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Der Chef

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Wer als Kind Mitglied einer Bubenbande war, kann ohne falsche Illusionen ins Erwachsenenleben treten. Die Gesetze dort sind einfach und hart. Die Stärkeren sind die Herren, die Schwächeren (Jüngeren) deren Sklaven. Jeder Herr hat seinen Sklaven, der von ihm aus Langeweile gefoltert, aber gegen andere beschützt wird. Beispiele für beliebte Foltermethoden: Kanalzuzeln (das Opfer wird mit dem Gesicht nach unten an ein Kanalgitter gebunden und angepisst), Hartnussen (ein Draht wird um den Kopf des Sklaven gebunden und mit einem Nagel zugedreht), Gwaschtn (der Sklave wird mit dem giebelförmigen Deckel einer Schotterkiste eingezwickt, auf die sich der Herr draufsetzt), frisch wickeln (es werden Brennnesseln in die Unterhose des Opfers gestopft). Je bedeutender der Herr, umso arrivierter auch sein Sklave. Der Chef der Bande vom Ludo-Hartmann-Platz war ein unumstrittener Herrscher. Sein Name war Simsanreut, ein alter Bauernname aus der Steiermark. Mit der Polizei hatte er schon zu tun gehabt, und er hatte auch schon ein Jahr in der grausamen Besserungsanstalt in Kaiserebersdorf verbracht, was ihm natürlich einen Glorienschein verlieh. Er war keineswegs der Stärkste, hatte aber herausgefunden, dass es genügt, so zu tun als sei man der Stärkste, um die Menge zu beherrschen. Sein Sklave hatte ebenfalls eine Sonderstellung und zwar aufgrund einiger bemerkenswerter Fähigkeiten. So konnte er beispielsweise lebensnahe Karikaturen mit Kreide auf den Asphalt zeichnen. „Brauer-Burli zeichne den Greißler, wie er grad scheißt!“, oder „Brauer-Burli sing Bananen-Zitronen!“ – und der Sklave zeichnete und sang zur Ziehharmonika, die der Chef recht gut zu spielen verstand. Im Baumklettern war der Kleine einsame Spitze und es wurden bei besonders glatten Stämmen oft Wetten abgeschlossen, die von ihm respektive von seinem Herrn immer gewonnen wurden. Er war auch ein ausgezeichneter Läufer und wurde bald der „Stänkerer“ der Bande. Stänkerer ist ein gefährliches, aber ehrenvolles Amt, eine Art Dschahid (Selbstmordterrorist) im Gassenbubenformat. Der Stänkerer schleicht sich zum Beispiel in den Märzpark, klettert dort auf die öffentliche Toilette und schreit aus vollem Halse: „Märzpark-Buben, es Volltrotteln!“ Daraufhin rottet sich die Märzpark-Bande zusammen. Für den Stänkerer sind sie wie Menschen von einem anderen Stern, grässliche Ungeheuer mit messerscharfen Fingernägeln und im Wind fliegenden, meterlangen Rotzglocken. Er steht aber kühn auf dem Dach der öffentlichen Toilette, das Kapperl mit dem Schirm windschlüpfrig nach hinten gedreht, und singt mit weithin schallendem Knabensopran: „Kummt’s zu einer Rauferei, haun mia euch die Goschen ei!“ Dann ein Viermetersprung in die Wiese und in rasendem Lauf die Neumayrgasse hinunter – noch flüchtend ein hehrer Held, eine gloriose Symbiose von König David und Siegfried –, knapp hinter ihm die vor Wut schnaubende Meute der Märzpark-Monster. Da stürzen sie aus allen Ecken hervor, die kampfgestählten Recken vom Ludo-Hartmann-Platz. Gekämpft wird mit Riemen, Fahrradketten, Stöcken, Fäusten und Füßen. Dann ein durchdringender Schrei: „Polizei!“ Das Auftauchen der Polizei verändert die Szene schlagartig. Die gemeinsame Flucht macht Feinde zu Brüdern, man zeigt einander Verstecke in Hinterhöfen und Durchhäusern und vollführt miteinander Ablenkungsmanöver, um in Fallen geratenen Brüdern zu helfen.

Als die Naziarmee in Österreich einmarschiert war, kam auch bald der so genannte bayrische „Hilfszug“ mit Lebensmitteln für die ausgehungerte Wiener Bevölkerung der Randbezirke nach Ottakring. Rosswurst gratis! Wer wollte da nicht „Heil Hitler“ rufen! Jenseits der Rosswurst hatten die Gassenbuben mit dem Regime aber bald Probleme. Dass ein Hitlerjunge im gleichen Alter einem sagt, was man tun soll, wie man stehen, gehen und marschieren soll, das hat der Halbstarke vom Platz gar nicht gern. Besonders die Frage des Haarschnitts war ein heikler Punkt im Verhältnis der Halbstarken zum NS-Regime. Eines Tages kam der Sklave des Chefs in den Park, mit einem gelben Stern auf der Brust. Daraufhin ereignete sich folgende tief schürfende Diskussion über die „Judenfrage“: „Wieso ist der Bua a Jud, wann a kei bogene Nosen hat?“ „Es gibt a Juden mit grade Nosen, du Trottel.“ „Und was is, wann ana a bogene Nosen hat und er is gar kei Jud?“ „Dann bieg ma eam die Nosen aufe.“ Allgemeines Gelächter. „Aber alle Juden san Gfraster und ghörn in die Goschen ghaut.“ Allgemeine Zustimmung. „Aber unsa Jud kann ja nix dafür, dass er a Jud is.“ Allgemeine Zustimmung. Trotz dieser Konklusion, basierend auf der Erkenntnis, dass Gfraster ja nichts dafür können, dass sie solche sind, war die Gassenbubenkarriere des Sternträgers beendet, da die Parks ja Ariern vorbehalten waren. Simsanreut aber vermisste seinen vielseitigen Sklaven und begann in zunehmendem Maße das System zu hassen. Diktaturen haben es im Kampf gegen die Kriminalität leichter als Demokratien, da sie ja selbst kriminell sind, und zwar auf eine viel umfassendere Weise, als es ein privater Gangster es je sein kann. Dieses rigorose Vorgehen eines Regimes gegen die Kleinkonkurrenz im Bereich des Bösen wird von vielen Menschen als Ordnung verstanden und es kommt zu dem dümmsten aller Aussprüche: „Unter dem Hitler hätte es das nicht gegeben.“ Die Kriminellen hingegen werden oft unversehens und ungewollt zu Helden des Widerstandes, da ihre Handlungen häufig gegen staatliche Einrichtungen oder dem Regime dienende Privatunternehmen gerichtet sind.

Eines Tages wurde Simsanreut von einer HJ-Streife eingefangen, zwei Burschen hielten ihn fest und ein dritter begann, ihm das „Schlurfpackl“ mit einer mitgebrachten Schere abzuschneiden. Das Schlurfpackl war die von den Nazis mit Eifer verfolgte Haarpracht, langes zurückgekämmtes Haar, das im Genick gerade abgehackt ein dickes Packl bildet. Langes Haar aber war immer schon ein Symbol der Freiheit und wurde bei Leibeigenen, Soldaten oder Sträflingen nie geduldet. Simsanreut gelang es, sich loszukämpfen und zu flüchten. Zurück blieb ein Hitlerjunge, der eine Schere im Oberschenkel stecken hatte. Die Folge war ein Prozess, und Simsanreut verschwand in einem Straflager für Jugendliche. Dort wurden die Knaben, um sie hart zu machen, mit meterlangen Rosspeitschen zu sportlichen Höchstleistungen gezwungen, und als Simsanreut anlässlich einer Liegestützorgie seinem Peiniger das Nasenbein einschlug, landete er in einer Strafkompanie an der Ostfront. Hier wurde nur noch gestorben. Von Granaten zerfetzt, von Panzern niedergewalzt, von Scharfschützen abgeknallt, erfroren oder verblutet, gestorben, gestorben, gestorben. Simsanreut waren aber inzwischen wie seinem Namensbruder Simson im Alten Testament die Haare nachgewachsen und das Leben gab ihm noch eine Chance. Die Russen hatten einen Lautsprecher aufgebaut und riefen die Sträflinge dazu auf, überzulaufen. Der Sprecher sprach Deutsch mit einem gequälten Akzent. Simsanreut vernahm in sich selbst hineinlauschend wieder die hellen Glocken der Lebensgeister und als der Befehl zum Rückzug kam, blieb er zwischen den Toten liegen. Sobald die erste Welle der Rotarmisten vorüber war, kletterte er aus der Grube. Das Geknatter und Gekrache des Krieges hatte sich etwas entfernt und sogleich begannen die Grillen wieder zu zirpen und die Vögel wieder zu singen. Simsanreut band sein Unterhemd an einen Ast und marschierte einer Panzerspur folgend los. Bald hörte er Stimmen und begann lauthals zu rufen: „Partisan, Partisan!“ Die russischen Soldaten standen plötzlich hinter ihm und drückten ihm die Puschka (Gewehr) in den Rücken. Als sich herausstellte, dass er kein Wort Russisch verstand und auch die Uniform einer deutschen Einheit trug, verstärkte sich der Puschka-Druck in seinem Rücken beträchtlich und man brachte ihn zum Dolmetscher. Dieser hatte vor dem Krieg Germanistik studiert. Seine Deutschkenntnisse machten ihn einerseits zum Offizier und Dolmetscher, andererseits dem Regime verdächtig. Was er dringend nötig hatte, waren Erfolge mit dem Lautsprecher. Er machte seinen Überläufer zum Lautsprecher-Sprecher. Für sein neues Amt bekam Simsanreut eine wattierte Jacke, russische Stiefel und natürlich wieder eine Glatze. Seine im breiten Wiener Dialekt vorgetragenen Propagandatiraden hatten in den deutschen Gräben großen Unterhaltungswert, aber natürlich keinen Erfolg. Die meisten Deutschen hätten gerne alles hingeworfen, aber sie wagten es nicht, gab es doch immer zwischen ihnen einen verbohrten Fanatiker, der schrie: „Ein Lied!“ Und die todmüden, enttäuschten, verzweifelten Lanzer sangen: „Wir werden weitermarschieren, wenn alles in Scherben fällt …“ Eines Tages wurde der Lautsprecher abmontiert und Simsanreut landete in einem Gefangenenlager in Sibirien. Ihm erging es aber noch verhältnismäßig gut, denn im Jahr 1956 war er wieder in Ottakring. Der Dolmetscher hingegen kam in den Gulag, erfuhr nie warum und musste bis zum Jahr 1985 auf seine Freiheit warten. Simsanreut hätte jetzt seine Haare wieder wachsen lassen können, aber leider hatte er keine mehr. Außerdem musste er sich noch im 21. Jahrhundert als Verräter und Kameradenmörder beschimpfen lassen.

Die Farben meines Lebens

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