Читать книгу Das schwarze Herz - Thomas Breuer, Armin Öhri - Страница 8
Erstes Kapitel
ОглавлениеDer Tatort, das altehrwürdige Anwesen des Herzogs von Gerolstein, lag etwas mehr als eine Meile vor der Berliner Stadtgrenze. Hier, im Dorf Weißensee, kam der Fernhandelsweg nach Norden durch, und rings um das beinah zirkelrunde Stillgewässer, das dem Dorf seinen Namen gegeben hatte, fügten sich Gutshäuser und großzügig angelegte Gartenanlagen in die Uferlandschaft.
Weit ausladende Bäume säumten die holprige Straße, als Julius Bentheim und Albrecht Krosick – Tatortzeichner der eine, Polizeifotograf der andere – mit ihrem Freund und Vorgesetzten Kriminalkommissar Gideon Horlitz, jenem bekannten und in Fachkreisen als äußerst bibliophil geltenden Homme de Lettres, in einem Landauer vorfuhren. Das mysteriöse Ableben des Hausherrn und die damit verbundene Aufnahme einer gerichtlichen Untersuchung verlangten die Anwesenheit der drei Herren aus dem Stadtpalais Grumbkow, dem Berliner Polizeipräsidium. So traurig der Anlass ihres Kommens auch sein mochte – Arbeit war Arbeit, und in diesem speziellen Fall waren besonders die beiden jungen Polizeiaspiranten begierig darauf, die Hinterlassenschaft des exzentrischen Herzogs persönlich in Augenschein zu nehmen, zumal sich hartnäckig das Gerücht hielt, der Verblichene habe sich zu Lebzeiten der Alchemie und den dunklen Wissenschaften verschrieben.
Julius Bentheim dachte sich sein Teil bei diesen Ammenmärchen. Rücklings aus der Kutsche steigend, den Blick über die Schultern nach hinten gerichtet, ließ er bereits das Auge schweifen, um das Ziel ihres Ausflugs zu betrachten: Ein mächtiges Gemäuer in Form von gestapelten Steinbruchscherben und lokalen Findlingen umgab das Grundstück. Weit in die Höhe geschossene, dichte Trauerweiden vermochten es, dem zufällig vorbeikommenden Wanderer tief und nachhaltig ins Bewusstsein zu dringen, wo sie unweigerlich einen melancholischen Eindruck hinterließen.
Kaum hatten die Neuankömmlinge das schmiedeeiserne Zufahrtstor durchschritten, als sie auch schon das imposante Herrschaftshaus erblickten. Vor ihnen thronte es auf einer Anhöhe, hinter der das spiegelglatte Wasser des Weißen Sees zu erahnen war. Das Gebäude hinterließ bei Julius einen doppelten Effekt. Einerseits beeindruckten ihn die Größe, die Ausmaße und der Protz mit all seinen Verzierungen; andererseits wirkte es zu überladen für seinen Geschmack. Überall reckten sich stolze Giebel zum Himmel empor, die Fassade war teilweise neoklassizistischen Ursprungs, an manchen Stellen aber brach ein Überbleibsel gotischer Baukunst hervor. Groteske, wild blickende Statuen von Dämonen und Teufeln prägten das Bild.
Unheil verkündende dunkle Wolken lagen über dem Anwesen. Ein kalter und zugleich rauer Wind fegte über ihre Köpfe hinweg, als Horlitz, Krosick und Bentheim endlich vor dem Hauptportal standen und an der Klingel zogen.
Es vergingen zwei Minuten, bis sie ein schlurfendes Geräusch vernahmen. Mit einem Krächzen öffnete sich die Tür, und die Ermittler blickten in das gestrenge Gesicht eines älteren Mannes, der eine schäbige Livree trug und einen goldenen Kerzenständer in der Hand hielt.
»Die Herren wünschen?«
Bentheim sah sich den Diener genauer an. Seine knochigen Wangen und die hohe Stirn erinnerten an einen Asketen, und im Kerzenschimmer besaßen die geriatrischen Zuckungen, die in unregelmäßigen Abständen seine Handbewegungen zu befallen schienen, ein eindringliches, wenn auch komisches Flair.
»Darf ich Ihnen unsere Karte geben?«, sprach ihn Horlitz höflich an, sowie sie über die Schwelle getreten waren. Besagte Visitenkarte mit einer auffällig barschen Bewegung an sich reißend, starrte der Livrierte sie mit zusammengekniffenen Augen an.
»Noch mehr Polizisten?« Es war eher eine Feststellung denn eine Frage. Der alte Mann drehte sich um, tief aufseufzend, und winkte mit der Hand. »Folgen Sie mir, meine Herren! Bitte, so kommen Sie doch.«
Krosick und Bentheim, die hinter Horlitz in der Eingangshalle standen, nickten sich einvernehmlich zu, bevor sie wieder nach ihren Gepäckstücken griffen und zum Diener aufschlossen. Der Boden, über den sie Albrechts Kamera und seine weiteren Fotoutensilien schleiften, bestand aus rohen Pflastersteinen. An den Wänden prangten Bilder barocker Meister: schwere, düstere Ölgemälde. Von der mit Stuckwerk verzierten Decke hingen goldene Kandelaber herab, wodurch Julius erst auffiel, dass an keinem einzigen Ort Petroleumlampen brannten. Einzig das Flackern der Kerzen warf verzerrte Schatten an die Wände, und das wilde Pfeifen des aufkommenden Sturms, das von draußen hereindrang, ließ den Tatortzeichner erschaudern. Es war eine gespenstische Atmosphäre, und so war es nicht weiter verwunderlich, dass just in diesem Haus ein Mord geschehen war.
Der Diener führte die neu eingetroffenen Gäste in die oberen Stockwerke, vorbei an ausgestopften Tieren – Wölfe, Bären, einige Adler –, blank gereinigten Ritterrüstungen und anderem Trödel. Der ganze Ort war eine Ansammlung seltener Kuriositäten, wobei Bentheim gewillt war, sogar den seltsamen Diener dem Inventar zuzuordnen.
Sie betraten den Schauplatz des Verbrechens durch eine robuste, mit Messing beschlagene Eichentür. Vom Fenster des Zimmers, das sich zu einem Innenhof hin öffnen ließ, blickte ihnen das geistlose Mondgesicht eines jungen Polizisten entgegen; ein weiterer Gendarm führte sie in den Raum, in dem der Mord begangen worden war. Insbesondere den Kommissar begrüßte der Mann herzlich.
»Gut, dass Sie es sich einrichten konnten«, meinte er gemütvoll, wobei seine Miene dunkel wie eine Gewitterwolke war. »Wir haben nichts angerührt, Herr Kommissar. Alles ist noch so, wie wir es vorgefunden haben.«
Gideon Horlitz nickte dem Polizisten dankbar zu und fuhr sich mit der Rechten durch die grau melierten Haare. Mit gespanntem Interesse beobachtete Julius Bentheim seinen Freund und Mentor, wie dieser gedankenverloren vor sich hin starrte. Horlitz, 56 Jahre alt und mit Hang zum Bäuchlein, war ein Experte auf dem Gebiet der Kriminalistik. Nach 15 langen Jahren als Obristwachtmeister in einem Dragonerregiment war er in den Polizeidienst gewechselt. 1848 war er an der Auflösung der Preußischen Nationalversammlung durch die Armee beteiligt gewesen; ein Umstand, viel zu peinlich, um ihn je zu erwähnen – und Julius schien es, als verrenne sich der Kommissar bisweilen in seinen Fällen, bloß um diese Scharte in seinem Lebenslauf auszuwetzen.
Dieses Sich-in-etwas-Hineinsteigern war vor Monaten zur Obsession geworden. Silvester vor zwei Jahren hatte der Kommissar seinen Schützlingen den Vorschlag gemacht, den Jahreswechsel an seiner statt in der Märkischen Schweiz zu feiern. Er selbst könne beruflich nicht weg, und Clara, seine Gattin, wolle nicht allein verreisen. Was ungesagt blieb und Albrecht und Julius damals nicht wussten: Clara Horlitz lag im Sterben. Je mehr der Krebs in ihr wucherte, desto tiefer versenkte sich ihr Mann in die Arbeit.
Da stand er also neben Bentheim, die Stirn in Falten gelegt. Sein Blick schweifte durchs Zimmer, während ein unverständliches Murmeln über seine Lippen drang. Währenddessen ließ Albrecht Krosick den Kommissar und seinen Freund stehen und durchschritt zweimal den Raum, um sich auf eigene Faust ein Bild von dem grausamen Verbrechen zu machen. Das Zimmer war so kurios wie die anderen Räume in diesem seltsamen Haus, die sie später noch zu Gesicht bekommen sollten. An den Wänden hingen flämische Grafiken und Stiche, ein präparierter Luchs starrte Krosick mit seinen glasigen Murmelaugen entgegen, auf einer überdimensionierten Schreibtischplatte lagen eine Aktenmappe und ein Stapel loser Blätter – unbezahlte Rechnungen, Korrespondenz sowie die aktuelle Ausgabe von Eugenie Marlitts Goldelse. In einer Ecke befand sich eine wuchtige, jedoch wurmstichige Standuhr. Genau gegenüber in der Wand klaffte das Loch eines geöffneten Wandsafes.
Vor dem Schreibtisch stand eine klobige Kleidertruhe auf dem Parkettfußboden, der aus lauter auf Hochglanz polierten Polygonen zusammengesetzt war. Der Fotograf ging um den Tisch und erblickte zu seinen Füßen den Toten.
Der Mann lag ausgestreckt auf dem kahlen Boden, neben ihm ein umgekippter Bürostuhl. Um den Kopf hatte sich eine dunkle Lache ausgebreitet. Das Blut war bereits geronnen. Albrecht ging in die Knie, um die Leiche genauer anzusehen. Was er da im flackernden Kerzenschein erblickte, erschreckte ihn: unmöglich, das Gesicht des Mannes zu erkennen. Der Mörder hatte ganze Arbeit geleistet, denn sein tödlicher Schuss hatte den Kopf in seiner Gänze zerfetzt. Es war undenkbar, auch nur annähernd zu sagen, wie der Tote zu Lebzeiten ausgesehen haben mochte, und unwillkürlich erfasste den Fotografen ein Schaudern. Er wollte eben wieder aufstehen, als ihm ein seltsamer Umstand ins Auge fiel: Der Tote trug Handschuhe.
Plötzlich verspürte der Fotograf einen Druck auf seine Schulter.
»Na, Albrecht, haben Sie ebenfalls die Handschuhe bemerkt?« Wie eine Salzsäule stand Gideon Horlitz hinter ihm und deutete auf die Leiche. »Seltsam, nicht wahr?«, meinte er vielsagend. »Weshalb trägt der Herzog Handschuhe? Vielleicht hat es nichts zu bedeuten, womöglich aber auch alles. Dies ist eine Frage, der wir nachgehen müssen, meine Herren. Vorerst jedoch: Widmen Sie sich Ihrer Arbeit. Julius, hier! Zeichnen Sie! Und Sie, Albrecht, ich will Fotos von der Leiche, von dem Safe, von der Standuhr, einfach von allem.«
Horlitz lächelte verschwörerisch. Dann drehte er sich um, ging auf einen der Polizisten zu und bat diesen, den Sachverhalt des Verbrechens zu erklären. Unverzüglich begann der junge Mann mit dem Bericht. Der Hausdiener, so der Beamte, habe am frühen Morgen ein Telegramm zum Molkenmarkt an die Mordkommission geschickt, auf dem Anwesen derer von Gerolstein sei ein Verbrechen verübt worden; der ehrwürdige Herzog Rudolf sei einem schändlichem Raubmord zum Opfer gefallen. Und tatsächlich deute die Indizienlage auf diese Version hin. Der Hausherr sei tot, sein Tresor ausgeraubt, und in einem Zimmer der unteren Etage sei ein Fenster eingedrückt worden.
»Hat der Diener kein Geräusch gehört?«, fragte Horlitz leicht irritiert.
»Er gab zu Protokoll, er habe ungefähr um Viertel vor drei einen dumpfen Laut vernommen, sich aber nichts dabei gedacht und weitergeschlafen.«
Für einen kurzen Moment äugte Gideon Horlitz in Richtung der Standuhr, murmelte wieder Unverständliches in seinen Bart und schritt noch einmal quer durch den Raum. Julius Bentheim, bereits damit beschäftigt, für die Tatortskizzen vor seinem geistigen Auge ein Gitternetz über dem Boden auszubreiten, trat ihm widerwillig aus dem Weg.
Hin und wieder bückte sich der Kommissar, um etwas genauer zu betrachten. Alles saugte er detailgetreu in sich auf, jedes einzelne Staubkorn fixierte er angestrengt, doch schielte er immer wieder zur Uhr hinüber und verzog das Gesicht zu einem spitzbübischen Grinsen.
Krosick und Bentheim wussten, dass ihr Freund in diesen Phasen angestrengten Nachdenkens nicht gestört werden wollte, und so ließen sie es auch bleiben, ihn über das ominöse Geheimnis der Uhr zu befragen. Der Tatortzeichner holte ein Etui mit diversen Stiften hervor, während sich Albrecht daranmachte, sich mit ganz praktischen Fragen der Tatortfotografie auseinanderzusetzen: Wohin mit dem Stativ? Welche Perspektive sollte er wählen? Welcher Blendenwert war in diesem schlecht ausgeleuchteten Zimmer geeignet, und welche Verschlusszeiten sollte er einhalten?
Mit geübten Handgriffen spitzte Julius einen Grafitstift nach dem anderen an, wobei er sein Augenmerk unentwegt auf das Zifferblatt der Standuhr richtete. Doch konnte er nichts Außergewöhnliches bemerken: Die beiden Zeiger zeigten auf die Neun und auf die Drei, die Sekundenangabe betrug etwa 50 Sekunden. Erst bei genauerem Hinsehen fiel ihm auf, dass auf dem Boden vor der Uhr einige Scherben lagen. Das war aber auch schon das einzig Seltsame.
Gideon Horlitz schien mehr gesehen zu haben als der Tatortzeichner. Enttäuscht über die eigene Unfähigkeit, die Indizien zu deuten, wandte sich Julius einem der beiden Polizisten zu, um wenigstens etwas Verwertbares über den Toten zu erfahren. Der Kriminalkommissar klopfte inzwischen die Wände ab, kroch auf allen vieren auf dem Boden umher und gebärdete sich so schrullig und eigenartig, dass die beiden Gendarmen ihn ratlos anschauten. Julius zuckte gelassen mit den Schultern. Bei Gideon musste man auf alles gefasst sein.
Etliche Minuten später trat der Kommissar fröhlich gelaunt an Bentheims Seite: »Julius, Albrecht! Kommen Sie Ihren Pflichten nach. Ich habe alles gesehen, was es zu sehen gibt, und bin Ihnen sehr verbunden, meine Herren.«
»Aber«, entgegnete der Tatortzeichner, »Sie haben den Toten ja noch gar nicht genauer begutachtet.«
»Das ist vorerst auch wirklich nicht nötig«, antwortete Gideon jovial. »Was mich antreibt, ist erst einmal die Lust auf ein paar Buletten, später dann vielleicht noch eine Berliner Weiße!«
Und so ließ der Kriminalkommissar seine beiden Polizeiadepten verdutzt am Tatort zurück.