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Liebe & Hass
ОглавлениеMaria hatte schon einige unglaubliche Geschichten gehört. Aber das ging ihr eindeutig zu weit. Rolfs Erzählungen klangen einfach zu fantastisch. Immer wieder musste sie ihn jedes Mal erneut bitten, mit seinem Unsinn aufzuhören. Sie hasste es regelrecht, wenn er mit diesem Thema anfing. Zum Beispiel, wenn er von der angeblichen Todeszelle in der Pestalozzistaße sprach, in der - seiner Meinung nach - bereits hunderte von Menschen hingerichtet worden seien. Einmal berichtete er ihr auch vom DDR-Geheimdienst, der die BRD ausspionierte und der ehemals Geflüchtete heimlich zurück in die DDR eingeschleust haben sollte. „Hör auf mit deinem Blödsinn!“, erwiderte sie verärgert, „Und du glaubst wirklich an so einen Quatsch?“ Daraufhin sah er ihr tief in die Augen. In einem beruhigenden, jedoch bestimmten Ton antwortete er: „Es gibt handfeste Beweise dafür. Vielleicht ... “
„Das reicht jetzt!“, fuhr Maria ihm zornig ins Wort. „Ich will nie wieder was von diesem Blödsinn hören, verstehst du?“ Bisher hatte Rolf Menschen gemieden, die sich „wie Zombies“ blind und taub durch ihr Leben bewegten, die sich aus Bequemlichkeit oder Angst vor der Wahrheit verschlossen haben. Doch er liebte sie. Daher wollte er ihr auch alle Zeit geben, die sie brauchte, um die Wahrheit selbst zu erkennen.
Dann würde er für sie da sein.
Maria wusste, dass es nun an der Zeit war, ihre Großmutter sowie auch ihre Mutter über die bevorstehende Vermählung zu informieren. Somit hatte sie natürlich auch geahnt, dass sie damit eine weitere Konfrontation mit Cecilia heraufbeschwören würde. Dennoch musste sie sich ihr stellen. Zuvor wollte sie sich aber einen Rat von ihrer Großmutter einholen. Deshalb wartete sie ungeduldig bis nach dem Abendessen. Die Zeit in der sie sich für gewöhnlich die Neuigkeiten des Tages austauschten. Endlich war es dann soweit. Johanna hatte sich in ihren Sessel zurückgelehnt und ihre Füße weit von sich gestreckt. Maria nahm sich einen Stuhl vom Tisch und setzte sich neben sie: „Wie war dein Tag heute, Oma?“ Wie gewöhnlich begann Großmutter über die Geschichten ihrer Kunden zu sprechen. Sie erzählte, dass sich in diesem Monat ein Fremder schon das zweite Mal bei ihr die Haare hatte schneiden lassen. Dass er heute ganz merkwürdige Dinge über Walter wissen wollte. „Die Traute hatte er auch schon ausgefragt“, fügte sie hinzu. Beinahe wie zu sich selbst sprach sie: „Warum war der Fremde so an Walter interessiert?“ Dann schaute sie ihre Enkelin fragend an: „Glaubst du, dass unser Walter was ausgefressen hat?“
„Nein Oma. Das kann ich mir nicht vorstellen“, flüsterte sie, zuckte ratlos mit ihren Schultern und wunderte sich, weshalb dieser Fremde nicht direkt mit Walter gesprochen hatte.
Verbirgt sich da etwa eine dunkle Vergangenheit?
Doch das konnte sie sich einfach nicht vorstellen. Denn der alte Herr war seither ein lieber, gutherziger Mensch. Stets war sie ihm mit einem Lächeln auf dem Gesicht begegnet. Noch bis zum heutigen Tag, wenn er sie zufällig an seinem Eisladen vorbeigehen sah, winkte er sie herein. War sie seiner Einladung gefolgt, hatte er ihr ein Eis spendiert, dass sie sich selbst aussuchen durfte.
„Unmöglich, dass ein so lieber Mensch etwas Böses getan haben sollte“, dachte sich Maria und verlor sich in ihren Gedanken.
Nach einer kurzen Zeit des Schweigens ergriff Johanna wieder das Wort: „Ach was. Unser Walter ist doch ein schlauer Fuchs. Er wird sicher ganz gut auf sich selbst aufpassen können. So wie ich ihn kenne, wird der uns sicher
noch lange erhalten bleiben.“ Dabei gestikulierte sie mit ihrer Hand als wollte sie sagen:
„Halb so schlimm. Das wird schon.“
Dann endlich gab sie das Wort an Maria weiter: „Und wie war dein Tag heute, mein Rehlein?“. Ohne weitere Umschweife kam sie gleich zur Sache und erzählte ihr von Rolfs Heiratsantrag. Sie hatte den ersten Satz noch nicht beendet, als ihr Großmutter bereits um den Hals fiel: „Ich freue mich so für dich, meine Liebe!“ Maria hörte jetzt das Schnaufen ganz dicht an ihrem Ohr. Sie wusste, dass ihre Großmutter weinte.
Als sie sich wenig später wieder gegenübersaßen, sah sie in die feuchten Augen einer glücklichen alten Frau. „Habt ihr zwei denn schon eine Wohnung?“ Sie schüttelte stumm den Kopf. „Wenn ihr wollt, dürft ihr gerne hier einziehen. Da hättet ihr beinahe eine komplette Etage für euch.“ Während Johanna die letzten Worte aussprach, hielt sie sich kichernd die Hand vor ihren Mund und blinzelte schelmisch zu ihr herüber. Maria freute sich sehr über dieses Angebot. Nun erzählte sie ihr, dass Rolf erst vor kurzem beschlossen hatte nach Brohmern zu ziehen. „Perfekt“, triumphierte Johanna, „Dann könnt ihr euch schon mal die Wohnungssuche ersparen.“ Im Anschluss bat Maria ihre Großmutter um Rat, auf welchen Weg sie das ihrer Mutter beibringen sollte. „Hmmm, das wird nicht leicht. Zumal dein Rolf ja noch immer kein eigenes Geld nach Hause bringt.“
„Das ist aber bald vorbei, Oma“, beschwichtigte Maria sie. „Rolf wird doch schon im nächsten Jahr sein Studium abschließen. Dann wird er auch endlich ein Gehalt bekommen. Dann wird es uns auch gut gehen“
„Ja, also wegen deiner Mutter“, kam Johanna wieder auf die ursprüngliche Frage zurück, „Da kann ich dir leider nicht viel weiterhelfen. Das musst du mit ihr schon alleine klären, mein Kind.“ Maria ging es dabei nicht um Cecilias Einwilligung. Darauf konnte sie liebend gerne verzichten. Vielmehr ging es ihr um die Herausgabe von ihrem Familienbuch. Ohne dem würde es keine Hochzeit geben. Sie wusste, dass es nicht einfach werden würde, an dieses Dokument heranzukommen. Denn das befand sich in Alberts Zimmer. Dieses wiederum hütete er wie ein Wachhund. Letztendlich hatte sie sich dazu entschieden, ihre Mutter nach der Arbeit abzupassen. Dafür erschien ihr der beste Zeitpunkt gleich am Montag nach der Arbeit. Sie würde ihre Mutter in ihrem Büro aufsuchen. Sie kannte Cecilias ausgeprägte Tratschfreudigkeit nur allzu gut, dass sie wusste, sie würde noch eine ihrer Kolleginnen zu einem Feierabendplausch verleiten.
Wie schon seit jeher. In der Öffentlichkeit kleidet sie sich im Gewand der Unschuld und Nächstenliebe. Sobald sie aber in ihren eigenen vier Wänden ist, verwandelt sie sich in einen Drachen.
Maria war überzeugt, dass - hätte sie wildfremden Menschen davon erzählt - ihr niemand Glauben würde was sie mit ihrer Mutter bereits erlebte, denn Cecilia war eine Frau mit zwei Gesichtern.
Als Maria gleich nach der Arbeit in das leere Büro ihrer Mutter trat, erschrak sie kurz:
„Verdammt, du bist zu spät. Und jetzt hast du sie verpasst.“
Doch gleich im nächsten Moment hörte sie Cecilias unverkennbares Gelächter. Zwei Zimmer weiter saß sie, die Beine übereinander gelegt und der Tür den Rücken zugewandt, auf einem Bürotisch. Obwohl sie beide im gleichen Gebäude arbeiteten, besuchten sie einander äußerst selten. Daher war es verständlich, dass eine Kollegin erschrocken von ihrem Sessel sprang: „Kann ich Ihnen helfen?“, fragte sie in einem abweisendem Tonfall, während sie mit schnellen Schritten auf Maria zustakste. „Die gehört zu mir“, erklang die Stimme ihrer Mutter vom hinteren Teil des Raumes. „Oh, Entschuldigung“ antwortete die Kollegin mit einem verlegenen Lächeln. „Kein Problem. Das kann doch passieren“, meinte Maria indem sie leger abwinkte. „Darf ich vorstellen? Das ist Maria, meine Tochter. Das ist Ingrid, meine Kollegin.“
„Schön Sie kennenzulernen“, sagte die hochgewachsene Frau und reichte Maria die Hand. „Ganz meinerseits“, erwiderte Maria freundlich. „Was ist?“, fragte Cecilia unvermittelt, „Du hast dich wohl verlaufen?“
„Ich muss bitte mit dir reden.“
„Dann schieß mal los!“
„Unter vier Augen.“
Im bittenden Tonfall schielte sie zu der Frau herüber, die sich ihr soeben mit Ingrid vorgestellt hatte. Die junge Kollegin verstand sofort. Mit einem hastigen Griff nach ihrer Tasche, entschuldigte sie sich, dass sie jetzt gehen müsse. Sie wolle sowieso noch schnell in die Stadt, da sie von ihrer Schwester in der Mittagspause den Tipp erhielt, dass der Konsum heute „Nuspli“ (Nuss-Schokoaufstrich) im Angebot hätte. Mit einem knurrenden Geräusch rutschte Cecilia unwillig vom Tisch herunter und wünschte ihrer Kollegin einen schönen Feierabend. Während Maria ihrer Mutter in das separate Büro folgte, fragte sie sich, wie schon so oft zuvor, weshalb sie sich nach der Arbeit ständig länger als notwendig in der Firma aufhielt. „Also was ist denn los?“, fragte sie kühl, nachdem sie sich in ihren Sessel nieder gelassen hatte. Ohne Umschweife kam Maria zum Thema: „Ich werde heiraten.“ Cecilia war wie vor den Kopf gestoßen. Es folgte eine Zeit des Schweigens. Maria beobachtete ihre Mutter ganz genau. Sie konnte einfach nicht herausfinden, was wohl gerade in diesem Moment in ihr vorging. Endlich fragte Cecilia in genervtem Ton:
„Und wer ist der Glückliche?“ Dabei betonte sie die letzten beiden Worte mit besonders viel Ironie.
„Er heißt Rolf.“
„Und woher kennst du ihn?“
„Ich habe ihn an einem Tanzabend kennengelernt“
„Aha, einen Proleten? Einen Tunichtgut?“
„Nein, er studiert Politikwissenschaft in Rotstadt. Er ist extrem schlau und intelligent“, gab Maria trotzig zurück.
„Und wir lieben uns!“
„Ha, Liebe!“ Cecilia lachte laut auf: „Liebe gibt es nur zu Gott. Unter den Menschen gibt es keine Liebe. Das soll dir mal gesagt sein!“
„Dann liebst du Albert also nicht?“
„Das geht dich absolut nichts an“, erwiderte Cecilia verärgert.
„Du liebst ihn nicht?“, bohrte Maria weiter. „Weshalb sollte man denn jemanden heiraten, den man gar nicht liebt?“
„Das kannst du noch nicht verstehen“, erwiderte Cecilia sich verteidigend. „Wir sind einander sehr nützlich. Der Albert sichert uns mit seiner hohen Kriegsrente ab. Und dafür gebe ich ihm auch gern ein Zuhause.“
„Was?“ Maria war entsetzt: „Du hast den Kerl nur des Geldes wegen geheiratet?“ Es war nicht das erste Mal, dass sie sich jetzt für ihre Mutter schämte.
„Wenn du glaubst, dass ein Mann dich glücklich machen kann, nur weil du ihn aus Liebe heiratest, dann hast du dich gewaltig getäuscht, mein Kleines.“
„Ich bin nicht mehr dein ,Kleines´“, protestierte Maria. Den Einwand ihrer Tochter ignorierend, fuhr Cecilia mit der Belehrung fort: „Ein Mann der nichts hat, ist auch nichts wert. Er ist wie ein Fass ohne Boden. Mit dem wirst du nie glücklich werden.“
„Du hast ihn ja noch nicht einmal kennengelernt. Wie kannst du dann so etwas sagen?“ Noch während Maria das fragte, erkannte sie, welchen schwerwiegenden Fehler sie soeben begangen hatte.
„Nun gut“, hörte sie ihre Mutter bereits entgegnen, „nächste Woche Sonntag, Mittags um zwölf Uhr kommst du mit deiner neuen Flamme zum Essen.“
Rolf räusperte sich, als Maria ihm von der Einladung ihrer Mutter erzählte. Rein aus strategischen Gründen hatte sie es bisher vermieden, Cecilia in ihren Erzählungen zu erwähnen.
Was hätte sie ihm auch über sie sagen sollen? Etwa, dass sie eine verbohrte katholizistische Kommunistin sei, die ihren Mann nur aus praktischen Gründen heiratete? Das ihre verbitterte Mutter nicht an die menschliche Liebe glaubte? Gedankenverloren schüttelte Maria ihren Kopf. „Was ist?“, schmunzelte Rolf, indem er sie fest an sich drückte. Sie liebte seine Körperwärme und seine Arme um ihre Hüften. Mit einem zufriedenen Lächeln schmiegte sie sich an seine Brust und ließ sich von seinen Fingern die Frisur ruinieren. Als er ihren warmen Atem an seiner Brust spürte, streichelte er ihr sanft über das Haar. „Rolf, Ich habe dir absichtlich noch nie von meiner Mutter erzählt. Wenn sie herausbekommt, was du da so illegal treibst, dann bist du geliefert“, warnte sie ihn. „Sie gehört zu jener Sorte Mensch, die zuerst immer nur an ihre eigenen Vorteile denkt.“ Daraufhin küsste Rolf ihre Stirn: „Du wirst schon sehen, dass ich deine Mutter schon irgendwie knacken werde.“ Dann zwinkerte er ihr lächelnd zu: „Da hatte ich es schon mit ganz anderen Kalibern zu tun.“ lächelte er gelassen. „Dein Wort in Gottes Ohr“, seufzte sie, von schweren Vorahnungen heimgesucht.
Rolf hatte sich extra herausgeputzt. Seiner zukünftigen Schwiegermutter hatte er einen großen Strauß Nelken und für Albert eine Flasche Brandy mitgebracht. Maria hatte ihm zuvor erzählt, dass Albert die rumänische Sorte bevorzugte. „Diesen Stroh vierundachtzig“, so erzählte sie ihm, „den hat Albert immer zusammen mit Josef, seinem Exkameraden getrunken. Bevor Albert das erste Mal verletzt von der Front zurückkam, hatten sie sich kennengelernt. Doch dann ist Josef an der Ostfront gefallen. Ich glaube, dass sie gute Freunde waren. Denn seither trinkt Albert nur noch diese eine Sorte. Aber Alkohol trinkt er sowieso nur in den seltensten Fällen. Dafür muss es schon einen wichtigen Anlass geben.“ Als sie Rolf mit der Flasche aus dem Spirituosenladen kommen sah, musste sie laut lachen: „Bei der Menge, die Albert trinkt, hält die Flasche locker zehn Jahre. Von meiner Mutter lässt er sich gelegentlich nur einen ganz kleinen ,Stroh vierundachtzig´ mitbringen.“ Als wolle sie ihre Aussage bekräftigen, blinzelte sie zwischen ihren Daumen und Zeigefinger hindurch: „Die ist immer nur so groß.“
Pünktlich um zwölf Uhr drückte Maria den Klingelknopf an der Wohnung ihrer Mutter. Mattis öffnete die Tür: „Maria?“ „Wer soll ich denn sonst sein?“, wunderte sie sich. Da er immer noch bewegungslos zwischen den schmalen Türspalt stand und sie fragend anstarrte, wurde sie ungeduldig: „Was stehst du denn so herum und klotzt so blöd? Willst du uns nicht hereinlassen?“ Mit einem genervten Seufzer drängte sie sich schließlich an ihrem Bruder vorbei in die Wohnung. Zögernd streckte Mattis nun seine Hand nach Rolf aus und bat ihn einzutreten. In der Wohnung duftete es bereits verführerisch nach Essen. Aus der Küche vernahm Rolf die gleichen Geräusche, die er noch aus Tante Bertas Zeiten kannte. Für ihn war sie die beste Köchin, von der er bisher versorgt wurde. Umso neugieriger war er jetzt auf das Essen seiner zukünftigen Schwiegermutter. Im Wohnzimmer hatten es sich die zwei Besucher inzwischen gemütlich gemacht und saßen nun nebeneinander auf dem Sofa. Wie so oft versteckte sich ihr Stiefvater wieder einmal in seinem kleinen Zimmer. Er hatte keinerlei Interesse an Maria. Sie interessierte ihn nicht, weil sie für ihn einfach nicht existent war. Somit wollte er auch nichts von ihrer neuen Liebe Wissen. Er machte auch keinen Hehl daraus, sich das anmerken zu lassen.
Cecilia betrat lächelnd den Raum und streckte Rolf die Hand aus. Höflich nahm er sie entgegen: „Ich habe schon viel von Ihnen gehört“, log er immer noch ihre Hand haltend, „endlich lerne ich Sie persönlich kennen“. Kurz zuvor hatte Maria ihn vor ihrer Fassade gewarnt. Aufgrund dessen war er auf alles vorbereitet. „Machen Sie es sich bitte gemütlich. Ich muss noch einmal schnell in die Küche. Das Essen ist gleich fertig. Maria, kannst du bitte inzwischen schon mal den Tisch decken?“ Dann verschwand sie aus dem Raum. Das Klappern der Töpfe und Teller drang nun an Rolfs Ohren. Maria ließ ihre Hand auf seine Schulter fallen und seufzte: „Ich bin gleich wieder da.“ Bevor sie in der Küche verschwand küsste sie ihn zärtlich auf den Mund. Beim Verlassen des Raumes hatte sie die Tür einen Spalt breit geöffnet gelassen. So konnte Rolf jetzt das zischelnde Flüstern der alten Frau hören. Ihre Worte verstand er jedoch nicht. Im Grunde genommen war ihm auch ziemlich egal, was die beiden da tuschelten.
Wenn es wichtig war, dann würde Maria ihm später davon
berichten.
Mit diesem Gedanken lehnte sich Rolf entspannt zurück und ließ seine Blicke durch den Raum wandern: Direkt vor ihm an der Wand stand ein Klavier. Zu seiner linken Seite unter dem Fenster befand sich ein kleiner runder Beistelltisch, der nicht einmal annähernd bis zum Fensterbrett reichte. Darauf stand ein versilberter Bilderrahmen mit einem Bild vom gleichen Mann in Uniform, den er zuvor auf dem großen Portrait - gleich rechts neben der Tür, entdeckt hatte. Vor dem Sofa befand sich ein großer Esstisch, der mit Servietten, Blumen sowie mit einer Kerze dekoriert war. Der etwa ein Meter fünfzig große Ofen thronte gleich rechts neben der Wohnzimmertür und knisterte leise vor sich hin. Die eiserne Ofentür war einen Spalt breit geöffnet, sodass er die tanzenden Flammen sehen konnte, die sich mit blitzschnellen Bewegungen um die schwarzen Briketts züngelten. An der Wand direkt hinter ihm hing ein großer farbiger Wandteppich. Darauf sah er altertümliche Jäger, die gerade drauf und dran waren, mit ihren Speeren ein Wildschwein zu erlegen. Mehrere dieser Wurfgeschosse steckten schon in dem bedauernswerten Tier. Auf der rechten Bildhälfte sah man einen Reiter auf einem schwarzen Pferd heransprengen, der wohl gerade im Begriff war, dem halbtoten Wesen den letzten Stoß zu versetzen. Jetzt erkannte Rolf auch die dunkle Silhouette, die hinter den Jägern stand. Gerade wollte er sich diesen Bildbereich genauer betrachten, als er hinter sich Cecilias Stimme vernahm: „Gefällt Ihnen das Bild, junger Mann?“
„Sehr interessant, ja.“ Er drehte sich zurück und nahm Cecilia die Teller aus der Hand, die sie ihm mit ausgestreckten Armen entgegenreichte. Nun kam auch schon Maria mit dem Besteck herein. Es gab Blumenkohlschnitzel mit Petersilienkartoffeln und Schwarzwurzeln. Dazu stellte Cecilia ein Kännchen mit eingedickter Lauchsoße in die Mitte des Tisches. Maria setzte sich neben Rolf und griff nervös nach seiner Hand. Sie wünschte sich so sehr, dass sich Cecilia und Rolf trotz ihrer unterschiedlichen Ansichten gut verstehen würden. „Guten Appetit!“, rief ihre Mutter die Tafel eröffnend. Erst jetzt, als die warme Mahlzeit vor ihm stand, spürte er seinen Hunger. Mit gesundem Appetit zeigte Rolf, dass es ihm schmeckte. Während des Essens lobte er mehrmals Cecilias gute Küche. Indessen keimte nun auch in ihm die Hoffnung auf, dass dieses Treffen, entgegen Marias Befürchtungen, gut enden würde. Als der Tisch wieder abgeräumt war und der heiße Kaffee vor ihnen auf dem Tisch stand, eröffnete Cecilia das Gespräch: „Sie wollen also meine Tochter heiraten?“ Rolf nickte. „Was können Sie ihr denn bieten?“
„Mutter“, protestierte Maria.
„Bist du jetzt sofort still?“, fauchte Cecilia mit funkelnden Augen zu ihrer Tochter herüber, „Jetzt rede ich!“
„Eine Zukunft mit mir“, antwortete Rolf gelassen.
„Arbeiten Sie schon?“
Insgeheim fragte sich Rolf verwundert, weshalb Maria ihr noch immer nichts von ihm erzählt hatte. Wo sie nun schon so lange zusammen waren und jetzt sogar heiraten wollen.
„Ich will Politikwissenschaft studieren. Zur Zeit absolviere ich ein Praktikum im FDJ-Hauptquartier.“
„Ah, Sie sind einer von uns“, atmete Cecilia erleichtert auf, was man an ihrer plötzlich aufnahmebereiten Körperhaltung und ihren funkelnden Augen sehr gut erkennen konnte. Dass sie ihn mit den „Duckmäusern“ auf eine Stufe stellte, passte ihm überhaupt nicht. „Wie ich eben sagte“, antwortete er stattdessen diplomatisch, „ich studiere Politikwissenschaft. Dabei sitze ich quasi noch auf der Schulbank. Aus diesem Grund kann und will ich mir diesbezüglich auch noch keine eigene Meinung bilden.“ Cecilia - mittlerweile aufgestanden - trat einen Schritt von ihm zurück und musterte ihn von oben bis unten. Dann fragte sie ihn: „Aber Sie glauben doch schon an unsere sozialdemokratischen Errungenschaften?“
„Was nutzt uns der Glaube, wenn wir nichts wissen?“
„Sind Sie schon unserer Partei beigetreten?“
„Das muss ich erst nach dem Studium“, antwortete er. Nun glaubte Rolf zu Wissen, welchem Menschenschlag sie angehörte. Maria hatte von Anfang an Recht behalten, indem sie schon oft versucht hatte, ihm nahezulegen dass ihre Mutter gerade für ihn eine Gefahr darstellte. Er verstand jetzt, weshalb Maria stets so ängstlich und verärgert reagierte, sobald er ihr über seinen Untergrund erzählte. Tagtäglich hatte er mit Menschen wie mit Cecilia zu tun. Sodass er wusste, dass er bei ihr auf der Hut sein musste. Er war sich sogar sicher, dass Cecilia in der Lage wäre, für ihre Interessen ihren eigenen Mann und ihre leiblichen Kinder „an‘s Kreuz zu nageln“.
„Ach nach dem Studium?“, äffte sie ihn nach, „Ab dem achtzehntem Lebensjahr darf jeder DDR-Bürger unserer Partei beitreten. Wenn Sie also Politik studieren wollen, dann sollte man doch annehmen, dass Sie unserem Vaterland hundertprozentig ergeben sind.“
„Bevor ich in eine Partei eintrete, möchte ich alles darüber wissen“, log Rolf erneut.
„Das ist doch wohl die Höhe“, brauste Cecilia empört auf, „Sind Sie etwa blind, junger Mann? In unserem Land hat jeder Mensch eine Arbeit und ein Dach über den Kopf. Keiner muss hier vor Hunger sterben. Waren Sie schon mal da drüben im Westen? Glauben Sie allen ernstes, dass Sie sich dort ein Brot für neunzig Pfennige kaufen können? Oder eine Milch für siebzig Pfennige? Glauben Sie wirklich, dass es denen da drüben besser geht als uns? Die Ärmsten müssen tagtäglich um ihren Arbeitsplatz bangen. Dort werden die Leute schamlos ausgebeutet. Viele von ihnen müssen tagtäglich um ihr Überleben kämpfen. Haben Sie denn noch nie von den unzählig vielen Menschen gehört, die von der Grausamkeit des Kapitalismus am schwersten betroffen sind? Hungernd landen diese bemitleidenswerten Geschöpfe in stinkenden Gossen, während die Reichen immer reicher und immer fetter werden. Hinzu kommt, dass sich das - vom Glanz und Glitzer - verblendete Volk leichtgläubig an der Nase herumführen lässt. Sind Sie in unserem Land jemals einem Bettler begegnet, der Sie um einen Almosen gebeten hat? Oder hat man Sie jemals auf offener Straße überfallen und ausgeraubt? Ganz sicher nicht. Nun sagen sie mir, junger Mann, was im ...“
„Er heißt Rolf“ unterbrach Maria seufzend den Redeschwall ihrer Mutter. Sie ahnte bereits, dass diese Unterhaltung zu keinem guten Ende führen würde. Sie kannte ihre Mutter. Sie kannte aber auch Rolf. Der Zeitpunkt war nun gekommen, wo sie ihrem schlimmsten Albtraum hilflos gegenüberstand. Resigniert ließ sie sich gegen die Rückenlehne fallen, legte ihren Kopf zurück und schloss die Augen. Einen Moment später rannen die ersten Tränen unter ihren Lidern hervor. Cecilia und Rolf waren zu sehr in ihrer Diskussion vertieft, um ihre feuchten Wangen zu bemerken. Maria hatte genug von der Zankerei. Sie wünschte, dass sie sich sofort in Luft auflösen könnte, um so den sich anbahnenden Streit entfliehen zu können. Was ihr schließlich auch gelang.
Sie hatte wieder das kleine Häuschen vor ihren Augen. Es war von einem großen Garten umgeben. Eine riesige saftig - grüne Wiese, die von einem breiten Bach in zwei Hälften geteilt wurde, ließ ihr Anwesen mit der umliegenden Natur verschmelzen. Ganz weit hinten am Horizont konnte sie die Baumspitzen des Waldes erkennen. Während Rolf gerade das Holz für den kommenden Winter vorbereitete, spielten Ihre Kinder sorglos miteinander. Sie sah die Kühe hinter ihrem Haus weiden. Die Luft war mit dem Duft von soeben gemähtem Gras erfüllt. Maria sah sich selbst mit einer bunten Küchenschürze und mit einem ebenso bunten Kopftuch den Kochlöffel hoch erhoben in den Garten gehen: „Männer, es gibt Essen!“ Laut lachend fing Rolf darau fh in die Kinder ein. Bevor sie in das Haus eintraten, wuschen sie sich noch schnell ihre Hände am Brunnen, der nur wenige Meter vom Hauseingang entfernt war. Nur etwas später saßen sie dann gemeinsam am Tisch und fielen heißhungrig über die Mahlzeit her, die sie zuvor liebevoll für ihre Familie zubereitet hatte. Fröhlich schmatzend griff Rolf soeben nach ihrer Hand.
Plötzlich nahm die Konversation an Lautstärke zu, sodass Maria aus ihrem Tagtraum erschrak. Sie hatte nicht einmal bemerkt, wie Rolf von der Couch aufgestanden war und sich inzwischen der Wohnzimmertür genähert hatte. „Das ist mir doch scheißegal, was Sie denken!“, hörte sie ihre Mutter gerade schreien. „Hier geht es um sozialdemokratische Werte. Da kann nicht irgend so ein Heini daherkommen und ...“ Mit einem schnellem Satz sprang Rolf wütend auf Cecilia zu, während er bedrohlich mit seinem Zeigefinger vor ihrem Gesicht herumfuchtelte: „Auf diese Weise lasse ich nicht mit mir reden. Ihre Tochter tut mir unendlich Leid, dass sie mit einer so verbohrten Mutter gestraft wurde.“ Noch ehe Cecilia ihm erwidern konnte, war er auch schon aus der Wohnung verschwunden. Gleich hintenan hörte Maria die Tür ins Schloss fallen. Wie gelähmt saß sie nun da und konnte nicht glauben, was soeben vorgefallen war. Erst als Rolfs Schritte im Treppenhaus verklungen waren, erhob sie sich. Sie fühlte sich vor den Kopf gestoßen und zu keinem weiteren Wort fähig. Schweigend betrat sie den Vorraum, nahm ihre Jacke und ihre Tasche von der Garderobe und verließ die Wohnung.