Читать книгу Das schwarze Herz - Thomas Breuer, Armin Öhri - Страница 15
Achtes Kapitel
ОглавлениеAm nächsten Vormittag begegnete Julius dem Kommissar auf dem Flur des Stadtpalais Grumbkow. Ein Lächeln zierte Gideons Gesicht, wie es stets der Fall war, wenn er ein Geheimnis aufgedeckt hatte, doch seine Augen waren diesmal voller Verdruss.
»Hoffe, Sie hatten eine erholsame Nacht«, grummelte er und hastete an seinem Angestellten vorbei in sein Büro, dessen Tür er schwungvoll schloss und Bentheim somit für dieses eine Mal den Zugang zu seinen geheiligten vier Wänden verwehrte. Der Tatortzeichner zog sich in einen anderen Arbeitsraum zurück, wo er ein paar Akten durchforschte, die seine Kollegen angelegt hatten. Albrecht war nirgends zu sehen. Von Theodor Görne, dem hageren Staatsanwalt, der zufällig auf Visite war und kurz ins Zimmer blickte, erfuhr Julius, dass sein Freund schon frühmorgens auf dem Kommissariat gewesen war, aber mit einem Spezialauftrag weggeschickt worden sei.
»Spezialauftrag?«
Görne nickte, wobei seine peinlich-langen Seitenhaare, die er von links über den Glatzkopf gekämmt hatte, gefährlich wippten und zu rutschen drohten. »Ja, so hat Horlitz es genannt: ein Spezialauftrag. Das waren seine Worte.«
»Worum ging es?«
»Irgendwas mit einem fetten Mönch. So genau habe ich nicht hingehört. Jedenfalls hat Ihr Freund den ganzen Tag dafür veranschlagt.«
Bentheim ahnte, worauf dieser Auftrag hinauslief. Sollte sich Horlitz doch in seinem Büro verbarrikadieren, um seine vielen Theorien zu wälzen und seine Vermutungen auf ihre Wahrscheinlichkeit hin zu überprüfen. In der Zwischenzeit sondierte Julius Fingerabdrücke, vertiefte sich in die von ihm selbst angefertigten Skizzen des Tatorts und legte sich seine eigenen Spekulationen über das Motiv des Täters oder der Täter zurecht, in denen einmal der Hausdiener, ein andermal der Einbrecher der Mörder war. Nach geraumer Zeit kreisten seine Gedanken gar um die absurde Idee, der alte Herzog von Gerolstein habe seinem Leben womöglich selbst ein vorzeitiges Ende gesetzt. An diesem Punkt angelangt, platzte ihm der Kragen. Wütend schob der Tatortzeichner den Sessel zurück, stand auf und eilte schnellen Schrittes in Richtung Horlitzens Büro.
Schwungvoll riss er die Tür auf und blickte in das süffisant lächelnde Gesicht seines Vorgesetzten.
»Nun sagen Sie es schon! Was, in drei Teufels Namen, haben Sie herausgefunden?«, fuhr Julius ihn an. Es klang harscher, als er es gewollt hatte, doch der Kommissar schmunzelte zumindest. Bentheim schien es, als ob tatsächlich ein schalkhafter Zug um seine Mundwinkel auszumachen wäre.
»Tja, wie soll ich Ihnen das erklären?«, sprach er und seufzte, als sei es ihm zutiefst zuwider, seinem Untergebenen Rede und Antwort stehen zu müssen. »Seien Sie mir nicht böse, guter Freund, aber ich stelle gerade Überlegungen an, welche die ganze leidige Affäre Gerolstein in ein anderes Licht rücken könnten. Ich wollte Sie keineswegs mit meinen Fantastereien bedrängen und habe Sie deshalb auch nicht eingeweiht, dass ich nebenbei noch einer anderen, auf den ersten Blick verwegen scheinenden Spur gefolgt bin. Leider hat sich meine kühne Theorie bewahrheitet.«
»Machen Sie es nicht so spannend!«
Bentheim vermochte seine Neugier fast nicht mehr zu beherrschen, so sehr spannte ihn Horlitz, dieser Sadist des Intellektuellen, auf die Folter. »Was haben Sie ausgebrütet? So sprechen Sie schon, Gideon! Erklären Sie sich.«
Das Gesicht seines Freundes verlor jeglichen jovialen Ausdruck, der nunmehr einem ernsten Blick wich. Kaum merklich den Kopf bewegend, legte Horlitz die Stirn in Falten und griff nach seiner alten Bruyèrepfeife, die vor ihm auf der Tischplatte lag. Ein gräulicher Rauch kringelte sich zur Decke hoch, nachdem er sie angezündet hatte.
»Nun, mein Freund«, begann er ernst seine Ausführungen, »es ist die Aufgabe der Kriminalistik, entweder begangene Verbrechen aufzuklären oder jene sich in Planung befindlichen zu verhindern. Deshalb ist es wesentlich, das Vorgehen des Verbrechers und seine Tat sowie deren Erscheinungsform zu analysieren. Wir Gendarmen suchen Indizien, die zu einer Täterschaft führen, wir erstellen Psychogramme – und wir gehen dabei rein logisch vor. Der erste Schritt, den wir also tätigen müssen, um ein Verbrechen aufzuklären, ist die Abstimmung der gegebenen Umstände aufeinander. Mit folgerichtigem und geordnetem Denken kommen wir zu Lösungen von Problemen, die uns im Alltag gestellt werden; in unserem Fall also die Klärung des Mordfalls Gerolstein.« Er inhalierte rasch, bevor er mit fast schon samtener Stimme weiter dozierte. »Alle uns gegebenen Indizien müssen wir in einer widerspruchsfreien Verknüpfung anzuordnen wissen. Damit kommen wir zu einem Schluss, also zu einer Lösung. Ich habe mich in den letzten Stunden intensiv mit dem Leben des seligen Herzogs und seinem traurigen, gewaltsam herbeigeführten Ableben beschäftigt, Julius, und ich muss Ihnen offenbaren, dass mir dabei einige Unklarheiten ins Auge gefallen sind.«
Bentheim spitzte die Ohren.
Horlitz paffte an seiner Pfeife und fuhr fort: »In der Logik gibt es ein festes Prinzip, nämlich den Satz vom Widerspruch. Dieser besagt, dass es ein Ding der Unmöglichkeit ist, dass ein und dieselbe Tatsache zugleich sein, aber auch nicht sein kann. Wir wissen, dass es um die wirtschaftliche Lage des Herzogs nicht gerade rosig bestellt war, nicht wahr, Julius? Das haben Sie und Albrecht ja selbst in Erfahrung gebracht.«
Julius nickte.
»Gehen wir die Sache logisch an, mein Freund«, schlug der Kommissar vor. »Der komplexe Satz Der Himmel ist wolkenlos und es regnet besteht aus dem ersten Teilsatz Der Himmel ist wolkenlos und dem zweiten Teilsatz Es regnet. Beide Teilsätze für sich gesehen, geben eine Beschreibung eines Zustandes, den wir nicht als falsch ansehen können. Sehen wir sie aber als Komplex, als Einheit, so widersprechen sie sich. Genau dasselbe passiert auch in unseren Ermittlungen. Bei uns heißen die Sätze einfach Der Herzog war bankrott und Der Herzog lebte ausschweifend. Etwas missfällt mir da wirklich.«
»Aber welcher Satz ist berechtigt?«, fragte Bentheim.
»Hm.« Horlitz zuckte mit den Schultern. »Das müssen wir noch herausfinden«, antwortete er. »Vorerst richten wir unser Augenmerk auf eine ganz andere Sache. Rufen Sie sich das Bild des toten Herzogs in Erinnerung. Fällt Ihnen nichts auf, was vielleicht seltsam oder ungewöhnlich war? Und gab es nichts, was Ihnen sonderbar oder unlogisch erschien?«
Bentheim hatte keine Ahnung, worauf sein Freund aus war. Doch da er um dessen kombinatorisches Ingenium wusste, war es ihm auch diesmal nicht vergönnt, ihm das Wasser zu reichen. Sein Geist sah einfach nicht die Dinge, die der in ganz Preußen berühmte Kommissar Horlitz sah, und so gab er sich geschlagen und ließ das grausame Bild des ermordeten Hausherrn vor seinem inneren Auge Revue passieren.
»Was meinen Sie?«
Horlitz antwortete: »Nun, es gibt einige Punkte, die nicht ins Bild eines Raubmordes passen. Erstens: Wir wissen inzwischen, dass der Herzog um zehn Uhr ermordet wurde. Wieso trug die Leiche Handschuhe – im geheizten Haus? Zweitens: Das Gesicht des Toten war nicht mehr vorhanden; so präzise war der Schuss des Mörders gewesen. Weshalb aber macht sich jemand die Mühe, die Pistole derart nah anzusetzen, wenn es ein einfacher Schuss ins Herz auch getan hätte? Drittens: Als wir das Haus des Ermordeten zum ersten Mal betraten, wurde uns die Tür vom Domestiken geöffnet, dessen zitternde Bewegungen ich auf sein fortgeschrittenes Alter zurückführte. Vielleicht, so dachte ich, laborierte er auch an der Schüttellähmung. Aber als Albrecht und Sie draußen bei Weißensee beim Anwesen des Herzogs auf der Lauer lagen und schließlich den Einbrecher stellen wollten, der sich leider selbst einem höheren Richter übergab, trafen Sie beide wiederum auf den Diener. Nur diesmal, wenn ich Ihren Berichten Glauben schenken darf, hielt er Ihnen ein Jagdgewehr entgegen – mit der kundigen und sicheren Hand eines erfahrenen Jagdschützen. Oder irre ich mich?«
Für eine Sekunde blitzte vor Bentheims innerem Auge die nächtliche Situation auf, und er nickte zustimmend.
Mit einer energischen Kinnbewegung fuhr Horlitz fort: »Hat der greise Hausdiener also etwas zu verbergen, gleichwohl ich ihn anfangs für unschuldig hielt? Viertens: Ihrem Bericht zufolge habe der Lakai erschrocken reagiert, sowie er den Einbrecher in seinem Keller erblickte. Es sei lediglich ein hastiger Blick gewesen, doch er habe genügt, um ihm den Angstschweiß auf die Stirn zu treiben. Kannte er also den Einbrecher? Sie sehen, Julius: Fragen über Fragen, deren rasche Beantwortung unser harrt.«
Bentheim lachte heiser.
»Sie spaßen, Gideon«, entgegnete er. »Wie ich Sie kenne, haben Sie die Rätsel bereits gelöst und werden mir nun voller Enthusiasmus Ihre Auflösung präsentieren. Ist dem nicht so?«
Der Kommissar war geschmeichelt. Leicht verlegen strich er seine Jacke mit einer grazilen Bewegung glatt und antwortete: »Ach, Sie beschämen mich. Aber, ja, ich weiß, wer der Mörder war.«
»Sprechen Sie!«, meinte der Tatortzeichner aufgeregt.
»Nun«, antwortete Horlitz mit langsamer Stimme, »der Mörder war kein Geringerer als der Herzog persönlich!«
»Selbstmord?«, entfuhr es Bentheim.
Der Kommissar schüttelte den Kopf.
»Nein, gewiss nicht. Hören Sie zu! Der Tote war gar nicht der ehrwürdige Herzog, sondern dessen Bediensteter.«
»Dann ist der Diener also der vermeintlich tote Herzog?«
»Exakt.«
»Aber wie …?«
Noch ehe er seine Frage ausformuliert hatte, unterbrach ihn Horlitz: »Ganz einfach: Weshalb trug der Tote Handschuhe? Die Antwort liegt auf der Hand: Weil Lakaien nun einmal Handschuhe tragen. Und weshalb schoss man dem Toten das Gesicht weg? Natürlich nur, um ihn unkenntlich zu machen. Weshalb zitterte der vermeintliche Diener erst und dann wieder nicht? Weil alles nur gespielt war. Eine Farce, die uns glauben machen sollte, wir hätten es mit einem gebrechlichen Greis zu tun, den wir deshalb nie und nimmer zum Kreis der Verdächtigen gezählt hätten.«
Bentheim pfiff anerkennend, und der Kommissar erklärte: »Es geht hier nicht um einen einfachen Mord, Julius. Da steckt eindeutig mehr hinter der ganzen Angelegenheit. Leider Gottes haben wir jetzt umso mehr Fragen zu beantworten: Weshalb hat der Herzog seinen Domestiken ermordet? Und warum hat er daraufhin seine eigene Ermordung inszeniert? Wer wusste sonst noch um diese leidige Affäre? Denn jemand hat den Herzog ja beschattet. Wer war der unbekannte Einbrecher, der Kaliumcyanid seiner Verhaftung vorzog? Und schließlich: Wer sollte in der St.-Peter-und-Paul-Kirche am Wannsee auf den Attentäter warten?«
»Aber weshalb wurde der Herzog im Dorf nicht erkannt, als er seine Einkäufe machte?«
»Vielleicht hat man ihn erkannt, vielleicht auch nicht. Wer weiß das schon? Dass wir diesbezüglich nicht im Bilde sind, ist unser alleiniges Verschulden. Wir haben dort schlicht und einfach nicht nachgefragt.«
»Ich denke, die Lösung auf all die anderen offenen Fragen werden wir vom Herzog persönlich erfahren, wenn wir ihn erst einmal verhaftet haben«, schlug Bentheim vor, dessen Unternehmungsgeist geweckt worden war.
Der Kommissar blickte ihn durchdringend an und sagte mit leiser Stimme: »Es ist schon alles in die Wege geleitet. Ich habe einen Haftbefehl erwirkt. Leider ist der Vogel ausgeflogen.«
Verdutzt sah der Tatortzeichner seinen Vorgesetzten an. Wie konnte der Diener alias Herzog von Gerolstein verschwinden, wenn Tag und Nacht Gendarmen auf ihn angesetzt waren?
»Ich weiß, was gerade durch Ihren Kopf geht«, sagte der Kommissar matt. »Aber meine Männer bescheinigten mir, dass der Herzog sein Anwesen zu keiner Zeit verlassen habe. Ich gab ihnen also die Weisung, den Mann zu verhaften. Doch was geschah? Sie stürmten das Haus und fanden es verlassen vor. Völlig menschenleer.«
»Ein Geheimgang?«, mutmaßte Julius.
»Womöglich.«
»Dann nichts wie hin«, meinte er forsch. »Untersuchen wir das Gebäude!«
Und so geschah es auch.