Читать книгу Die Farben meines Lebens - Arik Brauer - Страница 30
ОглавлениеJidderle, Jidderle, kepp, kepp, kepp,
Schweinefleisch ist fett, fett, fett,
Sauerkraut ist gut, gut, gut,
o du stinkender Jud, Jud, Jud.
Salomon der Weise sagte zu seiner Frau:
„Sarah, du hast Läuse, du bist eine Sau.“
In der Leopoldstadt schleicht sich a Jud,
schleicht sich a blinder Jud,
kriagt a poa Watschen von hint,
dass eam da Rotz obarinnt.
Jud, Jud, spuck in Hut,
sagt die Mutter, das ist gut.
Dieser merkwürdige Hang zum Reimen ließ auch bei der Ankunft Hitlers in Wien etliche Blüten entstehen:
Lieber Führer sei so nett,
zeige dich am Fensterbrett.
Lieber Führer komme bald,
unsere Füße sind schon kalt.
Sieg Heil, Sieg Heil, Sieg Heil,
der Jud kriegt sein Teil.
Ein Volk, ein Reich, ein Führer,
wir wurden immer dürrer,
die Juden immer fetter,
Heil Hitler, unserem Retter.
Mit dem Tragen des gelben Sterns wurden aber alle verbalen und physischen Attacken seltener oder verschwanden ganz. Diese so offensichtlich vom mittelalterlichen Denken geprägte Schikane erschien den Leuten wohl doch befremdlich, außerdem war es so mit dem sportlichen Aspekt, Juden an ihrem Aussehen zu erkennen und zu erwischen, vorbei.
Im Mai 1938 waren alle jüdischen Kinder in Judenschulen untergebracht. Es wurde aber laufend emigriert und in weiterer Folge deportiert, so dass sich die Klassen leerten und die Schulen, eine nach der anderen, aufgelöst wurden. Im Jahr 1941 fanden sich Mädchen und Knaben zusammengepfercht in den überfüllten Räumen der letzten in Wien bestehenden Schule für jüdische Kinder.
Die Frage „Wer ist Jude?“ ist im Grunde so uninteressant, dass sich nur Juden und Antisemiten damit beschäftigen. Nach orthodox-jüdischer Tradition ist Jude, wessen Mutter entweder Jüdin oder eine zum jüdischen Glauben übergetretene Nichtjüdin ist. Diese Tradition basiert auf der Einsicht, dass es die Mütter sind, die den Menschen in der frühen Kindheit prägen. Wenn also nur der Vater Jude ist, seine Tochter einen Juden heiratet, eine Tochter zur Welt bringt, die wieder einen Juden heiratet usw., dann gelten alle diese Kinder aufgrund der nichtjüdischen Ururgroßmutter nicht als Juden. Bei den so genannten Reformjuden, die in Amerika die Mehrheit unter den Juden bilden, ist auch der Mischling mit jüdischem Vater Jude. Dies beruht auf der Erkenntnis, dass in den meisten Mischehen die Frau die Nicht-Jüdin ist und man es sich nicht leisten kann, mit „jüdischer Substanz“, was immer das ist, so großzügig umzugehen. So genau nahmen es nicht einmal die Nazis – ein jüdischer Großelternteil: Mischling ersten Grades; zwei jüdische Großeltern: Mischling zweiten Grades; zwei jüdische Großeltern und 1933 Mitglied der Israelitischen Kultusgemeinde: Jude; drei jüdische Großeltern und Mitglied der Kultusgemeinde oder nicht: Jude; vier jüdische Großeltern: Jude. Die Tatsache, dass die Mitgliedschaft bei der Kultusgemeinde eine so wesentliche Rolle spielte, weist darauf hin, dass das Judentum von den Nazis nicht nur als ethnisches, sondern auch als geistiges Phänomen verstanden wurde. Wenn beispielsweise in einer Mischehe der Jude 1933 (Machtergreifung Hitlers in Deutschland) nicht Mitglied der Kultusgemeinde war und mit dem arischen Partner in einem Haushalt wohnte, musste er keinen Stern tragen und war relativ geschützt. Wenn ein Kind dieser Familie (Mischling) hingegen 1933 Mitglied der Kultusgemeinde war, musste er den Stern tragen und hatte jüdische Lebensmittelkarten. Allerdings wurde in solchen Fällen der jüdische Ehepartner fast immer aus der gemeinsamen Wohnung entfernt, das Haus wurde „judenrein“ gemacht, und damit war es mit den Privilegien vorbei. In einigen wenigen so genannten Judenhäusern im zweiten Bezirk existierten aber solche geschützten Mischehen.
In den Judenschulen waren von 1938 bis 1941 alle diese Kategorien vertreten. Trotzdem wurde noch gelernt, Theater gespielt und gesungen. Da war ein Bub namens Hermann, ein so genanntes Lernjingl (hochbegabter Knabe). Er wusste alles, begriff alles, konnte im Schachspiel alle Lehrer schlagen und brachte sich selber zum Vergnügen die lateinische Grammatik bei. Sein Freund und „Blutsbruder“ war ein eher mittelmäßiger Schüler, hatte aber eine blühende, auswuchernde Phantasie, von der Hermann fasziniert war, da er selber nicht musisch begabt war. Die beiden machten oft ausgedehnte Wienerwald-Ausflüge, wobei der gelbe Stern unter den Schultaschen versteckt wurde. Man führte lange Gespräche über die Welt, wie sie ist und wie sie sein sollte, und beschloss die Sache in die Hand zu nehmen. Als ersten Schritt würde man die Indianer aus der Unterdrückung befreien. Der Phantast entwickelte einen Plan, basierend auf Giftpfeil, Bogen und Blasrohr. Der Plan war im Wesentlichen eine Vorwegnahme der von der Baader-Meinhof-Gruppe verwendeten Methoden. Der viel reifere Hermann hingegen dachte an eine Massenbewegung, die mit einer von ihm erfundenen Lautsprecheranlage ausgelöst werden würde. Man einigte sich darauf, beide Methoden anzuwenden, schwor sich ewige Treue zum „Plan“ und ewige Blutsbruderschaft bis zum Tod. Dieser ließ nicht lange auf sich warten. Hermann, der zur Kategorie vier (Volljude) gehörte, wurde deportiert und mit seiner gesamten Familie vergast. Der Phantast, der zur Kategorie drei zählte, kam durch, wurde ein erfolgreicher Maler, aber die Indianer warten bis heute auf ihre wirkliche Befreiung.
In der Klasse war auch ein Mädchen namens Litzi. Sie war 13 Jahre alt, hatte zwei dicke dunkle Zöpfe, blaue Augen und ein Gesicht von großem Liebreiz. Dies fand auch der Schüler mit den Giftpfeilphantasien und er konnte nicht aufhören, sie heimlich anzuglotzen. So etwas merken Mädchen aber sofort und Litzi erzählte ihrer besten Freundin, dass sie verliebt sei, sagte aber nicht in wen. Die letzte Judenschule wurde bald geschlossen und in Litzis Träumen verwandelte sich der unreife Knabe in einen Mann und Prinz, der das Glück bringt. 1944 wurde sie mit ihrer Mutter „ausgehoben“ und in das Sammellager „Malzgasse“ gebracht. Hier wurde ihr zum ersten Mal mit Entsetzen bewusst, was auf sie zukam. Das Haus in der Malzgasse (heute Herzlhof) hatte einen großen Hof, in dem die Appelle abgehalten wurden. Es wurde gebrüllt und gestoßen, aber noch nicht geschlagen. Nur einmal trat ein älterer Jude vor und verkündete mit sicherer Stimme: „Ich war Offizier in der Armee seiner Majestät des Kaisers. Ich wurde im Weltkrieg schwer verwundet und habe zahlreiche Medaillen.“ Da trat ein SS-Mann hinzu, zog seine Pistole und schlug dem Offizier seiner Majestät mitten ins Gesicht, so dass dieser blutüberströmt niederstürzte. Von diesem Tag an war für Litzi die Welt zerstört. Sie hatte noch nie gesehen, wie jemand geschlagen wurde. Sie verstand überhaupt nicht, wieso man in ein Gesicht hineinschlagen kann, wo da doch Augen sind, die einen anschauen können, und ein Mund, der Worte spricht. Sie fühlte sich in der Welt wie ein Gast, der einen Besuch abstattet, aber gern möglichst bald wieder nach Hause gehen möchte. Als ein großer Schub ungarischer Juden ins Lager kam, musste der Keller ausgeräumt werden, um Platz zu schaffen. Der Hof war voll mit alten, schweren Türen und vom dritten Stock aus sah Litzi, wie ein Arbeiter die Türen einzeln die Stiegen hinaufschleppte. Im dritten Stock konnte sie sein Keuchen und die schweren Schritte durch die Türe hören. So ging das stundenlang und die Schritte wurden immer langsamer. Gegen Nachmittag klopfte jemand an die Türe und auf ihre Frage, wer da sei, bat der Arbeiter um Wasser. Sie öffnete die Türe und vor ihr stand ihr Prinz. Er war ein strammer 15-jähriger Bursche geworden und erkannte sie sofort. Sie begriff, dass er am Ende seiner Kräfte war, gab ihm Wasser aus der Leitung und aus ihrer kleinen Lebensmittelreserve einige Stücke Würfelzucker. Es wurde nicht viel gesprochen, aber die restlichen Türen trugen sie gemeinsam auf den Dachboden. Diese Türen waren plötzlich federleicht und die Stiegen eine blumige Bergwiese, das kleine Stück Himmel, das vom Hof aus zu sehen war, die herrliche weite Welt, und die Tauben waren Engel, die die glücklichen Türträger in die Freiheit tragen würden. Die Welt war ein helles Paradies.
Die letzte jüdische Schule in Wien: Erich, der Kleinste (ganz links stehend), davor Litzi mit den Zöpfen und Hermann (am Boden sitzend in der Mitte).
Liebeslied
In deine Augen, in deine Augen, Blaubliableamalaugen
a da kann man den Himmel und die Wolken derschauen.
Ja, dein Mund, dein Mund, Rosenschmusenkosenmund
der macht mi so krank und der macht mi so gsund.
Es zittert des Herz und es zittert die Hand,
es brennen die Wangen, es lodert der Brand.
Und rundumadum ist alles verstummt
mein erster Kuss auf deinen rosigen Mund.
Für Litzi war es die erste und letzte Liebe ihres Lebens. Der nächste Transport brachte sie nach Theresienstadt und weiter in ein polnisches Ghetto. Das große Tribunal vom Wannsee saß über Litzi zu Gericht, und das Urteil lautete: Tod durch Genickschuss als Strafe für den Besitz zweier dunkler Zöpfe.