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Fünftes Kapitel

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Noch vor Sonnenaufgang lagen Julius Bentheim und Albrecht Krosick auf der Lauer. Sie hatten sich an einem der alten, weit ausladenden Bäume vor dem Anwesen des seligen Herzogs ins restlich verbliebene Herbstlaub des Wipfels hochgezogen und saßen nun in mehreren Fuß Höhe auf einem Ast, der gefährlich im Wind schwankte.

Krosick war in eine dicke Wolldecke eingehüllt, während Bentheim einen Wintermantel um den Körper geschlungen hatte. Schweigend sahen sie über die Grundstücksmauer und beobachteten die ausgedehnte Domäne, die in morgendlichen Nebel gehüllt war und bei beiden einen gespenstischen Eindruck hinterließ. Irgendwo in der Ferne heulte ein Tier, und von einem der nahen Bäume hallte ein Käuzchenschrei herüber.

Die Minuten vergingen. Minuten, die sie – beinahe steif gefroren – auf dem knarzenden Ast verbrachten. Einmal schlug ein Kaninchen seine Hacken über das Feld, ein andermal sauste raschelnd eine Feldmaus unter dem Baum vorbei. Dann herrschte wieder Ruhe, und nicht das leiseste Knistern und Raspeln war in den Baumkronen zu hören.

Plötzlich hob Albrecht den Arm und deutete auf die östliche Umgrenzung des Anwesens. Julius spähte hinüber und konnte gerade noch erkennen, wie sich jemand über die Mauerkrone hangelte. Soweit Bentheim seine Augen nicht täuschten, trug der Eindringling einen schwarzen Mantel. Es war zweifellos ein Mann: Statur und Körperbau des Fremden waren kräftig, seine geduckte Gangart ließ mitnichten auf das grazile Wesen einer Frau schließen. Geschickt verbarg der Unbekannte das Gesicht hinter einem ebenfalls dunklen Schal, seine Hosen waren eng anliegend, und unter seiner linken Achsel beulte sich der Mantel ein wenig.

»Er ist bewaffnet«, flüsterte Albrecht, der denselben Gedankengang hatte wie Bentheim.

Nervös blickte der Tatortzeichner zu seinem Freund hinüber, doch Krosick gab ein Zeichen der Zurückhaltung. Beherrscht hielt Julius den Atem an, als er von ihrem luftigen Versteck aus das Geschehen verfolgte.

Nebelschwaden zogen über die Wiese. Nur bedingt gaben sie die Sicht auf die sich entwickelnde Handlung frei. Hin und wieder erhaschte Julius einen Blick und sah, wie sich der Eindringling dem Haus näherte. Unsicher, als ob er die Anwesenheit der Polizeianwärter erahnte, schaute der Mann sich um. Dann schlich er wieder einige Fuß näher an das Gebäude heran, stets gebückt und mit angespannten Muskeln. Kurz bevor der Fremde das prächtige Anwesen erreicht hatte, gab Albrecht ein Zeichen.

Lautlos sprangen die Freunde vom Baum, kletterten über die Grundstücksmauer hinweg und ließen sich auf der anderen Seite ins nasse Gras fallen. Schwer atmend lag Julius hinter einem dichten Gebüsch in Deckung, während Albrecht auf allen vieren auf ihn zugekrochen kam. In seiner Stellung verharrend, beobachtete er das Gebäude, so gut es der Nebel zuließ, und stürzte dann völlig unerwartet aus ihrem Versteck heraus.

»Komm, Julius! Komm schon!«, rief er und eilte auf den Westflügel zu.

Nun war Bentheim klargeworden, dass der Unbekannte bereits in das Gebäude eingedrungen sein musste. Er hetzte seinem Freund nach, durch den Garten rennend, wich taufeuchten Ästen aus, die wie Fangarme nach ihm zu greifen schienen, trampelte über Blumenbeete und erreichte schließlich seinen Freund, der vor einem Fenster des Gebäudes kauerte. Der Rahmen wies die unverkennbaren Kratzspuren eines Dietrichs auf, wahrscheinlich von einem einfachen, aus einem Eisennagel hergestellten Sperrhaken. Das Fenster war von außen entsperrt und von innen ins Schloss fallen gelassen worden.

Während Krosick seine Waffe zog, spähte er vorsichtig durch das milchig trübe Glas. Seit Julius und er im Preußisch-Österreichischen Krieg gekämpft hatten, durften sie auch als Polizeiadepten offiziell den Revolver tragen. Ein Antrag an den Polizeipräsidenten Lothar von Wurmb, eingereicht von Gideon Horlitz persönlich, hatte es möglich gemacht.

Albrecht murmelte etwas Unverständliches, bevor er einige Schritte zurücktrat und in einem gefährlich tollkühnen Sprung durch die Scheibe hechtete. Das Glas zersplitterte und klirrte, das Krachen von Holz wurde laut, und dann hörte Julius den Aufprall seines Freundes auf dem Fußboden des Hauses. Von Krosicks wilder Entschlossenheit überrumpelt, stand der Tatortzeichner noch immer vor dem Westflügel des Gebäudes. Instinktiv nahm er ebenfalls etwas Anlauf und wollte schon seinem Freund folgen, als das ohrenbetäubende Geräusch einer abgefeuerten Pistolenkugel die Stille durchbrach. Und dann ertönte ein zweiter Schuss, dem weitere folgten. Zwei leere Hülsen flogen Bentheim um die Ohren. Er warf sich zu Boden, hielt schützend die Arme über den Kopf und wartete, bis der ganze schreckliche Zauber vorbei war.

Plötzlich herrschte wieder Stille.

Vorsichtig sah Bentheim hoch, als er auch schon die vertraute Stimme seines Freundes vernahm.

»Komm rein, Julius«, rief ihm Albrecht zu. Diesmal lag unverkennbar ein Schimmer von Enttäuschung in seiner Stimme.

Der Tatortzeichner stieg durch den Fensterrahmen ins Gebäude und blickte sich um. Der Raum, in dem sie sich befanden, war nicht minder skurril als die anderen, die Julius bereits ein paar Tage zuvor gesehen hatte. Vor den Wänden standen steinerne, mit Hieroglyphen beschriftete Sarkophage. Das ganze Interieur erinnerte Julius an das Haus in der Behrenstraße 60, wo Albrecht und er vor einigen Monaten bei den Eheleuten Lepsius zu Gast gewesen waren. Karl Richard Lepsius, der Begründer der modernen Ägyptologie in Deutschland, hatte seine Gemächer ebenfalls nach Art der Söhne des Nils geschmückt gehabt.

In der Ecke links von Julius ruhte in einer blank geputzten, glitzernden Glasvitrine eine lebensgroße Mumie, die ihm aus ihren geschrumpften, ausgetrockneten Augäpfeln entgegenstarrte. Wenige Ellen vor seinen Füßen lag der leblose Körper des unbekannten Eindringlings. Weißer Schaum floss aus seinem Mund und tröpfelte auf den Boden herab.

»Du hast ihn erschossen, Albrecht!«, bemerkte Bentheim trocken.

Der Fotograf schüttelte missmutig den Kopf. Er reichte Julius seine Waffe und sagte: »Sieh selbst nach. Aus dieser Pistole wurde keine einzige Kugel abgefeuert. Er war es, der auf mich schoss. Aber ich ging in Deckung und zählte die Schüsse, die er auf mich abgab. Sowie er keine Patronen mehr hatte, kam ich mit gezogener Waffe aus meinem Versteck, um ihn zu stellen. Als er die Ausweglosigkeit der Situation einsah, griff er unverzüglich in seine Manteltasche, zog eine Kapsel hervor und schluckte sie, ohne mit der Wimper zu zucken.«

»Kaliumcyanid?«, fragte Bentheim verblüfft.

»Sieht so aus.«

Er wollte Krosick gerade nach den so unerforschlichen Beweggründen fragen, die zu dieser Tat geführt hatten, als ein Geräusch die beiden Freunde herumfahren ließ. Vor ihnen stand der Hausdiener, der sich einen Morgenmantel übergeworfen hatte. In den Händen hielt er ein großkalibriges Jagdgewehr – eines der Marke Dreysesche Zündnadel-Wallbüchse M65 – und stocherte damit wild in der Luft umher.

»Was geht hier vor?«, fragte er, und in seiner Donnerstimme lag die Wut des zu Unrecht in seinem Schlaf Gestörten. »Was machen Sie hier, meine Herren? Wer hat hier geschossen?«

Albrecht Krosick zeigte wortlos auf den Toten und ließ die Sache damit auf sich beruhen.

»Benachrichtigen Sie die Gendarmerie am Molkenmarkt und bitten Sie um Verstärkung«, trug Julius dem Hausdiener auf, während sich Albrecht über den Leichnam beugte und ihm den Schal vom Gesicht zog. Schockiert starrte der Bedienstete auf den leblosen Körper, während er ein devotes »Sofort, die Herren!« vor sich hin stammelte. Dann riss er sich von dem üblen Anblick los und eilte davon.

Julius wandte sich seinem Freund zu, der in der Zwischenzeit in die Hosen- und Hemdtaschen der Leiche gegriffen hatte.

»Nun, Albrecht, hast du etwas über die Beweggründe dieses Mannes herausgefunden?«

Krosick hielt ihm ein Blatt Papier entgegen.

»Das Einzige, was dieser Mann hier auf sich trug, ist dieses Schreiben. Und das werden wir heute noch gemeinsam entziffern müssen.«

Bentheim griff nach dem Papier, faltete es auseinander und las:

1216201817

201552054514 49514518

20185661621141120

23119 8120 19952514 81521205

21144 259191920 112125

135141938514?

Verärgert gab er den Zettel zurück. Wie sollte dieser Code – falls es überhaupt einer war – zu knacken sein? Wie viel Zeit blieb ihnen dafür? Und hatte er überhaupt etwas mit ihrem Fall zu tun? Der Tatortfotograf schaute seinen Freund mokant an, lächelte gelassen und meinte, als er Bentheims Unmut und seine Verzagtheit erfasst hatte: »Schneide nicht so ein griesgrämiges Gesicht, Julius. Der Code sollte leichter zu dechiffrieren sein, als du annimmst.«

»Wie kommst du darauf?«

»Deduktive Logik. Nehmen wir uns ein Vorbild an Gideon Horlitz und machen wir, was er getan hätte. Schau dir den Toten einmal genauer an, Julius. Seine Hände sind von Schwielen übersät, das Gesicht ist nachlässig rasiert, auch benutzt er kein Rasierwasser. Der Verblichene zählte also keineswegs zum erlauchten Kreis besser verdienender Leute. Nein, er gehörte vielmehr dem Menschenschlag an, der seine Kräfte und seine Muskeln gebraucht. Ich bezweifle stark, dass der Absender dieser Nachricht unserem Fremden hier eine intellektuelle Höchstleistung abverlangen konnte, nur um diesen Text zu entziffern. Was der Einbrecher vermochte, können wir beide schon lange, meinst du nicht auch, Julius?«

Das schwarze Herz

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