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Siebtes Kapitel
ОглавлениеEine Viertelstunde vor acht Uhr abends fanden sich Julius Bentheim und Albrecht Krosick auf Nikolskoe am Wannsee ein. In Steinwurfweite von der Kirche, die nördlich der Königsstraße zwischen der Pfaueninsel und dem Park Klein-Glienicke im Düppeler Forst gelegen war, floss die Untere Havel vorbei.
Gideon Horlitz wartete bereits auf seine zwei Gehilfen und besaß einen etwas ungeduldigen Gesichtsausdruck.
»Da sind Sie ja!«, begrüßte er sie grantig, wobei er einen demonstrativen Blick zur Turmuhr in der blau-weißen Rosette warf. Auch Bentheim sah hoch, doch die Dunkelheit machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Er konnte nicht einmal die Zeiger erkennen. »Gerade rechtzeitig«, fuhr der Kommissar ungerührt fort. »Von unserer Kontaktperson ist noch nichts zu sehen, was auch gut ist. Gehen wir hinein.«
Bentheim und Krosick kamen weder zu Wort noch konnten sie ein freundliches »Guten Abend« von sich geben, so schnell hatte der Kommissar sie begrüßt und förmlich überrumpelt. Er zog sie hinter sich her, und seine schnellen Schritte zielten auf die Kirche hin, die Friedrich Wilhelm III. seiner Tochter zuliebe, der Zarin Alexandra Fjodorowna, nach dem Stil russisch-orthodoxer Gotteshäuser hatte erbauen lassen. Die Wandflächen waren glatt, einzig ein Gesims teilte den kubischen Baukörper in zwei gleich hohe Abschnitte. Der obere Teil war von Arkaden durchbrochen. Ein zierlicher Turm – der einzige Kirchturm des Gebäudes – endete nach russischem Vorbild in einer Zwiebelkuppel.
Noch im Gehen, als sie die fünf Stufen zur Eingangspforte nahmen, offenbarte der Kommissar seine Pläne: »Sie, Julius, setzen sich in eine der hintersten Reihen dieser Holzbänke und beobachten sorgfältig das Geschehen. Sie, Albrecht, machen dasselbe auf der anderen Seite, während ich mich in einen der unbenutzten Beichtstühle begebe, von wo aus ich ebenfalls eine günstige Übersicht genieße. Falls eine verdächtige Person auftaucht, knien Sie einfach nieder und täuschen ein Gebet vor. Alles andere überlassen Sie mir.«
Die Tür krachte hinter ihnen ins Schloss, einen lauten und dumpfen Nachhall hinterlassend. Ein leichtes Gefühl von Unbehagen ergriff Julius. Obgleich er weder fleißiger Kirchgänger noch gläubiger Mensch war, missfiel es ihm, hier, im Hause Gottes, auf Verbrecherjagd zu gehen und die Ruhe dieser ehrwürdigen Einrichtung zu stören. Albrecht, welcher aufrührerischen und revoltierenden Gedankengängen aus Prinzip nie abgeneigt war, blickte ihn verwundert an. Und auch Horlitz, dessen rein logisch und pragmatisch denkender Geist die Existenz höherer Mächte als jener der Naturgesetze stets infrage stellte, solange sie nicht bewiesen waren, musste das Missbehagen in Bentheims Gesicht bemerkt haben.
Sich dem Tatortzeichner zuwendend, raunte er: »Falls Gott existiert, ist es sein Wille, dass wir die Morde an dem Herzog und dem Unbekannten aufdecken, selbst wenn wir dies in seinem Hause tun sollten. Wieso auch nicht? Was spricht dagegen, der Wahrheit Tür und Tor zu öffnen?«
Julius Bentheim seufzte ergeben. Neben dem Eingang stand ein Weihwasserbecken, was ungewöhnlich war für eine evangelische Kirche, aber womöglich etwas mit dem orthodoxen Vorbild zu tun hatte. Bentheim tippte den Finger ins Nass und bekreuzigte sich, bevor er die düstere Halle durchschritt. Die Balkendecke flach, die Emporen schlicht gehalten – alles hier atmete den Hauch des Klassizismus.
Wenige Meter weiter, bei einer der hintersten Reihen, setzte sich Julius nieder, während Albrecht es ihm gleichtat und der Kommissar einen der Beichtstühle aufsuchte. Außer ihnen waren zwei weitere Personen anwesend: eine junge, einnehmend hübsche Frau, die ein schlichtes schwarzes Kleid trug und gerade dabei war, an einem Kerzenständer einige Lichter zu entfachen, sowie ein beleibter Kleriker, der gedankenverloren vorn im Chorraum kniete und zum Altar hin betete. Unter dem Saum seiner Kutte schauten die abgewetzten Sohlen seiner Hanfsandalen hervor.
In einer katholischen Kirche hätte Bentheim pro forma einen Rosenkranz hervorgezogen und ihn mechanisch zwischen den Fingern hin und her wandern lassen. Hier jedoch fehlte dieses Utensil zur perfekten Scharade. Er faltete also lediglich die Hände, ließ den Kopf ein wenig sinken und beobachtete aus den Augenwinkeln heraus den Raum. Offensichtlich war die gesuchte Person noch nicht aufgetaucht.
Nach einiger Zeit erhob sich der beleibte Ordensbruder. Er ordnete den Faltenwurf seiner Kutte und wälzte sich schwer atmend durch den Kirchgang. An den Säulengängen, welche linker und rechter Hand die Emporen hielten, waren ein paar Leuchten angebracht, die alles in dunkles Rot tauchten – ein Teufelsrot, wie Julius meinte, das eine gespenstisch-dämonische Atmosphäre hervorrief.
Er spähte dem Dicken nach, während sich bei der offenen Kniebank auch Albrecht nach ihm umblickte. Für einen kurzen Moment trafen sich ihre Augen, und der Tatortfotograf zuckte fragend mit den Schultern.
Wo blieb der gesuchte Mittelsmann?
Bentheim sah noch einmal in die Richtung der eleganten Dame in Schwarz – offenbar eine Witwe – und ließ dann den Blick gemächlich durch die Kirche schweifen. Falls jemand eintreten sollte, so würde das laute Ächzen der Eingangstür sein Kommen schon ankünden.
Die St.-Peter-und-Paul-Kirche war ein Ort, den man gemeinüblich mit dem Attribut »seltsam« äußerst trefflich beschreiben konnte. Ziel und Nutzung der Kirche waren zwar dieselben wie bei allen anderen Kirchen auch, doch trat sie drastisch aus der Ansammlung von Gotteshäusern hervor. Man konnte sie gar als Panoptikum für einen Kunsthistoriker ansehen. Form und Ausstattung des Bauwerks waren nur schwer in die Kategorien und Epochen der Kirchenarchitektur einzuordnen. Hauptschiff und die beiden Seitenschiffe waren theoretisch gleich hoch. Doch die Emporen, die durch tiefer gelegene Bogen miteinander verbunden waren, ließen zumindest optisch eine Dreiteilung erahnen. Ein riesiges Gewölbe schmückte das Chorhaupt, vor dem links auf vier achtkantigen Pfeilern mit korinthischen Kapitellen eine hölzerne Kanzel stand. Die über dem Altar angebrachten Fensterrosen spendeten zu wenig Licht, als dass es die vorherrschende Dunkelheit durchbrochen hätte.
Julius fragte sich gerade, wie herrlich wohl die Orgel klingen musste, die mit zehn Registern und einem Manual der berühmten Firma Turley gebaut worden war, als sich einige Bänke vor ihm etwas bewegte.
Die Frau war aufgestanden und schritt nun Richtung Ausgang. Langsam kam sie an Bentheim vorbei, und er konnte in ihren Augen eine Träne erblicken, die sie verstohlen wegwischte. Mit zitternden Händen klammerte sie sich an einer beutelartigen Pompadour-Tasche fest. Ihre Brosche, ein in einer silbernen Fassung eingelegtes Obsidian-Herz, das sie über der linken Brust an ihr Kleid geheftet hatte, reflektierte den Kerzenschein.
Armes Geschöpf, dachte Bentheim, als sie so verloren an ihm vorbeiging, um die Kirche zu verlassen. Noch immer trauerte er Filine nach, Edwins Mutter und seine der Schwindsucht erlegene Gattin, und er fühlte mit der jungen Witwe.
Wiederum ein lautes Krachen, und die Tür fiel ins Schloss.
Da hörte Bentheim den Kommissar, wie er fluchend und blaffend auf Albrecht und ihn zugeschossen kam: »Himmel! Was haben wir falsch gemacht? Eine geschlagene Stunde sind wir schon hier und haben noch immer kein Zeichen von unserem Mittelsmann. Wo bleibt der Kerl bloß, zum Teufel noch mal!«
»Gideon!«, fuhr Julius seinen Freund und Vorgesetzten an. »Wir sind in einer Kirche.«
Nur schwerlich beruhigte sich Horlitz. Dann aber vergewisserte sich der Kommissar leicht beschämt, ob nicht doch noch jemand Zeuge seines Benehmens geworden war, und atmete erleichtert auf.
Enttäuscht verließen sie die Kirche. Versonnen ging Horlitz vor Krosick und Bentheim her. Sie gingen den Pfad zum Nikolskoer Weg hoch, dem sie eine Zeit lang in einvernehmlichem Schweigen folgten. Bald darauf konnten sie einen zufällig vorbeifahrenden Dogcart heranwinken. Sie bestiegen die Kutsche und ließen sich in die Stadt fahren. Das Gefährt holperte über den Weg, bog in rasantem Tempo nach rechts um die Kurve in die Königstraße ein, wo es über die Glienicker Brücke weiterging. Schließlich ließen sie vor den ersten Patrizierhäusern halten.
Bentheim verabschiedete sich von seinem Freund und ihrem älteren Kollegen, der seinen Gruß regungslos, fast schon apathisch quittierte. Gideons Gedanken mochten wohl um die seltsamen Umstände kreisen, die bisher zu zwei Todesfällen geführt hatten, und so war es für Julius nicht weiter verwunderlich, dass er von der Verabschiedung keine große Notiz mehr nahm.
Während Bentheim sich darauf freute, zu seinem Sohn zurückzukehren, um mit ihm, der jetzt schon schlafen mochte, die wenigen Stunden trauter Gemeinsamkeit zu genießen, ging sein Mentor gänzlich in seinem Beruf auf. Seit Claras Hinscheiden war die Arbeit seine Braut, und seine Besessenheit, was obskure, beinah schon ins Fantastische hinauslaufende Begebenheiten anging, ließ ihm gar keine Zeit übrig für solch »banale Dinge wie Balztanz und erneute Brautschau«. Zumindest waren dies seine Worte.
Wie gesagt, fand sich Bentheim bei seiner Vermieterin ein. Mit Frau Losch nahm er eine späte Abendmahlzeit zu sich und plauderte mit ihr über den neuesten Klatsch und Tratsch der Hauptstadt. Auch diskutierten sie angeregt die Entwicklung der preußischen Außenpolitik sowie den aktuellen Akzessionsvertrag, durch den der Kleinstaat Waldeck einen Teil seiner Hoheitsrechte an Preußen verloren hatte. Sie tranken Wein – die rüstige Offizierswitwe sogar drei ganze Gläser – und genossen den Abend, bis sie lachend und müde zu Bett gingen.