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Vorwort

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Fast jeder hat schon irgendwann von Moby-Dick gehört, und viele kennen auch den Namen des Autors. Das Interesse an ihm ist ungebrochen, nicht zuletzt weil im deutschsprachigen Raum hervorragende Neuübersetzungen seiner Hauptwerke erschienen sind. Aber wer – außer Fachamerikanisten – weiß wirklich Bescheid über Herman Melville, den größten und am meisten besprochenen Schriftsteller Amerikas und in fast alle Sprachen übersetzten Weltautor? Die poetische Dichte, die geistige und psychologische Durchdringung seiner Werke und ihre vielschichtige Verflechtung von realistischer Faktizität und universalen Sinnbezügen eröffneten in seiner Zeit literarisches Neuland. Er überschritt den kulturellen Erfahrungshorizont, die Darstellungsformen und Rezeptionsgewohnheiten seiner Zeitgenossen so grundlegend, dass er bei Lesern und Kritikern weitgehend auf Unverständnis stieß und darüber stillschweigend zu einem Vorläufer der Moderne wurde. „Sein Genius war zu groß“, bemerkte eine seiner Enkelinnen viele Jahre später, „um damit eine Familie mit vier Kindern ernähren zu können“ (Parker, 2012, 497). Bestenfalls erinnerte man sich an ihn noch als den „Mann, der unter den Kannibalen lebte“ und der als junger Exmatrose ohne literarische Vorbildung einen faszinierenden, exotischen Südseeroman geschrieben hatte.

Wiederentdeckt wurde Melville erst dreißig Jahre nach seinem Tod, als der junge Literaturwissenschaftler Raymond Weaver 1920 im Haus seiner Enkelin, Eleanor Melville Metcalf, auf das unvollendete Manuskript des Kurzromans Billy Budd stieß und den Sensationsfund im Jahr 1924 posthum veröffentlichte. Es war der Beginn des Melville-Revivals, der rasch anwachsenden Neuentdeckung Melvilles durch ein breites Lesepublikum in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und eines jahrzehntelangen wissenschaftlichen Prozesses intensiver biographischer, interpretatorischer und kulturgeschichtlicher Aufarbeitung.

Das Erstaunliche an Melvilles Schriftstellerkarriere ist, dass er im Grunde nur elf Jahre seines 72-jährigen Lebens als Prosaschriftsteller tätig war. Zwischen 1846 und 1857 schuf er acht Romane und 18 Erzählungen, dann zog er sich aufgrund finanzieller Misserfolge und kritischer Verrisse aus der professionellen Schriftstellerkarriere zurück. 1860 trat er – für insgesamt 19 Jahre – eine Beamtenstelle als Zollinspektor im New Yorker Hafen an und schrieb in den restlichen drei Jahrzehnten seines Lebens fast nur noch Versdichtungen. Sein internationaler Ruhm beruht heute – neben einer Handvoll herausragender Erzählungen – vor allem auf seinem Meisterwerk Moby-Dick (1851). Im deutschsprachigen Raum haben zwei brillante, an die Qualität des Originals herankommende Neuübersetzungen durch Matthias Jendis und Friedhelm Rathjen – letztere auch in Form eines 30-stündigen, von Christian Brückner gelesenen Hörbuchs – neue Leserkreise erschlossen.

Literatur- und Kulturwissenschaftler sind seit einem Jahrhundert bemüht, in einer unerhörten Fülle von Monographien und Artikeln Melvilles Leben und Werk auszuloten und interessierten Lesern nahezubringen. Vor allem im Bereich der biographischen Erforschung haben sie unverzichtbare Basiswerke hervorgebracht. Jay Leyda veröffentlichte im Jahr 1951 The Melville Log, eine zweibändige chronologische Totaldokumentation von Melvilles Leben in Form aller damals verfügbaren Quellen – Briefauszüge, Rezensionen und Aufzeichnungen aller Art. Hershel Parker fügte 1969 ein überarbeitetes und ergänztes Supplement hinzu und schrieb gleichzeitig über Jahrzehnte hinweg an einer enzyklopädischen Biographie. Der erste Band des fast 2000 Seiten umfassenden Werks erschien im Jahr 1996, der zweite 2002. In seiner Vollständigkeit, die auch Melvilles verzweigten Familienclan in die Betrachtungen einbezieht, ist es bis heute das unübertroffene biographische Standardwerk. Wegen seiner zuweilen übermäßigen Anhäufung zum Teil trivialer Details und der generellen Verweigerung interpretatorischer Zugänge lässt es dennoch manche Leserwünsche offen. Ebenfalls im Jahr 1996 erschien die 700-seitige Biographie von Laurie Robertson-Lorant und fügte mit ihrem persönlicheren und aktualisierenden Zugang neue biographische Akzente hinzu. Der von Brian Higgins und Hershel Parker herausgegebene Sammelband Herman Melville. The Contemporary Reviews (1995) ergänzt die biographischen Werke durch eine kulturgeschichtlich überaus aufschlussreiche Zusammenstellung aller verfügbaren zeitgenössischen Rezensionen zu Melvilles Schriften.

Alle vier genannten Werke wurden nie ins Deutsche übersetzt und bilden mit ihrer Überfülle an Informationen die Grundlage der vorliegenden Biographie. Dieser geht es nicht darum, neue „Fakten“ in Archiven und Privatsammlungen auszugraben, sondern die in der amerikanischen und internationalen Melville-Forschung über viele Jahrzehnte angesammelten Materialien und Erkenntnisse deutschsprachigen Lesern in einer erzählerisch lebendigen Form nahezubringen. Da die wirklich essentiellen, über das rein Faktische hinausgehenden biographischen Einsichten nur aus Melvilles fiktionalen Werken gewonnen werden können, stehen diese im Mittelpunkt der folgenden Betrachtungen. Angestrebt wird eine Balance zwischen einer „äußeren“ (faktischen) und einer „inneren“ (literarischen) Annäherungsweise. Sie versucht, Melville als konkreten Menschen, aber gleichzeitig auch als einen über seine Zeit und sein kulturelles und historisches Umfeld hinausragenden Schriftsteller verständlich zu machen.

In deutscher Sprache liegen bislang vier neuere biographische Werke vor. Elizabeth Hardwicks ursprünglich im Jahr 2000 als Penguin-Taschenbuch herausgebrachte, 2002 in deutscher Übersetzung erschienene Kurzbiographie ist eine geistreiche, aber stark impressionistisch verkürzte Darstellung und lässt den biographisch interessierten Leser über weite Strecken im Stich. Andrew Delbancos exzellente, von Werner Schmitz kompetent ins Deutsche übersetzte Biographie Melville – His World and Work (2005, dt. Melville. Biographie, 2007) ist weiter gefasst und geht stärker auf historische, kulturelle und politisch aktualisierte Zusammenhänge ein. Das für eine einschlägig vorgebildete amerikanische Leserschaft konzipierte 470-seitige Buch verliert sich jedoch häufig in lange kultur- und literaturgeschichtliche Exkurse auf Kosten genauer individualbiographisch orientierter Werkanalysen. Auch Alexander Pechmanns erste umfassende deutschsprachige Biographie Herman Melville. Leben und Werk (2003) ist ein informatives, gut recherchiertes Buch, entspricht jedoch – vor allem im Bereich der Werkinterpretationen – nicht mehr dem heutigen Forschungs- und Reflexionsstand. Der bislang verdienstvollste und vollständigste Beitrag zur biographischen Erschließung Melvilles im deutschsprachigen Raum ist die von Werner Schmitz und Daniel Göske ins Deutsche übersetzte, mit einem biographischen Kommentar herausgegebene Textsammlung Herman Melville. Ein Leben. Briefe und Tagebücher (2004). Die vorliegende Biographie greift in ihren Textzitaten größtenteils auf dieses unverzichtbare Werk zurück.

Trotz der Masse an vorhandenem Material oder auch gerade deswegen ist eine neue Biographie ein schwieriges Unterfangen. Melville macht es seinen Biographen alles andere als leicht. Er selbst schrieb keine Memoiren und hinterließ nur relativ wenige konkrete autobiographische Hinweise auf sein Alltags- und Familienleben oder sein schriftstellerisches Werk. Im Vergleich zu anderen amerikanischen Autoren seiner Zeit – etwa Mark Twain, Walt Whitman oder Jack London – war sein äußeres Leben nicht sonderlich ereignisreich. Der Geschäftszusammenbruch und frühe Tod des Vaters, eine fast vierjährige Walfang- und Schiffsreise als 20-Jähriger in die Südsee, die Verheiratung mit Elizabeth Shaw, der großbürgerlichen Tochter des angesehenen Bostoner Höchstrichters Lemuel Shaw, und die vier Kinder, die aus der Ehe hervorgingen, die Übersiedlung der Familie von New York in die ländlichen Berkshires in Massachusetts, die intensive Freundschaft mit Nathaniel Hawthorne und einige Reisen – in den Mittelwesten, nach England, Palästina und San Francisco – sowie der tragische Selbstmord des ältesten Sohnes Malcolm waren die wenigen Höhe- und Tiefpunkte. Melvilles Lebensweise war nach seiner Heirat eher hausgebunden und familiär, aber gleichzeitig geprägt von seiner künstlerischen Introvertiertheit und manischen Schreibbesessenheit. Neben gelegentlichen häuslichen Pflichten, regelmäßigen Spaziergängen, Wanderungen, Kurzurlauben und dem Stöbern in Buchhandlungen und Bibliotheken verbrachte er seine Tage in der Regel von früh bis spät schreibend und lesend in seinem Arbeitszimmer. Die letzten dreißig Lebensjahre als Zollbeamter und die Zeit nach seiner Pensionierung in New York waren von seiner Augenschwäche und chronischen Ischias- und Rückenschmerzen stark beeinträchtigt.

In seinen zwischenmenschlichen Beziehungen war Melville eher zurückhaltend, verletzlich und nicht besonders kommunikativ. Da außerdem zu seinen Lebzeiten sein Bekanntheitsgrad relativ gering war, gibt es von ihm kaum Gesprächsaufzeichnungen oder zeitgenössische Beschreibungen. Auch seine Korrespondenz ist wenig ergiebig. Während zum Beispiel von Henry James 12.000 Briefe erhalten sind, gibt es von Melville nur ca. 300, und diese beziehen sich hauptsächlich auf alltägliche Angelegenheiten zwischen Familienangehörigen oder auf Besprechungen mit Verlegern und Lektoren, vor allem mit seinem literarischen Mentor Evert Duyckinck. Melville scheute sich, seine publizierten Werke zu kommentieren, geschweige denn sie autobiographisch oder inhaltlich zu erläutern. Nur in seinen Briefen an Hawthorne in den Jahren 1850 und 1851 ließ er seinen Gefühlen und Gedanken freien Lauf. Leider sind die für Melvilles Schriftstellerkarriere enorm wichtigen Antwortbriefe Hawthornes nicht erhalten. Melville hatte die – für den Biographen – fatale Angewohnheit, Briefe, auch die seiner engsten Freunde und Verwandten, nach einiger Zeit zu entsorgen, als wollte er die Nachwelt vor allzu Persönlichem bewahren. Sogar der Briefverkehr mit seiner Mutter und seiner Frau Lizzie ist größtenteils verschwunden oder nur in einigen fragmentarischen Abschriften erhalten. Auch die verschiedenen Manuskriptfassungen seiner Werke, die Aufschlüsse über seine Schaffensprozesse hätten geben können, sowie seine öffentlichen Vorträge erachtete er als nicht aufbewahrenswert. Tagebücher führte er keine; nur auf seinen späteren Reisen benutzte er Reisejournale, um Fakten und Eindrücke zur Verwertung in seinen schriftstellerischen Werken zu horten. Viele Anspielungen auf Besichtigungsorte und Reisebegegnungen, vor allem in Moby-Dick, gehen auf diese Journal-Einträge zurück, obwohl auch diese in der Regel knapp und ohne tiefergehende Betrachtungen sind. Nur selten werden zwischen den Zeilen Gefühlsregungen erkennbar, etwa das Heimweh nach seinem Zuhause und der Familie am Ende seines Englandaufenthalts oder die depressive Grundstimmung während seiner Palästinareise.

Aufgrund dieses Mangels an direkten Informationen neigen Biographen häufig dazu, Analogien zwischen Melville und den Charakteren in seinen Werken herzustellen und irrtümliche Rückschlüsse zu ziehen. Im Gegensatz zu den gesellschaftlichen Outsidern (isolatos) in vielen seiner Romane und Erzählungen war Melville in Wirklichkeit kein eingefleischter Einsiedler oder Eigenbrötler, wie dies etwa Raymond Weaver annahm, sondern war eingebettet in einen riesigen bürgerlichen Familienclan – die Melvilles, Gansevoorts und Shaws – mit ihren zahllosen Brüdern und Schwestern, Tanten und Onkeln, Cousins und Cousinen, Schwägern und Schwägerinnen. Sie waren untereinander eng verbunden, besuchten sich häufig und korrespondierten miteinander. Für den Biographen ist es oft mühsam, diese verflochtenen familiären Beziehungen mit ihren immer wiederkehrenden gleichen Vornamen auseinanderzuhalten und im Einzelnen zu verfolgen. Hershel Parker zitiert akribisch die vielen Korrespondenzen und beschreibt im Detail die Besuche und regelmäßigen Zusammenkünfte an den verschiedenen Familienstandorten Pittsfield, Albany, Boston und New York. Vieles davon ist für den heutigen Leser eher belanglos geworden und berührt zumeist nur Oberflächen und Ränder. Dennoch wirft es Licht auf die ansonsten nur schemenhaften Umrisse von Melvilles äußerem Leben, vor allem sein Netzwerk von Abhängigkeiten. So wäre seine Schriftstellerlaufbahn ohne den selbstlosen Einsatz seines älteren Bruders Gansevoort bei der Erstveröffentlichung von Typee, ohne die ständigen finanziellen Zuwendungen des großzügigen Schwiegervaters Lemuel Shaw und des wohlhabenden Onkels Peter Gansevoort sowie ohne die Rechtshilfen seines jüngeren Rechtsanwalt-Bruders Allan nur schwer möglich gewesen. Vor allem aber hielt ihn – trotz mancher dramatischer Ehekrisen – die lebenslange loyale Verbundenheit mit seiner Frau Lizzie in allen praktischen Dingen und in ihrer Rolle als Erbin und Finanzverwalterin über Wasser. Melville, der in seinen Werken nur wenige weibliche Charaktere gestaltet, war lebenslang von hilfsbereiten Frauen umgeben. So verpflichtete er nicht nur Lizzie, sondern auch seine Schwestern Augusta und Helen und später seine Tochter Frances zu den mühsamen handschriftlichen Kopier-, Reinschrift- und Korrekturarbeiten seiner schwer leserlichen Manuskripte.

Wie schon erwähnt, kann alles Wesentliche, was über Melvilles geistige Verfassung und sein inneres Leben zu erfahren ist, im Grunde nur aus seinen schriftstellerischen Werken abgeleitet oder erschlossen werden. Nur ihnen vertraute er sich an, wenn auch zumeist auf fiktionale und verfremdete Weise. Mehr als bei anderen Autorenbiographien sind deshalb genaue und behutsame Textinterpretationen unverzichtbar. Leben und Werk sind bei Melville so unauflöslich verknüpft, dass eine „innere Biographie“ ohne die genaue Aufarbeitung seiner Werke nicht fassbar wäre. Stellt man sich jedoch dieser zeitlich aufwändigen Herausforderung, wie es die vorliegende Darstellung versucht, dann eröffnet sich eine ungemein faszinierende Vielschichtigkeit und tiefe Welthaltigkeit. Melvilles Auseinandersetzung mit den kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Bewegungen und Krisen seiner Zeit, ihren Widersprüchen und Paradoxien und darüber hinaus mit den sozialen und psychologischen Erscheinungsformen menschlicher Existenz insgesamt bildet ein zeitloses, über Amerika weit hinausgehendes literarisches Manifest. Die existentielle Unbehaustheit, die darin zum Ausdruck kommt, verdichtet sich – vor allem in Moby-Dick – zu einer großen Sinnsuche in Form metaphorischer Reisen durch die Ozeane des Menschseins. Es ist die Zielsetzung dieses Buches, die fortdauernde Aktualität des Melville’schen Werkes heutigen Leserinnen und Lesern neu erfahrbar zu machen.

Herman Melville

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