Читать книгу Die Farben meines Lebens - Arik Brauer - Страница 22
ОглавлениеNach langer Pause fährt Wanz fort: „Sie hatte sich geopfert, und meine Pflicht war es nun, die heiligen Eier zu retten. Ich verspeiste weinend den Rest meiner geliebten Gattin, um die Eier besser lagern zu können, und verfiel in einen scheintotartigen Schlaf. In diesem Dämmerzustand verbrachte ich fünfzehn Jahre. Von Zeit zu Zeit, wenn ich zu Besinnung kam, drehte ich die Eier um, damit sie durch die lange Lagerung keinen Schaden erleiden mochten. Es war im Frühjahr, als ich von lauten Schabgeräuschen geweckt wurde. Der Lärm wurde stärker, kam näher, und plötzlich wurde die Vermauerung aufgerissen und Licht fiel in das Loch. Jetzt galt es, kühn und blitzschnell zu reagieren. Ich packte alle Eier mit meinen zahlreichen Beinen und warf mich mit einem Sprung, der auch einem Floh Ehre gemacht hätte, weit in die Luft und fiel aufs Bett. Schon stürzte ein Menschenungeheuer mit erhobenem Besen herbei, aber es gelang mir, mit allen Eiern in einer Ritze zu verschwinden, während der Besen auf das Bett donnerte, welches unter der Wucht des Schlages krachend zusammenbrach. Bald musste ich feststellen, dass ich völlig allein in der Welt war. Es gab keine Wanzen mehr, sosehr ich auch suchte. Aber der liebe Wanzengott hatte sein Volk nicht ganz vergessen, und nach einigen Wochen kroch aus den Eiern eine fröhliche Bande gesunder, kleiner Wanzenkinder. Diese, meine lieben jungen Leute, wurden eure Stammeltern. Ich aber habe meine geliebte Frau auf dem Gewissen und werde diese Last auf meiner Seele tragen bis in den Tod.“ Da meldet sich eine Stimme aus dem Hintergrund: „Dich, Vater Wanz, trifft keine Schuld, vielmehr bist du der Held und Retter deiner Gemeinschaft.“ Es ist ein Gast aus dem Nebenhaus, der da spricht, selbst ein Stammvater und König, der gute freundschaftliche Beziehungen zur Gemeinschaft pflegt. Er fährt fort: „Von einer Ahnin wurde mir berichtet, dass vor zirka fünfzehn Jahren eine Katastrophe über euer Haus hereinbrach. Die sadistische Menschin, die schon jene dumme, aber teuflische Idee mit den Petroleumgefäßen hatte, engagierte eine Firma, die das ganze Haus mit Giftgas vollpumpte. Das Wanzenvolk verkroch sich verzweifelt in die geheimsten Ritzen und Löcher, aber das Gas drang überall ein und der Tod ereilte jeden. Die Schreckenskunde wurde auch bei uns gehört, und es herrschte Trauer um den vernichteten Wanzenstamm, auch waren wir in Angst und Panik vor etwaigen weiteren Aktionen dieser Art. Zum Glück war die Giftgasmethode den Menschenungeheuern in unserem Haus offensichtlich zu teuer, und so kam es bei uns nur zu sporadischen Pogromen. Euer Stamm aber war nicht ganz tot. Ein letztes schwaches Lebenslicht brannte noch unerkannt in dem vermauerten Nagelloch. Dein weiser Entschluss, Vater Wanz, und die Opferbereitschaft deiner edlen Gattin haben der Welt dein Wanzengeschlecht erhalten.“
Der Gast reicht Vater Wanz die Hände und macht eine tiefe Verbeugung vor ihm. Das kleine freche Mädchen stimmt mit hellem Organ die Wanzenhymne an, alle fallen ein und tanzen im Kreis um Vater Wanz herum. – Manchmal kann man wirklich stolz darauf sein, Wanzenblut in den Adern zu haben.