckliches Geschehen ereignete sich dann unmittelbar vor Rolfs sechzehnten Geburtstag: Jens feierte einen Monat vor ihm und verbrachte diesen Tag mit seinen Freunden. Denn schließlich war er nun achtzehn.

Endlich erwachsen.

Von nun an wollte er das Leben genießen, indem er tun und lassen würde, was er wollte. Seitdem war Jens oft mit seinen Freunden unterwegs, um gemeinsam „Mädels aufzureißen“. Da Rolf noch keine sechzehn war, hätte er die Lokale sowieso nicht betreten dürfen. Keiner kam an den staatlich verordneten Ausweiskontrollen vorbei. Das wusste er. Denn erst vor zwei Monaten hatte er versucht, sich zusammen mit seinen etwas älteren Freunden in ein Tanzsaal hineinzumogeln. Obwohl Rolf bereits mit sechzehn Jahren größer war als seine durchschnittlichen Altersgenossen, wurde er gleich am Eingang knallhart zurückgewiesen. Daher war es ihm letzten Endes völlig gleich, dass er nicht mit dabei sein konnte. Schließlich las er ja gerade an einem spannenden Roman von Daniel Defoe. Er träumte von dieser karibischen Insel, auf der „Robinson Crusoe“ einsam lebte. Insgeheim, hatte er sich schon oft gefragt, ob er wohl jemals in diese Gefilden reisen werde.

An einem frühen Morgen, gegen sechs Uhr, hämmerte es durchdringend an der Wohnungstür. Lautes Stimmengewirr im Treppenhaus sowie harte, schnell aufeinander folgende Klopfgeräusche, schreckten den Jungen aus seinem Schlaf. Als er die Tür öffnete, standen zwei Polizisten vor ihm. Hinter ihnen drängten sich aufgeregt laut durcheinander plappernd die Nachbarn und streckten neugierig ihre Köpfe über die Schultern der beiden Männer. Rolf schrak zusammen und sein Herz begann wie wild zu rasen. Nicht, dass der erst fünfzehnjährige Junge schon etwas ausgefressen hätte. Vielmehr schien es ihm, dass die Polizei in den Straßen freie Hand hatte. Schon oft hatte er hier und da gehört, dass diese Beamten nach Lust und Laune „Verdächtige“ observierten, verhörten oder einsperrten. Einem der beiden Uniformierten musste wohl die zittrigen Knie des Jungen aufgefallen sein, denn schon schickte er die neugierige Meute in ihre Unterkünfte zurück. Als sie nur noch zu dritt auf der Etage standen erklärte er, dass sie nicht wegen ihm gekommen waren. Daraufhin trat eine kurze Stille ein. „Es ist wegen deinem Bruder Jens“, sprach der Polizist endlich weiter. „Jens?“, entfuhr es Rolf verwundert. „Dein Bruder wurde heute morgen von Passanten tot aufgefunden. Die genaue ...“

„Wie tot?“, platzte es fassungslos aus ihm heraus. „Die genaue Todesursache konnten wir noch nicht feststellen“, antwortete der Beamte. „Doch allen Anschein nach sieht es nach einem Unfall aus. Wir vermuten, dass dein Bruder von einem Fahrzeug “

Doch Rolf hörte ihnen schon längst nicht mehr zu. Ein Gefühl der Ohnmacht breitete sich in ihm aus.

Wie konnte das passieren?

Der Tod seines Bruders lastete schwer auf ihn. Es sollte noch lange dauern, bevor er wieder ganz zurück in sein Leben fand. Ohne seine Freunde, die sich nach dem Tod seines Bruders um ihn kümmerten, ihn wieder aufbauten, wäre er wohl nicht so schnell wieder auf den Beinen gewesen.

Unmittelbar nach Rolfs achtzehntem Geburtstag übernahm er letztendlich die Wohnung seiner Mutter. Obwohl er sich aus ganz persönlichen Gründen zum Studium für Politikwissenschaft entschied, nahm er sich vor, dass er nur der Partei beitreten würde, wenn das für seine weitere Laufbahn unvermeidlich wäre. Am meisten dachte er dabei an seine Mutter Helene, die er eines Tages unbedingt wiedersehen wollte. Er wusste, dass das entweder nur durch eine Wiederöffnung der Grenzen oder durch eine Landesflucht möglich wäre. Doch Letzteres stand für ihn völlig außer Frage.

Nur ein Feigling beugt sich den Ungerechtigkeiten und rennt vor Konfrontationen davon. Wenn du ein Mann sein willst, dann solltest du für dein Recht kämpfen. Selbst wenn du dabei dem Tod in die Augen sehen musst. Was bist du noch ohne Stolz und ohne Selbstwert? Nichts bist du dann mehr! Nur eine leere Hülle - Willenlos und Leblos. In einem Land, in dem aus fadenscheinlichen Gründen - ,zum Wohle des Volkes´ - Gesetze gelten, die jeglicher Logik entbehren und die einzig darauf ausgelegt sind, uns den Bürgern der Freiheit und dem Mitspracherecht zu berauben, herrscht wohl eher eine Diktatur, als eine Demokratie.“

Die Beamten, die sich für die Exekutierung der Strafen verantwortlich sahen, waren für Rolf die wirklichen „Volksverräter, die nur an ihre eigenen Vorteile dachten. Hohlköpfe mit nicht genügend Mumm in den Knochen, um das Richtige zu tun“.

Genau diesen „hirnlosen Mitläufern“ hatte er die Schuld gegeben, dass die „Fettärsche“ und „Schmarotzer auf ihren goldenen Podesten sitzend“, das Volk „zum Narren halten“ konnten. Seiner Überzeugung nach waren in erster Linie sie dafür verantwortlich, dass eine solche Führungsform überhaupt erst möglich ist. Zugleich war er auch der festen Annahme, dass die gewaltsame Durchsetzung der staatlichen Verordnungen durch eine stets präsente Staatsgewalt, die Angst der Bevölkerung festigen sollte. Denn nur auf diese Weise, so glaubte er, konnten wenige

„Fanatiker“ riesige Menschenmengen - „wie Schafe“ - kontrollieren, führen und gefügig machen.

Doch dieses Land ist auch dein Land. Und du bist auch kein

Schaf.“

So wusste Rolf, - ganz gleich, ob es ihm sein Leben kosten sollte - dass er niemals damit aufhören würde, sich für das Recht auf Freiheit einzusetzen.

Wie sonst könntest du dir noch jeden Morgen im Spiegel in

die Augen blicken?“

Für Rolf stand außer Frage, dass die Grenzen bald wieder geöffnet werden mussten. Dafür würde er sich einsetzen, und dafür wäre er auch bereit alles zu opfern. Doch zu diesem Szenario wollte er es natürlich nie kommen lassen. So wusste er, dass er in seiner Karriereleiter weit nach oben musste, um das System von innen heraus schwächen zu können. Sein Ehrgeiz kannte keine Grenzen. So gelang es ihm noch im gleichen Jahr, sich ein Praktikum im Rotstädter Rathaus, im FDJ-Hauptquartier, zu sichern. Er erkannte diesen Ort schnell als einen perfekten Ausgangspunkt, um Kontakte zu Gleichgesinnten herzustellen. Einen Widerstand aus den eigenen Reihen. Das war nunmehr für ihn der einzige Weg, um diesem „Irrsinn“ ein Ende zu setzen. Er müsse es nur richtig angehen. Dann würden seine Anstrengungen auch ganz sicher auf fruchtbaren Boden fallen. Natürlich war ihm dabei klar, dass er sich einer Aufgabe stellte, die im Laufe der Zeit sein Leben - sei es zum Guten oder zum Schlechten - für immer verändern würde.

- Rückblick Ende -

Verärgert schaute Rolf auf seine Armbanduhr, die er zur Belustigung seiner Mitmenschen absichtlich verkehrt herum trug. Sprach man ihn darauf an, konnte man immer mit der gleichen Antwort rechnen: „So trainiere ich mein Gehirn. Da muss Bewegung drin sein. So wie ein Fluss der niemals still steht. Verstehst du?“

Sein Herz füllte sich mit Freude, als er endlich ein vertrautes, herannahendes Knistern hörte. Da konnte er auch schon das erste Licht erkennen. Nur einen Moment später bog der O-Bus um die Ecke, um kurz darauf direkt vor ihm anzuhalten. Mit gestrecktem Hals schaute Rolf durch die Fenster des Busses und hielt nach seinem Freund Ausschau. Er musste auch diesmal nicht lange nach ihm suchen. Denn gewöhnlich hatte es sich Peter immer ganz hinten in der letzten Reihe auf einem der eng aneinander gereihten Sitze bequem gemacht, auf der sich kein Fahrgast freiwillig hinsetzen würde, weil dort der Bus am stärksten schaukelte wenn der Fahrer durch eines der unzählig vielen Schlaglöcher fuhr oder zu schnell um die Kurve bog. Rolf hörte Peters Klopfen von der Fensterinnenseite und sah, wie er ihm zuwinkte. Er stand gerade neben dem Busfahrer, um ihm eine Fahrkarte abzukaufen, da hörte er auch schon Peter von hinten durch den Gang schreien: „Ey, Alter, hier bin ich! Hiiiier!“ Von Peinlichkeit gerührt, entschuldigte sich Rolf sofort für seinen Freund. „Ab nach hinten mit dir. Und wenn ich noch einen Ton von euch höre, dann steigt ihr an der nächsten Haltestelle aus, kapiert?“, knurrte der Fahrer in seinen Vollbart hinein. Gleich darauf setzte sich der Bus auch schon in Bewegung. „Na das fängt ja gut an“, dachte Rolf mürrisch. Während er von dem wackelndem Bus mal auf die linke - mal auf die rechte Seite geworfen wurde, kämpfte er sich ganz nach hinten zur letzten Sitzbank.

Engelstränen

Подняться наверх